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Der Begriff des „Charakters“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers und seines Schülers Philipp ... PDF

383 Pages·2010·2.93 MB·German
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Der Begriff des „Charakters“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers und seines Schülers Philipp Mainländer Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn vorgelegt von Thorsten Lerchner aus Bochum Bonn 2010 Gedruckt mit der Genehmigung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Zusammensetzung der Prüfungskommission: Prof. Dr. Jürgen Fohrmann (Vorsitzender) Prof. Dr. Theo Kobusch (Betreuer und Gutachter) Prof. Dr. Jörn Müller (Gutachter) Prof. hon. Dr. Konrad Schüttauf (weiteres prüfungsberechtigtes Mitglied) Tag der mündlichen Prüfung: 22.7.2010 Inhaltsverzeichnis Einleitung: Schopenhauer und Mainländer .................................................................. 4 Teil I: Arthur Schopenhauer 1. Einführung I: Die Welt als Vorstellung .................................................................... 17 1.1 Der intellektuelle Charakter? .................................................................................................................. 17 1.2 Schopenhauer und die Psychoanalyse: Intellektueller Charakter als Triebtransformation .................... 20 1.3 Die Welt als Vorstellung – Über einen Habitus, etwas anzuschauen ...................................................... 23 1.4 Einschub: Die Metapher des Welttheaters in ihrer Vermittlung zu Schopenhauer ................................. 25 1.5 Prosopopoiїa des Kosmos, Schopenhauers Welttragödie ........................................................................ 27 1.6 Eine solche Aussicht von einem hohen Berge…: Das Muster des Genies ............................................. 30 1.7 Anagnorisis 1: Fremderkenntnis ............................................................................................................. 34 1.8 Anagnorisis 2: Selbsterkenntnis .............................................................................................................. 36 1.9 Anagnorisis 3: Philosophische Erkenntnis .............................................................................................. 41 2. Einführung II: Die Welt als Wille .............................................................................. 45 2.1 Hundert Tore nach Theben ....................................................................................................................... 46 2.2 Der Autokannibalismus und das Skandalon der Sinnlosigkeit .................................................................50 2.3 Gestörte Disharmonie: Vom Nutzen der Idee .......................................................................................... 57 3. Über den Charakter in der Natur ...............................................................................65 3.1 Der Wille und sein Faultier ...................................................................................................................... 65 3.2 Das eine und die vielen Faultiere: Individual- und Gattungscharakter ....................................................73 3.3 Das doppelte Faultier? – Empirischer und intelligibler Charakter .......................................................... 79 3.3.1 Die Gelegenheit zum Faultier: Causes occasionelles ........................................................................... 86 3.3.2 Text und Kommentar: Relektüre des Faultiers ..................................................................................... 91 3.4 Der Charakter in der Natur....................................................................................................................... 