Hillel Jaide, DDR-Jugend Barbara Rille Walter Jaide DDR-Jugend Politisches Bewußtsein und Lebensalltag Leske + Budrich, Opladen 1990 ISBN 978-3-8100-0848-0 ISBN 978-3-322-93750-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93750-6 © 1990 by Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Vorwort Mit diesem Sammelband wird die Reihe der Veröffentlichungen aus der Forschungsstelle für Jugendfragen fortgesetzt, die sich seit 22 Jahren in zahlreichen Projekten kontinuierlich mit der Situation der Jugend in bei den deutschen Staaten befaßt hat. Er präsentiert Überblicke über jugend relevante Forschungen in beiden deutschen Staaten, Ergebnisse spezieller empirischer Untersuchungen und Problemanalysen zu zentralen Themen bereichen. Als Autoren/innen sind Wissenschaftler/innen der For schungsstelle und anderer Institutionen beteiligt. Der vorliegende Band ist ein wichtiges Zeitdokument, denn er markiert die Situation und die Entwicklungen bis zum politischen Umbruch in der DDR. In den vergleichenden Analysen zur Situation Jugendlicher in bei den deutschen Staaten vermittelt er darüber hinaus konkrete Ansatz punkte für den Prozeß der politischen und gesellschaftlichen Annäherung, der alle Lebensbereiche tangiert. Das Gelingen des Vereinigungs- und Demokratisierungsprozesses wird künftig wesentlich davon abhängen, wieweit er von der jungen Generation -speziell in der (bisherigen) DDR - getragen wird. Dieser muß auch künftig wissenschaftlich begleitet werden. Die Herausgeber Hannover, im Januar 1990 Barbara HUle Walter Jaide Inhaltsverzeichnis Barbara Bille Jugendforschung und Probleme des Jugendalters in beiden deutschen Staaten. Eine Einführung in den Sammelband .............................................................. 9 Zentrale Lebens-und Aufgabenbereiche von Jugendlichen in beiden deutschen Staaten ..................................................................... 15 Barbara Bille Zum Stellenwert von Ehe und Familie für Jugendliche in beiden deutschen Staaten .............................. _. ............................................................. 17 Barbara Bille Jugend und Beruf in beiden deutschen Staaten ........................................... .37 Walter Jaide Freizeit der Jugend im doppelten Deutschland ............................................ 75 Reinhard Koch Partnerwunschbilder -Alltägliche Persönlichkeitsmodelle. Ein Beitrag zum "common sense" junger Leute in beiden deutschen Staaten ............................................................................................ 108 Reinhard Koch Der Alltag von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wissensoziologische Analyse von Ratgeberrubriken in Jugendzeitschriften der DDR ........................................................................ 126 Susanne Weigandt Sexualität -Partnerschaft -Kinderwunsch. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung bei weiblichen Lehrlingen in Rostock .................................................................................... 163 Problemfelder und Konflikte bei speziellen Jugendpopulationen ................................................................................... 177 Walter Jaide System und Bewegungen in beiden deutschen Staaten .............................. 179 Carola Becker Umweltgruppen in der DDR ......................................................................... 216 Johannes Lohmann und Reinhard Koch Junge Gemeinde in Mecklenburg 1983 ........................................................ 248 Barbara Hille Weibliche Jugend in der DDR ...................................................................... 251 Amold Freiburg Schüler, Ordnung und Disziplin. Deutsch-deutsche Fakten und Überlegungen zur Erziehung und zum Schulalltag ........................................................................................ 