Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie Psychiatry Series Band 4 Herausgegeben von H. Hippius, Munchen . W. Janzarik, Mainz M. Muller, RufenachtlBern Gerhardt Nissen Depressive Syndrome J im Kindes- und ugendalter Beitrag zur Symptomatologie, Genese und Prognose Mit 11 Abbildungen und 51 Tabellen Springer-Verlag Berlin· Heidelberg. New York 1971 Privatdozent Dr. med. GERHARDT NISSEN, Arztlimer Direktor und Chefarzt der Stadtismen Klinik fur Kinder- und Jugendpsymiatrie, 1000 Berlin 28, Frohnauer Str. 74-80 ISBN -13:978-3-642-80628-5 e-ISBN -13:978-3-642-80627-8 DOl: 10.1007/978-3-642-80627-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindet"ll Rechte, insbesondere die der Obersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speimerung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, aum bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Bei Vervielfaltigungen fiir gewerbliche Zwecke ist gemaBt § 54 UrhG cine VergUtung an den Verlag zu zahlen, deren Hehe mit clem Verlag zu vereinbaren ist. © by Springer-Verlag Berlin · Heidelberg 1971. Library of Congress Catalog Card Number 75-164960. Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1971 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden dUrften. Herstellung: Konrad Triltsch, Graphischer Betrieb, 87 Wilrzburg Meiner Frau Vorwort Diese Monographie stutzt sich auf Krankengeschichten der Stadtischen Klinik fur Kinder- und Jugendpsychiatrie Wiesengrund in Berlin West, die - im Jahre 1881 als Stadt. Heil- und Erziehungsanstalt gegrundet, als Stadt. Nervenklinik fUr Kinder und Jugendliche der Reichshauptstadt und in der Periode der Kinder-Beobachtungsabteilungen als Stadt. Kindersanatorium Wiesengrund fortgefuhrt - als eine der altesten klinisch-kinderpsychiatrischen Einrichtungen Deutschlands gleichzeitig ein Stuck Geschichte der deutschen und der europaischen Kinder- und Jugendpsychiatrie widerspiegelt. Die vorliegenden Untersuchungen wurden in den Jahren 1969-1971 durchgefuhrt. Die statistische Bearbeitung und Auswertung grundet sich auf die Daten und Fakten von 105 Kindem und Jugendlichen mit langfristigen, mit telschweren und schweren depressiven Syndromen, die in der Zeit yom 1. 1. 1942 bis 31. 12. 1968 stationar untersucht wurden und von denen in den J ap ren 1969 und 1970 96 Probanden ambulant nachuntersucht werden konnten. Mein Dank gilt zunachst der Firma Ciba-Geigy AG., Basel, fur die Forde rung dieser Studie; insbesondere aber Herm Dipl.-Math. DIETER FLACH, Mun chen, ohne den die vorliegende Arbeit nach Art und Umfang nicht in diesem Zeitraum hatte bewaltigt werden konnen. Besonderer Dank gilt auch Frau INGEBORG SCHUBERT fur ihre aufmerksame Mitarbeit an der Vorbereitung und AusfUhrung der Untersuchungen und fur die sorgfaltige Betreuung des Manu skriptes. Berlin-Frohnau, im Juli 1971 G. NISSEN Inhaltsiibersicht 1. Einleitung . 1 2. Zur psychischen Entwicklung 3 2.1 Erstes Lebensjahr . 4 2.2 Zweites und drittes Lebensjahr 8 2.3 Viertes und fiinftes Lebensjahr 11 2.4 Sechstes bis elftes Lebensjahr . 14 2.5 Zwolftes bis achtzehntes Lebensjahr 16 3. Krankengut 20 3.1 Auswahl und Begrenzung 21 3.2 Auszahlung und Auswertung . 22 3.3 Aufnahmefrequenz und -diagnosen 27 3.4 Jahres-, Alters- und Geschlechtsverteilung 31 3.5 Intelligenz und Schule . 35 3.6 Stellung in der Geschwisterreihe und familiare Situation 38 4. Symptomatik . 41 4.1 Symptomatik,Obersicht 42 4.2 Symptomatik und Geschlechtsverteilung 44 4.3 Symptomatik und Altersverteilung . 50 4.4 Symptomatik und Intelligenzverteilung 53 4.5 Symptom-Paare und Symptom-"Netzwerke" 55 4.6 Diagnostische Syndrome 62 4.7 Nosologische Syndrome 67 5. Genese 72 5.1 Konstitutionelle Gesichtspunkte 76 5.2 Milieureaktive Gesichtspunkte 78 5.3 Somatische Gesichtspunkte . 