96 4. Über den Charakter in der Kunst ...............................................................................102 4.1 Die produktive Seite I: Künstlerisches Interesse ......................................................................................102 4.2 Die produktive Seite II: Künstlerische Erkenntnis ...................................................................................111 4.3 Die produktive Seite III: Künstlerische Produktion .................................................................................116 4.4 Die rezeptive Seite: Der Kenner als der kleine Künstler ......................................................................... 124 4.5 Wer ist der Schönste? ............................................................................................................................... 128 1 5. Über den Charakter in der Ethik – Die Metaphysik des menschlichen Willens .... 136 5.1 Die Monstrosität des Charakters ...............................................................................................................136 5.1.1 Domestizierte Charaktere: Der Staat Schopenhauers ............................................................................146 5.1.2 Freundschaft .......................................................................................................................................... 151 5.2 Der Lügner und sein Sohn – „Erblichkeit der Eigenschaften“ .................................................................153 5.2.1 Eine Antwort, die keine ist .................................................................................................................... 153 5.2.2 Die vierfache Wurzel der Lehre von der Erblichkeit des Charakters ....................................................161 5.2.3 Das Band der Erscheinungen .................................................................................................................167 5.3 Wissen, was man will: Selbsterkenntnis als Fremderkenntnis .................................................................174 5.3.1 Rekonstruktionsarbeiten: Dem Charakter auf der Spur .........................................................................180 5.3.2 Intellekt und Charakter ..........................................................................................................................184 5.3.3 Die Gewissensfrage ...............................................................................................................................187 5.4 Wenn einer aus dem Charakter fällt… – Erworbener Charakter als Motivierung.................................... 190 5.5 Sich selbst loswerden: Die Charakterlosigkeit des Asketen .................................................................... 199 6. Epilog: Über die Freiheit des Willens .........................................................................206 6.1 Synopse: Der Charakterbegriff in der Philosophie Arthur Schopenhauers ..............................................206 6.2 Selbststempelung ......................................................................................................................................209 6.3 Der Mythos der Sehnsucht ........................................................................................................................211 Teil II: Philipp Mainländer 7. Einführung: Der Dämon des Philipp Mainländer .....................................................223 7.1 Vom Dämonen zum Jüngling ................................................................................................................... 223 7.2 Vom Dämonen zum allgemeinen Wohl – Vom allgemeinen Wohl zum Dämonen .................................. 227 7.3 Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Rhetorische Modellierung I ....................................................234 7.4 Die geradeste Linie: Leben als Umweg zum Tode. Rhetorische Modellierung II ................................... 