276 Amold Freiburg Lehrlinge und Lehrlingsprobleme in der DDR .......................................... 323 Gerda Freiburg Integration und Integrationsprobleme behinderter Jugendlicher in der DDR ...................................................................................................... 343 Staatliche Maßnahmen ............................................................................. 355 Julius Hoffmann Jugendhilfe in beiden deutschen Staaten ..................................................... 357 Statistische Daten ....................................................................................... 391 Amold Freiburg Die Kinder-und Jugendbevölkerung der DDR im Spiegel statistischer Daten ........................................................................................... 393 Autoren ........................................................................................................... 411 8 Barbara Hille Jugendforschung und Probleme des Jugendalters in heiden deutschen Staaten. Eine Einführung in den Sammelband. Als im Jahre 1975 erstmals ein Sammelband aus der Forschungsstelle für Jugendfragen in Hannover zum Thema: "Jugend im doppelten Deutsch land" (herausgegeben von Walter J aide und Barbara Hille; zunächst als besonderes Heft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho logie, 1975; Heft 3; danach als Buch: Opladen: Westdeutscher Verlag 1977) publiziert wurde, waren Materiallage und Informationsstand über die Situation der Jugendlichen in der DDR noch außerordentlich lücken haft - und zwar in beiden deutschen Staaten. Wenn sich zum Ende des Jahres 1989 erneut ein Sammelband schwerpunktmäßig mit der Situation der Jugendlichen in der DDR, zur Hälfte mit Vergleichen zur Bundesre publik Deutschland, befaßt, so ist die Ausgangslage in vieler Hinsicht ver ändert. In der Zwischenzeit wurden - was die Forschungslage betrifft -, vor nehmlich unter Federführung des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, in der DDR mehrere Jugenduntersuchungen, meist im Rahmen umfangreicher Längsschnitt- bzw. Intervallstudien, durchgeführt. Deren Ergebnisse wurden in einer größeren Zahl von Veröffentlichungen teil weise publiziert. Systemkritische Fragen und Ergebnisse blieben jedoch unter Verschluß. Das gilt vor allem für die untersuchten politischen Ein stellungen von Jugendlichen, die nur verschlüsselt und in Segmenten ver öffentlicht werden. Politisch oppositionelle Meinungsäußerungen und -de monstrationen können im Rahmen der bisherigen Jugenduntersuchungen nur schwer ermittelt werden. Das liegt auch daran, daß öffentliche Kritik und politische Opposition lange Zeit nur von zahlenmäßig kleinen, enga gierten Gruppen artikuliert und getragen wurden. Unter den Systembe dingungen der DDR waren solche Gruppen bzw. Zirkel meist in sich ge schlossen und von außen her nur schwer zugänglich und im Mitgliederbe stand schwankend. Sie ließen sich mit den üblichen Befragungen, die auf die Mehrheit der Jugendbevölkerung gerichtet sind, nur schwer erfassen. Dazu trug die bevorzugt verwendete Fragebogenmethode mit meist vor formulierten Statements und Anwortvorgaben bei, die nur wenig Raum gaben für politisch abweichende Meinungsäußerungen. Hierin zeigen sich allerdings auch generelle Grenzen der bisherigen (auch der westlichen) Jugendforschung, wenngleich in der westlichen Forschung eher kontro- 9 verse Fragen und zunehmend qualitative Erhebungsmethoden, die sich auf spezielle Zielgruppen orientieren, eingesetzt werden (z.B. biographische Methode, Alltagsforschung). Bezogen auf die DDR mußten bisher sämtliche verfügbaren Informa tionen und Nachrichten aus sehr unterschiedlichen (nicht allein wissen schaftlichen) Veröffentlichungen, Expertengesprächen