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Der andere Schlaf PDF

160 Pages·2010·0.53 MB·German
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SV Band 45 der Bibliothek Suhrkamp Julien Green Der andere Schlaf Roman Deutsch von Carlo Schmid Mit einem Nachwort versehen von Rein A. Zondergeld SuhrkampVerlag Titel der Originalausgabe: L'AUTRE SOMMEIL Paris • Gallimard Fünftes und sechstes Tausend 1980 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden (cid:246) scan by párduc 2002 Der andere Schlaf Wer weiß, ob diese andere Hälfte des Lebens, darin wir wach zu sein wähnen, nicht ein anderer, von jenem ersten um ein Geringes unterschiedener Schlaf ist, aus dem wir, wenn wir zu schlummern glauben, erwachen. Pascal Ich ü berquere den Pont d'Jéna nie, ohne mich eine Weile mit den Ellenbogen auf die Brüstung der Brücke zu stützen. Geschah es hier oder ein wenig weiter vorn? Mir ist, als ob es ungefähr auf der Mitte der Brücke gewesen sei, dort, wo man nach Saint Cloud hinschaut. Mein Vetter faßte mich unter den Armen und hob mich in einem Schwung auf das steinerne Gesims. Aufrecht und mit vor Schreck stockendem Atem schloß ich die Augen und verkrampfte die Finger. Dann drang Claudes Stimme zu mir, ein wenig knapper als ge­ wöhnlich: „Hältst du die Augen auf? Siehst du die Schwaneninsel? Grenelle auch?“ Meine Ant­ wort verwehte der Wind, wenn er mich nicht zwang, meine Worte zu verschlucken. Ich hatte 7 Angst. Ich fühlte die Hände meines Vetters an meinen Fußgelenken beben, die sie mit zu festem Druckumfangenhielten. Beim Wiederaufschlagen der Augen befiel mich leichter Schwindel. Der Himmel über meinem Kopfe bewegte sich von rechts nach links, und die Riesenplatanen, die den Strom säumen, neigten sich zitternd und reckten s ich neu im Sonnenlicht. Die Seine wälzte majestätisch ihre schmutzigen Fluten. Entlang dem Hafen blieben von meiner Angst unberührte Spaziergänger stehen, um aufs Wasser niederzuschauen, und nahmen schleppen­ den Fußes ihren Wandel wieder auf. Ein Sand­ haufen, aufgeschichtete Backsteine verbargen sie einen Augenblick lang, dann wurden sie wieder sichtbar, aber sie sahen so klein aus, daß mein Herz sich zusammenzog und ich die Augen wegwenden mußte. Mein Blick ging in einer Art von Trunken­ heit unter wie ein scheiterndes Schiff, und ich sah nichts mehr, weder die Schwaneninsel, noch Gre­ nelle, noch die Müßiggänger an der Hafenmauer – ich sah nur noch, verloren in einem Himmel, den sie mit ihren Strahlungen füllte, die weiße Nackt­ heit der Statuen, die auf den Strom niederblickten. Ich weiß nicht, ob dieses Spiel Claude Spaß 8 machte. Wenn ich es recht überdenke, möchte ich glauben, daß sein Entsetzen dem meinen gleich kam, denn ich bemerkte oft eine tiefe Blässe auf seinem Antlitz, wenn er mich wieder zum Boden niederhob, und daß die Hände ihm bebten, sagte ich schon. Aber er machte eine eigentümliche Ehren­ frage daraus, die Brücke nicht zu überqueren, ohne mich hoch über den Fluten hinzustellen, mich da­ mit einem entsetzlichen Sturze aussetzend. Aus Eitelkeit ließ ich mir diese Folter gefallen. Ich wollte nicht, daß er mich verdächtigte, feige zu sein. Er war fünf Jahre älter als ich, der ich deren nur acht zählte, und ich wäre ohne zu mur­ ren mit noch rauheren Prüfungen einverstanden gewesen, damit ich seine Achtung nicht ver­ löre. Er sagte fast nie etwas zu mir; das ihm eigene Stillesein verließ ihn, für eine kleine Weile nur, wenn wir über die Brücke gingen, und dann sprach er zu mir in einer Art von Fieber, das den prallen Glanz seiner Augensterne noch lebendiger machte: „Wenn ich dich jetzt dahinauf stellte, wie das letzte Mal? Du könntest mir dann sagen, was du sehen kannst.“ Und dann begann unter den Blik­ ken der Spaziergänger, die, darin allen Spazier­ 9 gängern der Erde gleich, diesen Vorspielen eines möglichen Dramas mit tierhafter Ruhe beiwohn­ ten,dasgefahrvolleGeturne. Ich sagte keinem Menschen ein Wort von den Exerzitien, denen wir uns auf dem Pont d'Jéna unterzogen. Ein Blick, den Claude über die Schul­ ter meiner Mutter warf, während sie mich ausfrag­ te, hatte ausgereicht, um mir völliges Stillschwei­ gen über die Einzelheiten meines Nachmittags aufzuerlegen. Im übrigen fand ich mich ohne Schwierigkeit damit ab, nicht davon zu reden. Ganz im Gegenteil hatte ich Gefallen daran, mich um ein Geheimnis reicher werden zu lassen. Ein unwiderstehlicher Instinkt trieb mich, zwischen meinen Verwandten und mir Schlagbäume nieder­ zulassen. Jede List war mir gut genug, um die Hellsichtigkeit meiner Eltern zu täuschen, wenn sie nur nicht bis zur Lüge ging. So hätte ich „Ja“ geantwortet, wenn man mich gefragt hätte: „Bist du auf die Brüstung des Pont d'Jéna gestiegen?“, aber es kam niemand in den Sinn, eine so ausge­ fallene Frage zu stellen. Und da ich es mit einer zerstreuten Mutter zu tun hatte und mit einem Vater, den es wenig interessierte, wie ich meine Tage verbrachte, war es alsdann nicht schwer, um 10 ein allzu genaues Verhör herumzukommen. Meine Gewandtheit bestand darin, daß ich mit einem großen Wortschwall von kleinen Dingen redete, die ich auf der Straße bemerkt hatte, und viel mehr darüber sagte, als man von mir hören wollte. Mein Vater wurde dieses Geschwätzes rasch müde und hieß mich schweigen, lange eh ich beim Pont d'Jéna angelangt war. Ich fand mich mit meinem Gewissen im reinen, das ich schmählich mißhan­ delte, und meine Eltern schickten mich mit der ahnungslosen Unschuld der Erwachsenen ins Bett oder zum Spielen, ohne sich mehr um mich zu kümmern. Wir bewohnten damals in der Talsenke der rue de Passy ein altes Haus, von dem aus man die vordersten Bäume des Bois de Boulogne sehen konnte. Seit Mietersgedenken war seine Fassade nicht mehr verputzt worden, und man konnte auf dem grauen Stein die dunklen Flecke sehen, mit denen die Fensterläden ihn gezeichnet hatten. Ei­ nes baldigen Tages wird es von selbst zusammen­ brechen, es sei denn, ein Abbruchunternehmer helfe ihm dabei. Vielleicht werden dann im Ge­ krache der stürzenden Mauern sich von diesen Steinen Schreie lösen, denen gleich, die, der Sage 11

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