Der Arabische Frühling Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.) Der Arabische Frühling Hintergründe und Analysen Herausgeber Th orsten Gerald Schneiders Duisburg, Deutschland ISBN 978-3-658-01173-4 ISBN 978-3-658-01174-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-01174-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Anfang und Ende – Entstehung und Entwicklung der Aufstände Reinhard Schulze Irhal – „Hau ab“ Auf den Wegen zur arabischen Revolte 2011 – sozialgeschichtliche Kontexte eines Epochenbruchs . . . . . . . . . . . 17 Oliver Schlumberger, Nadine Kreitmeyr und Torsten Matzke Arabische Revolten und politische Herrschaft: Wie überlebensfähig sind Autokratien im Vorderen Orient ? . . . . . . . 33 Stephan Rosiny Diktaturen, Bürgerkriege und Machtteilung in fragmentierten Gesellschaften: Syrien, Bahrain, Libanon und Irak im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . 65 Volker Perthes Politische Perspektiven der arabischen Revolutionen: Liberale, Islamisten und Militärs zwischen demokratischer Konsolidierung und Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . 81 Annette Jünemann Vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Regionalpolitik: Europa und der Arabische Frühling Hintergründe und Analysen zur Politik der Europäischen Union . . . . . 95 6 Inhalt Jugend, Frauen, Islamisten – Akteure der Bewegung Albrecht Hofheinz Soziale Medien im Arabischen Frühling . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Samuli Schielke Jugend, Klassengesellschaft und Generationen in Ägypten nach dem 25. Januar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Bettina Dennerlein und Sarah Farag Geschlechterpolitik in der arabischen Welt: Frauenrechte und politischer Wandel in Ägypten und Marokko . . . . . 139 Ivesa Lübben Auf dem Weg zum Gottesstaat ? Zur politischen Partizipation von Islamisten am Beispiel Ägyptens nach Mubarak . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Michal Shammas Die Christen Syriens und ihre Angst vor Veränderung . . . . . . . . . . 181 Eine Bewegung, viele Richtungen – ausgewählte Länderanalysen Werner Ruf Die Revolten im Maghreb: Sozialer Hintergrund und Perspektiven . . . . 193 Andreas Dittmann Zur Geographie der historischen und politischen Entwicklungsvoraussetzungen des post-revolutionären Libyen . . . . . 205 Thorsten Gerald Schneiders Der Arabische Frühling in Syrien: Hintergründe, Strukturen, Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Inhalt 7 Marie-Christine Heinze Zeitenwende im Jemen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Katja Niethammer Herbst statt Frühling am Arabischen Golf: Bahrain im Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Jan Busse Chronologie des Arabischen Frühlings: Die wichtigsten Ereignisse zu Beginn der Umwälzungen in ausgewählten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Einleitung Es steht nicht gut um den Arabischen Frühling. Die mutige Protestbewegung ge- gen die autokratischen Herrschaftssysteme rief schon kurz nach den ersten Er- eignissen Bedenkenträger auf den Plan. Getrieben von der Sorge um die Stabili- tät der Region, den Befürchtungen einer Machtübernahme durch Islamisten und der Angst um die Sicherheit Israels, war schon bald vom „Arabischen Herbst“ die Rede. Aus Europa und den USA betrachtet, schienen sich die Ereignisse nicht so zu entwickeln, wie es von manchen gerne gesehen worden wäre. In Tune- sien wurde die islamistische Ennahda an die Macht gewählt, in Ägypten sorgten Wahlergebnisse von 70 Prozent für islamistische Gruppierungen für Erstaunen. In Libyen treiben nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi weiterhin bewaffnete ehemalige Rebellen-Gruppen ihr Unwesen, und der Abgang von Jemens Staats- chef Ali