und persönlichen Eindrücken aufgenommen werden, um zu einer sachgerechten und reali tätsbezogenen Einschätzung zu gelangen. Das gilt besonders für die Ana lyse abweichender Entwicklungen im Jugendalter und speziell von politi scher Opposition. Dieser Sammelband erscheint in einer Zeit der Unruhe und des Wan dels in der DDR-Bevölkerung, speziell der Jugend, in einer Situation, die Veränderungen in Einstellungen und Verhaltensweisen manifestiert bzw. mit sich bringt, die synchron schwer abzuschätzen sind und manche bis herige Meinungsposition der DDR-Forschung in Frage stellen. Die Mehrzahl der Beiträge wurde zum Herbst 1989 abgeschlossen, d.h. während der Sammlung der zahlreichen Bewegungen (z.B. Neues Forum), der plötzlich und massiv einsetzenden Umbruchsituation in der DDR, der Massenflucht von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der sich auswei tenden, politisch motivierten Massendemonstrationen innerhalb der DDR für Demokratie, Pluralismus, Freiheit, sowie für Freizügigkeit des Reisens u.a.m. Wissenschaftler der Forschungsstelle für Jugendfragen hatten Ge legenheit, die Situation kurz zuvor sowie während der Demonstrationen und Diskussionen vor Ort zu erleben. Das erleichtert eine aktuelle Ein schätzung. Zugleich sind die hier vorgelegten langfristigen Beobachtungen und systematischen Analysen unerläßlich, um die aktuellen Entwicklungen in ihrem Stellenwert, ihrem Ursprung und Ursachenzusammenhang und in ihrem weiteren Verlauf adäquat einschätzen zu können. In Zeiten einer solchen politischen Instabilität bzw. des Umbruchs stellt sich die Frage nach Kontinuität oder Wandel innerhalb der Jugendbe völkerung der DDR besonders dringlich. Die langfristigen Recherchen der Forschungsstelle für Jugendfragen erweisen sich in dieser Situation als hilfreich, weil damit die gegenwärtigen Ereignisse und deren Wirkungen vor dem Hintergrund langfristiger Trends eingeschätzt werden können. Der Blick muß sich dabei zunächst auf die Mehrheit der Jugendlichen richten, auf deren spezielle Lebensbedingungen und deren Einstellungen und Interessen. Wie weit bewältigen sie die in diesem Lebensalter zentra len Aufgaben der schulischen und beruflichen Qualifikation und Integra tion, der Partnerwahl und Familiengründung - neben der Mitwirkung in den gesellschaftlichen und politischen Organisationen? Welche Verände rungen zeichneten sich im Verlaufe der letzten ca. 20 Jahre ab? Es ist zu erwarten, daß zentrale Werte wie Beruf und Familie bei der Mehrzahl der Jugendlichen ihre hohe Wertschätzung behalten, so daß aktuelle Konstel- 10 lationen, Veränderungen und Problemverschleppungen in den politischen, ökonomischen, sozialen Lebensbedingungen bei dieser Mehrheit keine eklatanten Veränderungen bewirken. Aber wieweit vollzieht sich dennoch ein Wandel in der konkreten Realisierung dieser Werte? Wie entwickelt sich die Differenz zwischen praktischer Anpassung und mentalen Vorbe halten? Wie wirken die Minderheiten der Bewegungen durch ihre Darstel lungs- und Mobilisierungsformen auf längere Sicht auf größere Bevölke rungsanteile? Wie die "Republikflüchtlinge" durch ihr Verhalten? Lassen sich dazu im intersystemaren Vergleich systemübergreifende Problemlagen für Jugendliche und jugendspezifische Reaktionsformen und Lösungsstrategien feststellen? Und wieweit erlauben sie Prognosen für die Zukunft? Eine vergleichende empirische Jugendforschung, an der Wissenschaftler und Jugendliche in Ost und West beteiligt sind, könnte hierzu in Zukunft wichtige Aufschlüsse geben. Neben den Forschungsmethoden bleibt bislang auch die Theorienbil dung ein Desiderat speziell der Jugendforschung in der DDR. Selbst die westlichen Jugendtheorien vermögen nicht, die Themenvielfalt und die Heterogenität der Daten in ein zusammenfassendes, integriertes, über