239 7.5 Panorama: Rupertine del Fino ..................................................................................................................245 7.5.1 Rhetorische Modellierung I: Rupertine .................................................................................................248 7.5.2 Rhetorische Modellierung II: Wolfgang Karenner und Otto von Dühsfeld .......................................... 251 7.6 Der Dämon bei Philipp Mainländer ......................................................................................................... 253 8. (Er-)Schöpfung und Erhaltung ................................................................................... 254 8.1 Metaphysik der Entropie? .........................................................................................................................254 8.2 Newton, Clarke, Leibniz und die Erhaltung des Kosmos .........................................................................262 8.3 Schöpfung ohne Erhaltung – Mainländers fast klassische Kosmologie ...................................................265 2 9. Abstieg durch Aufstieg .................................................................................................272 9.1 Kraftverlustszenario I: „Physik“ und Charakter .......................................................................................272 9.1.1 Mainländers „Physik“ versus Schopenhauers „Metaphysik der Natur“ ................................................272 9.1.2 „Physik“ als Lehre von der Bewegung im Charakter ............................................................................279 9.1.3 „Physik“ als Lehre vom Kraftverlust im Charakter ...............................................................................287 9.1.4 „Physik“ als Lehre von der Kraftverteilung im Charakter ....................................................................292 9.2 Kraftverlustszenario II: „Politik“ und Charakter ......................................................................................296 9.2.1 Die Genese des menschlichen Charakters .............................................................................................296 9.2.2 Die Menschheitsentwicklung: Kultur als Beschleunigung und Umschlag ............................................306 10. „Ethik“ ........................................................................................................................ 317 10.1 Rekapitulation: Die Macht und Ohnmacht der Motive ..........................................................................317 10.2 „Entzündung“ des Willens I: Handeln gemäß Staatsordnung und christlicher Religion ........................322 10.3 „Entzündung“ des Willens II: Handeln gemäß einer Philosophie der Erlösung ....................................330 10.4 Der Asket mit Kindern ............................................................................................................................334 10.5 Der Asket ohne Kinder ............................................................................................................................339 10.6 Die (Un-)Möglichkeit des fortlebenden Heiligen ...................................................................................341 10.7 Eine Frage des Charakters ......................................................................................................................346 11. Substitutionsreihe: Der Charakter in der Philosophie Mainländers .....................352 Rückblick: Schopenhauer und Mainländer – Reproduktion, Transformation, Reduk- tion ..................................................................................................................................... 