ALTDEUTSCHE TEXTBIBLIOTHEK Begründet von Hermann Paul Fortgeführt von Georg Baesecke Herausgegeben von Hugo Kuhn Nr. .67 Der altdeutsche Physiologus Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus) Herausgegeben von Friedrich Maurer MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1967 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Satz H. Laupp jr, Buchdruckerei, Tübingen INHALT Vorwort VIT bis IX Abdruck der Millstätter Handschrift 2 bis 72 Die Prosa der Wiener Handschrift 2 bis 72 Der kritische Text der Reimfassung 3 bis 73 Anhang Der lateinische Text 75 bis 90 Der althochdeutsche Physiologus 91 bis 95 VORWORT Mein Versuch, den „Millstätter Reimphysiologus" wiederherzu- stellen1), legt es nahe, die altdeutsche Physiologus-Übersetzung hier einmal im Gesamten herauszugeben. So steht jetzt nicht nur neben dem Text des Reimwerks seine handschriftliche Grundlage und die Prosa, die es unmittelbar in Verse umsetzt; sondern es tritt der lateinische Text hinzu, der ebenfalls willkommen sein wird und auch der althochdeutsche Physiologus wird am Schluß wieder- gegeben. Da sich auch die Strophen der Münchner (Schäftlarner) Handschrift im Apparat meiner Strophen 46 und 26 finden, ist hier die gesamte altdeutsche Physiologus-Überlieferung zusammen mit dem lateinischen Text vorgelegt. Was den lateinischen Text betrifft, so war die Frage, welche Textgestalt als dem deutschen Physiologus am nächsten stehend gewählt werden sollte. Friedrich Wilhelms Entscheidung2) für den Text von EPp hatte Hermann Menhardt3) abgelehnt; er glaubte die Dicta Chrysostomi in der Wiener Hs. 303 an ihre Stelle setzen zu müssen. Genauere Nachprüfung hat aber zu erheblichen Zweifeln an Menhardts These geführt und mich schließlich be- wogen, ihm nicht zu folgen. Es ist natürlich unmöglich, hier die unübersehbare Textgeschichte des lateinischen Physiologus auf- zurollen; ich deute nur einige Gründe für meine Entscheidung an. Viele Abweichungen zwischen Wilhelms und Menhardts Text entsprechen dem deutschen Text gleich gut oder fehlen in gleicher Weise; viele kleinere Variariten stehen bald näher bei dem einen, bald bei dem andern. Während im ersten Drittel etwa geringe sach- liche Varianten erscheinen, wird das später anders; in seinen Ka- 1) Die religiösen Dichtungen des 11. und 12.Jh.s nach ihren Formen bespr. und hg. Bd. 1 (1965) S. 169-245. s) Denkmäler dt. Prosa des 11. und 12. Jh.s hg. von F.Wilhelm (1914/16, Neudruck 1960) Bd. I, 5 ff.; Bd. II, 13 ff. 3) Der Millstätter Physiologus und seine Verwandten (1956) ( = Kärnt- ner Museumsschriften 14). VII piteln 9 (Elefant), 14 (Hirsch), 16 (Füchsin), 17 (Biber), 19 (Igel), 20 (Adler), 21 (Pelikan), 22 (Nachteule) u. a. steht der deutsche Text näher bei Wilhelms als bei Menhardts Text. Was speziell das Kapitel 12 über die Viper betrifft, so hat Menhardt großen Wert auf die Tatsache gelegt, daß der Millstätter Physiologus (wie die Wiener frühmhd. Prosa) die vierte Natur der Viper bringt, die in Wilhelms Text fehlt; die lateinischen Dicta der Wiener Hs. 303 fügen sie als einzige hinzu (vgl. Menhardt S. 23f.). Da aber der deutsche Text im übrigen näher bei Wilhelms Text steht; da