Abdullah Salih scheint kaum Änderungen in dem Land hervorgebracht zu haben. Darüber hinaus kommt es in allen Ländern noch immer zu gewalttäti- gen Auseinandersetzungen. Es wäre naiv zu glauben, unmittelbar nach den Pro- testen könnten reibungslos Demokratien nach europ äischem Vorbild entstehen. Ein solcher Transitionsprozess ist zwar im Grundsatz nicht ausgeschlossen, die Länder der arabischen Welt werden aber ihre eigen en Wege gehen müssen – und die sind zwangsläufig lang und holprig. Das hat mehrere Gründe. Die Gesellschaften müssen den Umgang mit ihrer neu gewonnenen Freiheit erst erlernen. Über Jahrzehnte, das heißt über ganze Generationen hinweg, war politische Partizipation für die Mehrheit der Bevölke- rungen ein Fremdwort – der Versuch der Teilhabe konnte mitunter sogar lebens- gefährlich sein. Es entwickelte sich ein breites und tiefes gesellschaftliches Des- interesse an Politik, was sich nicht innerhalb weniger Jahre wandeln lässt. Das demokratische Aushandeln von politischen Positionen ist aber für alle Gesell- schaften eine Herausforderung, da es durch Macht- und Verteilungsfragen er- schwert wird. Das gilt umso mehr für Nachfolgestaaten, die auf den Ruinen der alten, weggebrochenen Strukturen neu errichtet werden müssen; im Zuge des Un- tergangs der Sowjetunion waren diese Probleme bereits in ähnlicher Form zu be- obachten. Bevölkerungsteile, die vom alten System profitiert hatten, wehren sich gegen Statusverluste. Bevölkerungsteile, die bereits benachteiligt waren, fordern T. G. Schneiders (Hrsg.), Der Arabische Frühling, DOI 10.1007/978-3-658-01174-1_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 10 Einleitung vehement ihre Einbindung. Wer früher das Nachsehen hatte, dem wird es beson- ders schwer fallen, sich nach dem Versprechen von Freiheit und Wandel auch un- ter neuen staatlichen Vorzeichen fügen zu müssen, wenn andere die Mehrheit er- langt haben. Überdies verleitet der über Jahrzehnte gewachsene Vertrauensverlust in die Politik selbst in Fällen rechtmäßiger demokratischer Entscheidungen allzu leicht dazu, den Siegern Wahlmanipulationen zu unterstellen. Politische Nie- derlagen zu akzeptieren, ist nicht einfach. Umgekehrt hat aber auch der verant- wortungsvolle Umgang mit der gewonnenen Macht seine Tücken. Regierungen verfallen oftmals der Versuchung, kaum oder gar keine Rücksicht mehr auf den politischen Gegner zu nehmen. Das behindert insbesondere in der fragilen Phase eines Demokratieaufbaus die Legitimierung der neuen Herrschaftsverhältnisse. Jenseits der Probleme praktischer Politik fechten die Araber seit 200 bis 300 Jahren ideologische Kämpfe um die Grundausrichtung ihrer Staats- und Ge- sellschaftssysteme aus. Der Niedergang der alten Herrschaftsstrukturen um Ka- lifen, Sultane und Emire und der gleichzeitige Aufstieg neuer Staatsformen im benachbarten Europa haben eine gewisse Ratlosigkeit hinterlassen: Fragen zu den zunächst fremden Ideen von Demokratie und Nationalismus auf der einen Seite und Fragen nach der Bewahrung des eigenen kulturellen Erbes und damit eng verzahnt die Rolle der Religion des Islam auf der anderen Seite warten nach wie vor auf eine Entscheidung. So kam es zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen, wie die Staatsverfassungen etwa der Türkei und Saudi-Arabien bzw. des Iran zei- gen, oder zu merkwürdigen hybriden Formen wie in Ägypten, das sich säkular gab und dabei die Scharia dennoch fest im Blick behielt. Wirklich zufriedenstel- len konnten die Staaten ihre Bevölkerungen damit nicht. Im Gegenteil, in den Ge- sellschaften zeitigten die ungelösten Fragen zahlreiche Fragmentierungen entlang ethnischer, religiöser und geschlechtlicher Grenzen. Nicht unerheblich für die Zerrissenheit der Region ist seit langer Zeit