357 Literatur ............................................................................................................................368 3 Einleitung: Schopenhauer und Mainländer Dass es eine Schopenhauerschule gibt, bleibt ohne Zweifel: Schopenhauer selbst ist derjenige, der auf Anlass des Todes Dorguths den „schmerzlichen Verlust“ betont, den seine „Schule“ jüngst erlitten habe1. Diese Schule füllen einerseits die „Jünger“ Schopenhauers: diejenigen, die stille Anhänger seiner Lehre blieben; unbekannte Leute wie Johann August Becker und Adam von Doß2. Und dann andererseits die „Evangelisten“, die publikumswirksamen Multiplikatoren der Lehre3: wie der betrauerte Friedrich Dorguth, Ernst Otto Lindner, der erste Biograph Schopenhauers Wilhelm von Gwinner – und „[a]n der Spitze Frauenstädt“4. Aber wie steht es mit anderen „Schülern“ Schopenhauers; nicht solchen, die zu seinen Lebzeiten mit der offiziellen Zugehörigkeit zur Schule geadelt worden wären, sondern den Nachfolgern des Frankfurter Philosophen; nicht den reinen Nachdenkern und unermüdlichen Verbreitern der Lehre5, sondern den Weiterdenkern des Systems6? Mit Leuten wie Julius Bahnsen, Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche und – Philipp Mainländer? – Der erste der genannten vier, Julius Bahnsen, wird sich im Laufe seines Lebens immer klarer darüber, dass er über den „blossen Anhänger“ Schopenhauers hinausgewachsen war – im „Fortführer und Vollender“7 dessen Lehre sieht er sich schließlich gerecht charakterisiert8. Eduard von Hartmann, weitaus bekannter als Bahnsen, schiebt 1 „Die Schule hat einen schmerzlichen Verlust erlitten: der Erzevangelist Dorguth ist gestorben, […]“ Briefe, 359 2 Zur „Schopenhauerschule“ vgl. den luziden Artikel von Facio (2009), der die gesamte Geschichte dieser Begriffsbildung minutiös bis heute abgeht. 3 „So [»Jünger«, Th.L.] nannte er seine Anhänger, die nicht über ihn schrieben. Wer für ihn die Feder ergriff, war ein Evangelist.“ Gespräche, 219 4 Gespräche, 219. Schopenhauer selbst betitelt Julius Frauenstädt als seinen „erste[n] Schüler“ (Briefe, 403). Dieser schrieb noch zu Lebzeiten Schopenhauers in Anlehnung an den Kantianer Karl Leonard Reinhold und dessen „Briefe[n] über die Kantische Philosophie“ „Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie“, die in kondensierter Form die Lehren Schopenhauers an ein breiteres Publikum vermitteln sollten. – Über Frauenstädt fällt die spätere Einschätzung Eduard von Hartmanns analog zu der Schopenhauers aus: „Frauenstädt selbst repräsentiert den common sense auf Grund der Pietät vor der Schopenhauerschen Autorität.“ Hartmann (1910), 8 5 Facio (2009), 24ff., fasst diese eigenständigen Denkergestalten im Ausgang von Schopenhauer unter einer „Schopenhauer-Schule im weiteren Sinne“ zusammen. 6 Vgl. Invernizzi (2009), 151f., der Kriterien erarbeitet, nach denen ein Denker im letztgenannten weiten Sinne „Schüler“ Schopenhauers heißen darf. – Sein zweites Kriterium lautet, dass der Folgedenker „die Begriffssprache Schopenhauers benutzen [muss, Th.L.], d. h., die Begriffe, welche die Grundlage seines Systems bilden, müssen die Schopenhauers sein: Wille, Vorstellung, Idee, Charakter, Motiv, Erlösung, Nichts, usw.“ (Invernizzi (2009), 151). 7 Bahnsen (1905), 49: „Erst in der Polemik, erst an der Seite von, später gegen E. v. Hartmann erstarkte meine Zuversicht, bis ich allmählich vorbehaltslos mich zu einer individualistischen Realdialektik als meinem eigenen System bekannte, nachdem ich mir lange genug hatte sagen lassen, es sei nicht nur zu bescheiden, sondern auch sachlich incorrect, mich immer nur als blossen Anhänger Schopenhauers einzuführen. Jetzt nennt man mich wohl noch seinen Schüler, auch mal Jünger – aber nicht bloss Apostel, sondern – die Freundlichstgesinnten – auch schon Fortführer und Vollender.“ 8 Nach Heydorn (1956), 39, trat Bahnsen am Lebensende sogar aus dem Schatten des alleinigen Abhängigkeitsverhältnisses zu Schopenhauer heraus; er erkannte, dass er anderen Denkern ähnlich viel wie dem Frankfurter Pessimisten zu verdanken hat: „»Je länger, je mehr«, – dann zerfließen die Zeilen, aber ein kurzer Abschnitt bleibt noch zu entziffern: »daß Hegel [in] seinen eigentlichen Intentionen auch mir ungleich näher 4 ab der zwölften Auflage seines wirkmächtigsten Werkes, der Philosophie des Unbewussten, einen Überblick an den Anfang ein, der sein Verhältnis zu früheren Philosophen zeichnet: mit