89 5.4 Endogene Gesichtspunkte 93 6. Therapie 96 7. Katarnnesen 98 7.1 T echnik und Methodik 98 7.2 Allgemeine Ergebnisse 104 7.3 Verlaufskriterien und Katamnesenabstande 108 7.4 Symptome mit ungiinstiger oder giinstiger Prognose 110 Inhaltsiibersicht IX 7.5 Schizophrene Psychos en, Stimmungsschwankungen und Suicide 111 7.6 "Broken Home" und Prognose . 114 7.7 Diagnostische und nosologische Syndrome und Prognose 115 8. Kasuistik 117 8.1 Erst- und Zweitsicht .. 119 9. Diskussion der Ergebnisse und Zusammenfassung 141 9.1 Discussion and Summary 149 10. Literatur 157 Sachverzeichnis 165 Abbildungsverzeichnis 172 Tabellenverzeichnis 173 1. Einleitung Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat mit der Psychiatrie des Erwachsenenalters gemeinsam, daB sie sich mit der Psychopathologie, der Genese, Prognose und Therapie psychischer Storungen und Erkrankungen beschaftigt. Wahrend die Dominanten der Erwachsenen-Psychiatrie jedoch auf den Gebieten der endogenen und exogenen Psycho sen, der abnormen Personlichkeiten und der hirnorganischen Erkrankungen liegen, ist das Interesse der Kinder- und Jugendpsychiatrie eindeutig auf den praventiven, familienorientierten, sozialp-sychiatrischen und heilpadagogisch-psychotherapeutischen Bereich zentriert. Das erklart einige noch bestehend~ Vorbehalte der Medizin gegen tiber unkonventionellen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die auch in oen USA noch eine "relativ schwache Position in den medizinischen Fakultaten" (STUTTE, 1969) einnimmt. In der vorliegenden Arbeit werden depressive Verstimmungszustande unter einem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt, dem der Kindheit und Jugend, dargestellt. Diese altersbezogene Sicht psychopathologischer Syndrome hat die Psychiatrie des Kindes- wie des Erwachsenenalters gleichermaBen bereichert. Unter Einbeziehung katamnestischer Untersuchungen dient sie der Dberprtifung der Prognose ebenso wie der Erhellung der Anamnese und Klarung der Genese, damit aber auch der Pro phylaxe und der Therapie psychischer Fehlentwicklungen und Erkrankungen. Depressive Verstimmungen im Kindes- und Jugendalter werden in alteren und modernen Lehrbtichern der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit nur wenigen Aus nahmen (SCHOLZ, 1911; SHIRLEY, 1963; STUTTE, 1960) entweder tiberhaupt nicht (HAMBURGER, 1938; AsPERGER, 1965; VAN KREVELEN, 1952) oder nur mit knapp en Hinweisen im Text (LUTZ, 1964; TRAMER, 1964) erwahnt oder aber allein unter dem Aspekt der endogenen Depression im Kindesalter (HOMBURGER, 1926; v. STOCKERT, 1967) abgehandelt. In dem weltweit bekannten Lehrbuch "Child Psychiatry" von KANNER (1962) ist das Stichwort "depression" nicht einmal im Sachregister aufgeftihrt, wohl aber Angst, Furcht und Hypochondrie. Aus der Tatsache, daB eine umfassendere monographische Bearbeitung der depres siven Syndrome im Kindesalter im Gegensatz zu der fast 'untiberschaubaren Literatur tiber das depressive Syndrom bei Erwachsenen (HIP PIUS h. SELBACH, 1969) oder der Schizophrenie im Kindes- und J ugendalter (LUTZ, 1937; SPIEL, 1961; WIECK, 1965) bisher nicht bekannt wurde, konnte der SchluB gezogen werden, daB depressive Ver stimmungszustande im Kindes- und Jugendalter nicht vorkommen. Das trifft jedoch nicht zu. - 1m Gegensatz zu den sparlichen Hinweisen in der kinder- und jugendpsychiatri schen Standardliteratur sind im in- und auslandischen Schrifttum zahlreiche Arbeiten bekannt, die sich mit verschiedenen Aspekten depressiver Syndrome des Kindesalters beschaftigen. Diese beschrank-en sich jedoch fast ausschlieBlich auf eine Beschreibung 2 Einleitung der Symptomatik, der Genese und der Therapie einzelner Falle (SPERLING, 1959; TOOLAN, 1962; GLASER, 1966) oder aber auf zusammenfassende Untersuchungen (v. BAEYER, 1969) oder Dbersichten tiber ihre Haufigkeit (WEBER, 1968; SPIEL, 1969), ihre Erscheinungsbilder (DESTUNIS, 1961; STUTTE, 1963) und ihre Behandlung (KUHN, 1963). Der vorliegenden Untersuchung lag der Plan zugrunde, auf dem Boden einer kinderpsychiatrisch orientierten