er sogar wie Wilhelms lateinische Fassung von den drei Naturen der Viper spricht (vgl. „Viper" 8), so liegt die Annahme viel näher, daß die vierte Natur erst später im deutschen Text (oder seiner Vorlage) zugefügt worden ist4). Man wird in jedem Fall sehr verwickelte Verhältnisse in den Vorlagen ansetzen müssen und kann keineswegs „die" lateinische Quelle der Wiener deutschen Prosa vorlegen. So habe ich mich auch nicht entschließen können,Wilhelms Text unverändert zu über- nehmen, der auf EPp ruht; vielmehr sind aus den Varianten, die Wilhelm nach FGLNOVW aufführt, diejenigen in den Text ge- nommen, denen die deutsche Prosa offensichtlich näher steht. In diesen Fällen steht die Lesart von EPp in dem kleinen Apparat, den ich unter dem lateinischen Text zufüge. In diesem Apparat erscheinen im übrigen die sachlichen Abweichungen von EPp (Wilhelms Text) nach FGLNOVW. Nicht notiert sind Abweichun- gen der Wortfolge, auch nicht Abweichungen einzelner Hand- schriften und ebenso nicht die Lücken in E. Im übrigen folge ich der Schreibung Wilhelms; doch ist u - ν ausgeglichen, die Namen sind stets groß geschrieben. In Klammern ist eine Abschnittszäh- lung beigefügt, die auf die entsprechende Zählung in der deutschen Prosa abgestimmt ist. Was die mittelhochdeutschen Texte, die Wiener Prosa und das Millstätter Reimwerk angeht, so wiederhole ich aus meiner großen Ausgabe5) nur das Folgende: Der Reimphysiologus ist in der Millstätter Pergament-Handschrift VI/19 zwischen der Genesis- und der Exodusdichtung überliefert und vor meiner Ausgabe nur einmal, und zwar von Kar a j an bei seinem buchstabengetreuen 4) Diesen Hinweis verdanke ich Fräulein Dr. Herta Zutt. 5) Vgl. dort Bd. I (1964) 169-173. VIII Abdruck von Teilen dieser Handschrift herausgegeben worden6); er stellt sich als der Versuch dar, die Prosafassung, die wir aus der Wiener Handschrift Nr. 2721 kennen und die zuletzt Fr. Wi 1 h e 1 m7) abgedruckt hat, mit Hilfe des schema homoeoteleuton in Verse zu bringen. Ein ähnlicher, aber freierer Versuch wird uns durch das Bruch- stück einer Münchner Handschrift bezeugt, die aus Schäftlarn stammt. Friedrich Wilhelm hat es abgedruckt8). Ich habe die Zeilen in meinen Apparat aufgenommen, und zwar verteilt auf meine Strophen 26 und 46, denen das Stück entspricht; die Folge der Verse ist vertauscht. Die „Strophen", die ich hergestellt habe, sind von besonderer Art. Wieder halte ich mich an die Initialentechnik, und ich kann es mit gutem Grund tun, da Wiener Prosa und Millstätter Verse in diesem Punkt weithin übereinstimmen. Lasse ich die mit Eigen- namen und mit direkten Reden beginnenden Zeilen als neutral außer Betracht, so setzen in der Regel neue gedankliche Zusammen- hänge mit Initiale ein; und zwar können das hier Zusammenhänge sein, die zwei bis acht Langzeilen umfassen. Gelegentlich erscheinen auch einzelne Langzeilen durch Initialen abgesondert. Doch schwanken gerade in diesem Fall die beiden Überlieferungen (z.B. vs. 41,98 meiner Durchzählung); ich habe daher auch andere Einzelzeilen zu den größeren Abschnitten der Nachbarschaft hin- zugenommen. Sehr eindrucksvoll wird auch deutlich, daß diese Memorier- Strophen in der Regel kleineren Umfang haben; von etwa 180 Ab- schnitten gliedern etwa 150 zwei- bis vierzeilige Strophen ab: 55 Zweizeiler, 50 Dreizeiler und 41 Vierzeiler. Dagegen sind nur 18 Fünfzeiler festzustellen. Wenn sich dann noch acht Sechszeiler, 6) Deutsche Sprachdenkmale des 12.Jh.s hg. v. Th. G. von Karajan (1846) 73ff. - Vgl. auch die Beschreibung durch C. von Kraus, Wiener Sitz. Ber. phil.