Schopenhauer habe er danach viel weniger zu tun, als ihm Philosophiehistoriker und Kritiker beilegen wollen9. Nietzsche wiederum, der ohne Zweifel berühmteste Schüler Schopenhauers, distanziert sich nach anfänglicher Begeisterung überaus deutlich von seinem Lehrer; die Ablehnung der asketischen Resignation10 und die Ausfälle gegen das Mitleid11 stellen nur die Spitzen dieser Abwendung dar12. – Die drei in einem weitgefassten Sinne „Schüler“ Schopenhauers übertreffen sich in obiger Reihenfolge nur in der Gründlichkeit ihrer Distanznahme; sie besitzen ein eigentümliches philosophiehistorisches Dasein zwischen zunächst offen zugestandener Abhängigkeit und späterer mehr oder weniger deutlicher Distanzierung zu ihrer Ideenquelle. Enger und zumindest prima facie eindeutiger ist in dieser Hinsicht das Verhältnis des vierten Schülers zu Schopenhauer: Philipp Mainländer sah zeitlebens keinen Grund, eine Revokation seiner Nähe zum Lehrgebäude des Frankfurters vorzunehmen. Im Rückblick bemerkt er: „An SCHOPENHAUER schloss ich mich immer enger an. In einer begeisterten Stunde gelobte ich: Ich will dein PAULUS sein, und ich habe mein Wort gehalten.“13 Schopenhauer bleibt Mainländers großes Erweckungserlebnis – kauf' und lies! „Im Februar 1860 kam dann der große, der bedeutungsvollste Tag meines Lebens. Ich trat in eine Buchhandlung und durchblätterte die frisch aus Leipzig eingetroffenen Bücher. Da finde ich Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung. […] [I]ch blättere in dem Werke, ich lese vom Verneinen des Willens zum Leben, finde zahlreiche mir bekannte Citate in einem Texte, der mich traumbefangen macht. Ich vergesse meine Umgebung und versinke. Endlich sage ich: »Was kostet das Buch?« »Sechs Dukaten.« »Hier ist das Geld.« – Ich ergreife meinen Schatz stürze wie ein Verrückter aus dem Laden nach Hause wo ich den ersten gestanden als ich bisher habe anerkennen mögen.«“ Zum Verhältnis von Schopenhauer und Bahnsen vgl. die gründlichen Untersuchungen von Heydorn (1956) sowie Heydorn (1952), 83ff. 9 „Mein Verhältnis zu Schopenhauer ist im Beginn meiner literarischen Laufbahn als ein engeres aufgefasst worden, als es thatsächlich ist.“ Hartmann (1923a), IX – Wolf (2009), 208, gibt Hartmann in der Sache Recht: Die „souveräne[] Kritik“, die Hartmann an Schopenhauer übt, ließen ihn nicht als „»Schopenhauerianer« im strikten Sinne“ erscheinen. Zu bedenken bleibt jedoch, dass ein „Verhältnis“ zu einem anderen Denker durchaus ein negatives sein kann; auch wer verfolgt, folgt. Zur Gesamtstellung des Denkers Hartmann vgl. die Monographie von Wolf (2006), die Hartmann als Kind seiner Zeit zeigt: nicht nur, aber auch – ein Modephilosoph („Es wäre auch unvorsichtig zu behaupten, Hartmann sei völlig zu Unrecht vergessen worden.“ Wolf (2006), 21). Eine eindeutig positive Wertung Hartmanns findet sich dagegen bei Reschika (2001), 106f., der als einziger die „subterrane“ Wirkungsmächtigkeit dieses großen Schopenhauerschülers betont. 10 Vgl. z .B. „Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!“ Nietzsche (1980), 33 [Frühjahr 1884 25 (95)] 11 „Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der That mit allen Missrathnen und Schwachen […]“ Nietzsche (1969), 168 [AT, 3] 12 Vgl. zu den formalen und inhaltlichen Transformationen Schopenhauer-Nietzsche Salaquarda (1989), Decher (1996), Gödde (2003); vgl. auch den Überblick von Sommer (2000). – Nietzsches Kluft zu Schopenhauer wird zuletzt eine existentielle: Es geht nicht mehr um Metaphysik, nicht länger um Moral, sondern – um die Haltung zum Leben. Bei Schopenhauer wirke der alles zugrunde richtende, tiefnihilistische „Wille zum Nichts“ (vgl. Gödde (2003), 267f.). 13 Sommerlad (1993a), 102 5 Band in fieberhafter Hast aufschnitt und von vorne zu lesen anfing.