Entwicklungspsychologie eine Darstellung der Symptomatik langdauernder depressiver Verstimmungen und Stimmungsschwan kungen in verschiedenen Entwicklungsstufen im Kindes- und Jugendalter zu geben, den Versuch einer syndromatisch-diagnostischen und syndromatisch-nosologischen Klassifikation depres siver Verstimmungen dieser Altersgruppen zu unternehmen und Beziehungen zwischen einzelnen depressiven Syndromen zu psychischen und psychosomatischen Leitsymptomen und Symptomkombinationen zu untersuchen, Erkenntnisse tiber die Pathogenese depressiver Verstimmungen anhand milieureaktiver, erbgenetischer, somatischer und endogener Faktoren zu gewinnen und schlieBlich durch Erhebung von Katamnesen die Prognose dahingehend zu klaren suchen, ob und in welchem Umfang diese frtihen depressiven Gemtitsverstimmungen Vorstufen depressiver oder anderer psychiatrischer Erkrankungen des spateren Lebensalters darstellen. 2. Zur psychischen Entwicklung Dieses Kapitel einer kinderpsychiatrisch orientierten Entwicklungspsychologie des Kindes, die in ihren Entwicklungsstadien sowohl biologische und somatische wie tiefen psychologische und soziologische Aspekte berucksichtigt, dient im Rahmen dieser Unter suchung in erster Linie einem praktischen Bedurfnis. Es solI bei der Vielzahl entwick lungspsychologischer Systeme einen einheitlichen Orientierungs- und Bezugsraster fur das Entstehen und Werden, das Bestehen oder Vergehen depressiver Storungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter abgeben. Noch starker als in der Psychologie und Psychiatrie des Erwachsenen mit seinen lebensgeschichtlichen und generationsspezifischen Konflikten und Erkrankungen kommt dem alters- und entwicklungspsychologisch bedingten "Zeit/aktor" (TRAMER, 1949) bei Kindern fur die Entstehung und Ausgestaltung psychopathologischer Symptome eine formal und inhaltlich pragende Rolle und eine besondere prognostische Bedeutung zu. Die altersspezifischen Formen und kindereigentumlichen Inhalte der Symptomatik lassen eine einfache transformierende Deduktion typischer depressiver Symptome und Syndrome des Erwachsenen auf das Kind ebensowenig zu wie die anderer Erkran kungen des Erwachsenenalters auf Kinder. Das Kind ist weder physisch noch psychisch ein proportioniert verkleinerter Erwachsener, sondern ein Wesen eigener, vornehmlich durch die psychophysische Entwicklung bedingter Gesetzmagigkeiten. Mit zunehmen der Erforschung der psychischen Entwicklung des Kindes-und Jugendalters und seinen krankhaften Storungen und Abweichungen wird auch die Psychiatrie des Erwachsenen alters aus dem Sein und dem Sosein psychopathologischer Syndrome bei Kindem neue Erkenntnisse gewinnen. Die von verschiedenen Standorten ausgehenden Hypothesen und Theorien der Entwicklungspsychologie verfolgen Gesichtspunkte der Stu/enlehre (HETZER, 1936; KROH, 1926) oder des Gestaltwandels (ZELLER, 1936), der spiraligen Entwicklung in Intervallen (BUHLER, 1928; BUSEMANN, 1950; GESELL, 1940), der Differenzierung und Strukturierung (WERNER, 1953), der Schichtung (HARTMANN, 1933; ROTHACKER, 1947) oder des Signalsystems (PAWLOW, 1953). Bevor und seitdem FREUD sein teilweise heute noch ,gultiges psychoanalytisches Konzept der infantilen Libido entwickelte, gab und gibt es zahlreiche Ansatze und Theoriebildungen zu einer allgemeingultigen Entwicklungspsychologie. Sie bedeuten mit ihren Erganzungen aus biologischer, padagogischer, soziologischer, phylogenetischer und physiologischer Sicht aIle eine wesentliche Bereicherung unserer Kenntnisse. Fur die Diagnose, die Prognose und die Therapie sowohl der physiologischen psychischen Anpassungsschwierigkeiten als auch der neurotischen Verhaltensstorungen des Kindes haben sich die tie/enpsychologischen Position en und Behandlungsgrund satze vielfach als besonders nutzlich erwiesen. Durch den Zuwachs an Erkenntnissen der neurosenpsychologischen Forschung, Ferner durch Direktbeobachtungen von Saug-