-hist. Klasse 123 (1890) 2 ff. - Neuestens hat Peter F. Ganz etwa 350 Verse abgedruckt und kommentiert: Geistliche Dich- tung des 12. Jh.s (I960) 47-58 und 93-96. 7) A.a.O. Bd. I, 15ff.; Bd. II, 13ff. - Frühere Abdrucke: E. G. Graff, Diutiska 3 (1829) 22-39; H. Hoffmann, Fundgruben 1 (1830) 22-37 u. Nachtr. 341 f.; H. F.Massmann, Dt. Ged. des 12. Jhs., 2.Theil (1837) 311-325 u. Anm. 158f.; F. Lauchert, Gesch. des Physiologus (1889) 280-299. 8) Olm 17195; Wilhelm a.a.O., Kommentarband 46f. IX ein Siebenzeiler, zwei Neunzeiler und vier Achtzeiler finden, so hat man Anlaß, sie näher zu betrachten; es ist in meiner großen Ausgabe geschehen. Das Ergebnis ist dies: Die Zerlegung der meisten dieser Strophen in zwei oder drei ist gut möglich; man kann durchaus mit einigen verlorenen oder vergessenen Initialen rechnen. Lediglich bei den Sechszeilern macht es zweimal echte Schwierigkeiten; in zwei wei- teren Fällen wäre" es nicht sehr sinnvoll. Der Achtzeiler meiner Strophe 53 kann geteilt werden, wie die andern Achtzeiler, der Neuner und der Siebener. Ich habe diese so hergestellten Strophen als 53 a usw. bezeichnet. Auf diese Weise zähle ich die Memorier- ,.Strophen" durch. In der Prosa, die ich parallel drucke, habe ich die Haupt- abschnitte (Wilhelms Abdruck folgend) gezählt, und zwar in meinem Text mit römischen Kapitelzahlen; eingeklammerte Pa- ragraphenzahlen setze ich jeweils vor der überlieferten Initiale. Auf diese Weise decken sich in erstaunlichem Umfang die Initialen in den Paragraphenanfängen der Prosa und in den Strophenein- sätzen des Reimphysiologus. Der Langzeilencharakter ist in fast allen Fällen deutlich; der Bogen der Aussage läuft über eine, zwei, auch drei Langzeilen hinweg, wobei in der Regel nach dem Schluß der Langzeile ein leichter Einschnitt, oft auch nach der Halbzeile eine „Furche" liegt; auch die wenigen vorkommenden überlangen Strophen (3, 25, 53, 95, 115a) ändern an dem Gesamteindruck nichts. Selten ist die „Furchung" in der Mitte kräftiger als der Langzeilenschluß; auch dann wird fast überall gleich danach durch abschließende Halb- zeile der Langzeilencharakter wiederhergestellt; vgl. Strophe 11, 32, 48, 54, 74, 137. In einigen wenigen Strophen scheinen sich wirkliche „Bre- chungssysteme" zu zeigen; aber auch hier spricht manches dafür, daß die Überlieferung geändert hat. Dazu vgl. in der großen Aus- gabe S. 171! Was die Reimtechnik betrifft, so steht sie auf sehr primitiver Stufe. U. Pretzel hat die Reime untersucht und das Stück auch seinerseits zu den „primitiven" Reimern gerechnet. Tatsächlich herrscht in den Bindungen sehr große Freiheit, die gelegentlich bis zur Reimlosigkeit zu gehen scheint. Außerdem sind in zahlreichen Fällen wie beim Umlaut von α und ά; bei der Form der Endsilben X