“14 Mit dem vierten Schüler Schopenhauers also, nachdem im Duktus von Schwur und Bekehrung einmal die Schopenhauernachfolge in Anspruch genommen ist, verhält es sich anders als mit den drei vorigen: Mainländer macht keinen Hehl daraus, im Schatten des philosophischen Übervaters zu stehen. – Pure Autoreninszenierung? Rufe hat es durchaus gegeben, Mainländer habe wenig – fast gar nichts mit Schopenhauer zu tun: „Freilich hat man […] mit Unrecht seinen Meister für ihn [Philipp Mainländer, Th.L.] verantwortlich gemacht.“15 Und tatsächlich ist es ja derselbe Mainländer, der in seinem Werk aus dem basalen „Willen zum Leben“ Schopenhauers kurzerhand den basalen „Willen zum Tode“ macht16. Die endliche Welt gleitet bei ihm mit einem kleinen Umweg, der „Leben“ heißt, ganz zwangsläufig in die süße Ruhe des Nichts hinein, sie wird „creatio ad nihilum“17. Das ist für Schopenhauer freilich undenkbar: Es gibt keinen Weltvernichtungsautomatismus. Es ist vielmehr die Freiheit des Einzelnen entscheidend dafür, ob es eine Welt gibt oder nicht: „Die Wahrheit ist:“, schreibt Schopenhauer kurz vor seinem Lebensende, „für den, der sie [die Welt, Th.L.] will, ist sie 14 Sommerlad (1993a), 98 15 Kormann (1914), 8. Es sei erwähnt, dass bei Kormann dieser Ruf dadurch motiviert ist, Schopenhauer vor einer Verbindung mit Mainländer zu bewahren. – So wie man sonst Eltern für ihr schreckliches Kind „verantwortlich macht“. 16 Für Gebhard (1931) ist diese Transformation der größte Unterschied zwischen Mainländer und Schopenhauer. Gebhard liest Mainländer als einen Splitter der Schopenhauer'schen Philosophie, als eine verabsolutierte Perspektive im Panorama des Vorbildes: „Betrachten wir aufmerksam das gesamte System der Schopenhauerschen Philosophie, so sehen wir, daß einzelne ihrer Sätze als besonders charakteristisch und wesentlich sich dem denkenden Geiste einprägen und dann als selbständige, abgelöste Probleme zur Bildung eines eigenen Denksystems, ja sogar einer eigenen Weltanschauung Anlaß geben können.“ Gebhard (1931), 220 Eine ganz ähnliche Bewegung findet immanent im Freud'schen Denken statt. Ab 1920 vertritt Freud die Todestriebhypothese: „Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre […]. Das Ziel alles Lebens ist der Tod […]“ Freud (1920), 248 – Zur Rezeption von Freuds Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ vgl. Jones (1962), 327ff. Die Durchsetzungsfähigkeit dieses Konzepts wird letztlich klar gezeichnet: „Melanie Klein, Karl Menninger und Herman Nunberg – soviel ich weiß die einzigen Analytiker, die noch den Begriff des »Todestriebes« verwenden – gebrauchen ihn in rein klinischem Sinn, der von Freuds ursprünglicher Theorie weit entfernt ist.“ Jones (1962), 329 17 Lütkehaus (1999), 249. In Mainländer erlebt die Tradition der schwarzen Romantik ein philosophisches Zenit: Noch bei Schopenhauer wird ihr Lieblingstopos der „Nacht“ als ein Geben und Nehmen der mutterarchetypenhaften Dunkelheit figuriert, wenn er zur Einstimmung auf sein Kapitel „Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens“ gegen die philisterhafte Vernunftgläubigkeit schreibt: „Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit.“ W II, 657. Bei Mainländer ist die Nacht noch schwärzer geworden – sie nimmt nur noch, und die Lebensbewegung erlischt unwiederbringlich mit der finalen Systole: „Es ist die schon oben erwähnte Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein oder die Erkenntniß, daß das Leben die Hölle, und die süße stille Nacht des absoluten Todes die Vernichtung der Hölle ist.“ PE I, 216 – Ebenso auf literarischer Seite findet sich die Bewegung von der Ambivalenz der Nacht als schöpfend und zerstörend hin zur Nacht als das endgültige Aufhören: „Es wird später, bei Leopardi und Baudelaire beispielsweise, andere poetische Versuche über die Nacht geben, die das Aufhören zur Sprache bringen, das Verschwinden, das drohende oder lockende Nichts, die große Müdigkeit, die Lust an der Vernichtung.“ Safranski (2007), 121 – Die direkte Abhängigkeit Mainländers vom Dichter Leopardi, dessen Werke er als junger Mann in Italien gierig verschlang, ist überdies gesichert: vgl. Volpi (2001), 19f. 6 stets da, für den, der sie nicht will, ist sie nicht.