auch die Rolle des Auslands. In einer Phase ausgeprägter politischer Schwäche ange- sichts des sich lösenden inneren Zusammenhalts des damals herrschenden Os- manischen Reichs wurde die Region ab dem 18. Jahrhundert mit den knallharten strategischen, machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen der unmittelbar an ihren Grenzen aufgestiegenen europäischen Weltmächte konfrontiert, die im Laufe der Zeit nach und nach von den USA abgelöst wurden. Direkte militärische und geheimdienstliche Eingriffe in die Entwicklung der Staaten überschnitten sich mit indirekten politischen und wirtschaftlichen Versuchen der Fremdsteue- rung. Abwehr auf der einen Seite sowie Bündnisbildung und Profitierungsversu- che auf der anderen Seite bestimmten fortan die Politik vieler Parteien und Frak- tionen in der arabischen Welt. Einleitung 11 Wie sehr das nach wie vor gilt, hat der Arabische Frühling deutlich aufge- zeigt. Die Bilder von europäischen Staats- und Regierungschefs und arabischen Autokraten, die sich noch kurz vor den Aufständen strahlend in den Armen ge- legen hatten, traten plötzlich in jähen Kontrast zu Aufnahmen von protestieren- den Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und getöteten Zivilisten in Tripolis. Die langjährigen Regimes der Ben Alis, Mubaraks, Gaddafis und Assads wurden maßgeblich durch die EU-Staaten, die USA, Russland aber auch durch die aufstrebenden Mächte wie China als Garanten für politische Stabilität, als Schutz vor terroristischen Bestrebungen und als Partner für lukrative Handelsgeschäfte gestützt. Jedes Mal, wenn diese Machthaber ihre Untertanen die Knute spüren lie- ßen, stand das Ausland somit als stummer Beobachter unmittelbar dahinter. Es kann daher eigentlich nicht verwundern, dass die Menschen in den arabischen Ländern sich weigern, von derselben internationalen Gemeinschaft nun Emp- fehlungen entgegenzunehmen, wen sie denn in freien Wahlen am besten wäh- len sollten. Auch deshalb sind die Erfolge der Islamisten, die oftmals den härtesten Re- pressalien unter den alten Regimes ausgesetzt waren, beinahe zwangsläufig. Die Länder der arabischen Welt müssen ihren eigenen Weg finden. Sie müssen ihre zahlreichen innergesellschaftlichen Probleme – angefangen bei den Defiziten im Bildungssektor über den Umgang mit Minderheiten bis hin zu Korruption und Nepotimus – erkennen und lösen. Mitunter ist dazu erforderlich, das Schei- tern und die Demaskierung selbsternannter Heilsbringer abzuwarten. Das Aus- land sollte sich jedenfalls aus der Innenpolitik dieser Staaten heraushalten und im Zweifelsfall auch missliebige Entwicklungen akzeptieren – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Die führenden Industrie- und Schwellenländer können den Wan- del am besten begleiten, indem sie sich auf wirtschaftliche Unterstützung konzen- trieren. Demokratie kann nur gelingen, wenn sie mit steigendem Wohlstand ein- hergeht, der grundsätzlich für alle Gesellschaftsgruppen erreichbar ist. Schon das „wirtschaftswunderliche“ Deutschland wäre ohne flankierende Maßnahmen des Auslands vermutlich einen anderen Weg gegangen, und die Schuldenkrise in der Europäischen Union hat vor allem am Beispiel Griechenland zuletzt wieder ge- zeigt: Überall dort, wo es zu wirtschaftlichen Verwerfungen kommt, wächst die Angst um die Demokratie. Braucht es nun aber ein weiteres Buch über den Arabischen Frühling ? Wäh- rend viele Beobachter im Verlauf des tunesischen Aufstands noch an ein singulä- res Ereignis dachten, zeichnete sich mit dem Überschwappen der Protestwelle auf Ägypten die Zeitenwende bereits ab. Die Massenkundgebungen auf dem Tahrir- Platz in Kairo, bei denen der Sturz Hosni Mubaraks gefordert wurde, waren noch
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