“18 Aber es bleibt auch nicht länger das relative Nichts Schopenhauers – jenes „nihil privativum“19 –, das bei Mainländer angestrebt wird, sondern das „absolute Nichts“ – dieses „nihil negativum“20 – ist das Prospekt für eine Welt, die eine Anklage ob ihrer Schlechtigkeit nicht mehr verdient21. Der bangen Frage Leibnizens: „[Q]uod aliquid potius existit quam nihil […]“22?, stellt Mainländer in Anbetracht der Weltbeschaffenheit die einzig tröstende Entwicklungsprognose entgegen: Vergehen wird sie restlos – denn „Nichtsein ist besser als Sein“23. Erst das ergibt die wahre prästabilierte Harmonie. Für all dieses vom gemeinen wie auch vom philosophischen Menschenverstande her wenig Linienkonforme stößt man sich an Mainländer. Hinzu kommt, dass er sich zum performativen Fettdruck seiner Lehre selbst umbrachte. Die einen sagen, an all diesem Unsinn wären die verderblichen Lehren Schopenhauers Schuld gewesen24, dessen ewiges Gerede über die Schlechtigkeit der Welt, sein bekannter „Pessimismus“25, den er predigt – all dasjenige, worüber sich seine Mutter Johanna Schopenhauer schon bitter beklagte: „[A]n meinen Gesellschaftstagen kannst du abends bei mir essen, wenn du dich dabei des leidigen Disputirens, das mich auch verdrießlich macht, wie auch alles Lamentirens über die dumme Welt und das menschliche Elend enthalten willst, weil mir das immer eine schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe.“26. Diese alptraumhaften Lehren also, heißt es von 18 Estermann (1996), 32 19 „Näher betrachtet aber ist kein absolutes Nichts, kein ganz eigentliches nihil negativum, auch nur denkbar; sondern jedes dieser Art ist, von einem höhern Standpunkt aus betrachtet, oder einem weitern Begriff subsumirt, immer wieder nur ein nihil privativum.“ W I, 484 – „Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“ W I, 487 20 Alles Existente wird eingehen in „das absolute Nichts, in das nihil negativum, d. h. sich vollständig […] vernichten […]“ PE I, 323 – Zu den Begriffen „nihil privativum“ und „nihil negativum“ vgl. Kobusch (1984). 21 Mainländer verzichtet konsequenterweise in seinem Werk völlig auf ausgedehnte Beschreibungen des Elends der Welt: Die Sache ist für ihn, der den Weg der Welt ins Nichts treu vorzeichnet, eo ipso abgegolten. 22 GP VII, 303; vgl. Lütkehaus (1999), 132 23 PE I, 208 24 „Philipp Mainländer endete später durch Selbstmord, ebenso seine Schwester Mina [sic, Th.L.], die ihm half, sein Werk zu vollenden; beide endeten so tragisch. Mutter behauptete stets, daran sei Schopenhauer schuld durch seine Lehre gewesen.“ Franz (1914), 87 Vgl. auch Schwarze (1890), 302, die die Schuldfrage bezüglich Mainländers Tod genauso wie die Mutter Lucia Franzens beantwortet: „[…] [Es, Th.L.] ist ein jedenfalls begabter und genial veranlagter Geist das Opfer der falschen Philosophie geworden.“ 25 Zur Geschichte dieses Begriffs im Zusammenhang mit der Philosophie Schopenhauers vgl. die Ausführungen bei Hübscher (1987), 176ff. Weder der Begriff „Pessimismus“ noch der antipodische Begriff „Optimismus“ entstammen der Feder der Aushängeschilder dieser Weltanschauungen; weder kreierte Schopenhauer den „Pessimismus“, noch Leibniz den „Optimismus“. Die erste Erwähnung des „Pessimismus“ findet sich nach Hübscher (1987), 176, im Jahre 1766 beim Aphoristiker Lichtenberg mit der Formulierung: „»Der eine mit seinem Optimismus, der andere mit seinem Pessimismus«“. – Allerdings gehört „Pessimismus“ zu den wenigen „-ismen“, die der mit ihnen später Belegte selbst kannte und – wenngleich nicht zur Selbstcharakterisierung – öfters nutzte: So wehe im Christentum nach Schopenhauer ein „wesentlich pessimistische[r] Geist“ (P II, 321) und „Brahmanismus und Buddhaismus“ hätten zum „Grundcharakter“ eben den „Pessimismus“ (P II, 402). 26 Gwinner (1910), 52 7 Historikerseite, wären eben Wasser auf die Mühlen des ohnehin hereditär belasteten Geistes Mainländers gewesen27. Die anderen sagen, Mainländers narzisstische Neurose wäre auch ohne gründliche Schopenhauerrezeption Grund genug für Lehre und Leben(sende)28 – welches Gesundheitszeugnis sollte man auch demjenigen ausstellen, der seinen Familienroman dahingehend dichtet, dass er ein Kind „ehelicher Notzucht“29, geboren von einer „Jungfrau“30 sei? Dritte wiederum kritisieren einfach nur das buchgewordene Ergebnis entweder hereditärer Disposition, frühkindlich erworbener Neurose, Schopenhauerrezeption, allem dreien zusammen oder einfachen Unwissens: Man bemüht sich, nachvollziehbar herauszustellen, dass Mainländers Philosopheme „natürlich wenig überzeugend“31, „offenbare Grillen“32 und nur der Reflex einer idiosynkratischen „Verdammung der menschlichen Existenz“33 seien. Kurz: Die Widersinnigkeit und Ressentimentbelastung dieser Philosophie würden sie ohne Zweifel „zu einer unfruchtbaren philosophischen Eintagsfliege“34 machen: Bei Mainländer werde subjektive Befindlichkeit als objektive Richtigkeit hingestellt. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen diejenigen, die in Mainländers Philosophie einen großen Wurf sehen: Man erkennt in ihr „das radikalste System des Pessimismus“35; man entdeckt ein 27 Neben Mainländer beendeten noch zwei andere Geschwister ihr Leben durch eigene Hand (vgl. Rauschenberger (1944), 136). – Von fünf Kindern der Familie begingen demnach drei Suizid. „Es kann […] nicht zweifelhaft sein, daß Mainländer aus einer mit Geisteskrankheit erblich belasteten Familie stammte. Seine Großmutter mütterlicherseits verfiel in eine Art religiösen Wahnsinns. Seine Mutter, nach Mainländers Schilderung eine schöne, geistvolle, aber auch leidenschaftliche Frau war, als er geboren wurde, dem Irrsinn nahe.“ Gebhard (1931), 226 Rauschenberger (1944), 144, bemerkt zum Thema „erbliche Belastung“ noch: „Unter seinen [Mainländers, Th.L.] näheren Vorfahren waren sehr verschiedenartig veranlagte Menschen, leidenschaftliche und asketisch geartete, die wenig zusammengepaßt haben. Außerdem lag in der mütterlichen Familie eine melancholische Veranlagung.“ 28 „Meine zweite These lautet, daß die Probleme [in Mainländers Philosophie und Leben, Th.L.] und vielleicht auch deren Unauflöslichkeiten […] zu wesentlichen Teilen aus der narzißtischen Dynamik heraus verstanden werden können.“ Dammann (2001), 52 – Dammanns erste These bezieht sich auf die psychologische „Zeitgemäßheit“ der Philosophie Mainländers, der gerade heutzutage wachsender Erfolg beschieden sein müsse: „Psychohistorisch könnte man sagen, daß das Phänomen Mainländer auch deshalb von dauerhaftem Erfolg begleitet sein konnte, weil privates Selbst und öffentliches Selbst, individuelle Radikalität und pessimistischer Zeitgeist, zusammenkamen. Wie bereits erwähnt, ist die narzißtische Problematik ein großes Thema der Moderne und des 20. Jahrhunderts.“ Dammann (2001), 57 – Noch deutlicher als Dammann äußert sich der Wagnerianer Hausegger (1889), 91, zur Gesamtgenese von Mainländers Lehre: „Sie bleibt uns nach allem Gesagten nur mehr ein psychologisches, vielleicht gar ein psychiatrisches Problem.“ 29 „Wir [Mainländer selbst und seine Geschwister, Th.L.] sind keine Kinder der Liebe, sondern Kinder ehelicher Notzucht.“ Sommerlad (1993a), 95 30 Sommerlad (1993a), 94, berichtet von folgender mündlicher Aussage Mainländers: „Diese [die Mutter, Th.L.] ging mit grossem Widerstreben in die Ehe und war in derselben von einer Zurückhaltung und Keuschheit, als ob sie keine Frau, sondern eine Jungfrau gewesen wäre.“ 31 Gräfrath (1996), 225 32 Kormann (1914), 8 33 Gräfrath (1996), 227 34 Plümacher (1993), 36 35 Lessing (1906), 192; ebenso Rauschenberger (1931), 232: „Sie [die Philosophie der Erlösung, Th.L.] ist die konsequenteste Vertretung des Pessimismus in der Geschichte der Philosophie überhaupt.“ 8

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Mit Leuten wie Julius Bahnsen, Eduard von Hartmann,. Friedrich Schopenhauer selbst betitelt Julius Frauenstädt als seinen „erste[n] Schüler“ ( Briefe, 403).
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