prüfbares Konzept zu fassen. Denjenigen Wissenschaftlern, die daran Kritik üben, ist es ebenfalls nicht gelungen, diese aus ihrer Sicht erforder liche theoretische Aufbereitung zu leisten (vgl.Hille 1983). Im vorliegenden Sammelband wird auf einen solchen Versuch verzich tet und statt dessen nur eine definitorische Kennzeichnung des Jugendalters, die auf Jugendliche beider deutscher Staaten zutrifft, vorangestellt. Das Jugendalter zählt -seit man sich mit "Jugend" wissenschaftlich beschäftigt - zu den besonders konfliktträchtigen Phasen im Lebenszyklus. Das gilt für das Verhältnis zu den eigenen Eltern und Verwandten, mehr noch zu den Erwachsenen als Repräsentanten der außerfamilialen Instanzen (Schule, Betrieb, Organisationen, Institutionen, Kultur und Politik). Diese Welt ist für die Jugendlichen in den letzten hundert Jahren zunehmend und rasch komplizierter geworden. Die Ansprüche haben sich gewandelt und dabei zugenommen, und sie sind vielfältiger geworden im zum Teil antagonistischen Pluralismus der Milieus und Systeme, in denen Jugendli che aufwachsen oder von denen sie erfahren. Somit bewegt sich das Hin einwachsen in die Erwachsenengesellschaft zwischen Integration -Anpas sung -Kompromiß -Gegenposition -aktiver Opposition (mit vielen Spiel arten und Konsequenzen) (vgl. Jaide/Hille 1977). Das gilt vor allem in den westlichen Demokratien. Unter den Systembedingungen der DDR waren bisher die Möglichkei ten der Distanz und der kritischen Reaktion und Artikulation eng be grenzt. Am Beispiel oppositioneller Gruppen innerhalb und im Umfeld der Evangelischen Kirche der DDR wird das verdeutlicht (s. hierzu die Kapitel: "System und Bewegungen" und "Umweltgruppen" in diesem 11 Band). Für die Jugendlichen in der DDR ist die Jugendphase im Ver gleich zur Bundesrepublik Deutschland bislang zeitlich relativ eng be grenzt gewesen. Ein langfristiges Moratorium für Erziehung, Reifung und Bildung war nicht vorgegeben. Es handelt sich vielmehr um eine ver gleichsweise kurze Statuspassage vom Kind zum Erwachsenen. Dabei wurde der Jugend prinzipiell kein sozialer Sonderstatus zuerkannt, son dern sie wurde als Teil der sozialen Klassen und Schichten innerhalb der sozialistischen Gesellschaft defIniert. Dennoch sind im Jugendalter viel fältige spezielle Aufgaben zu bewältigen, wie sie z. B. das Jugendgesetz (1974) ausführlich festlegte und sanktionierte: Schulabschluß, Berufsvor bereitung und -einmündung, Mitarbeit im Jugendverband, Partnerwahl und Familiengründung, gesellschaftliche und politische Aufgaben und Pflichten. Für die meisten Jugendlichen ist die Berufsausbildung bislang mit ca. 18 Jahren nach zehnklassiger Polytechnischer Oberschule und zweijähriger Lehre abgeschlossen. Für die männlichen Jugendlichen folgt der Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA). Wenn üblicherweise der Abschluß der Berufsausbildung und der Eintritt in die Erwerbstätig keit sowie die FamiliengrÜDdung als Kriterien für den Abschluß der Ju gendphase bzw. den Beginn des Erwachsenenstatus angenommen werden, so ist dieser Zeitpunkt für die meisten Jugendlichen in der DDR bereits zwischen dem 23. und 25. Lebensjahr erreicht. Damit wurden ihnen früh zeitig weitreichende Pflichten auferlegt, jugendliche Unruhe und Varianz wurde gedämpft und kanalisiert. Immerhin lassen sich auch in der DDR bereits seit längerem jugendliche "Subkulturen" in einer alternativen Ju gendszene und in speziellen Gruppen und Bewegungen erkennen. Außer dem weitet sich die Jugendphase im Zuge längerfristiger Qualiftkationen insbesondere bei Studenten/innen aus. Die für viele erforderliche berufli che WeiterqualifIkation im Erwachsenenalter sowie die häufIgen Ehe scheidungen und Wiederverheiratungen konterkarieren zudem die früh zeitige Regelung der persönlichen Lebensverhältnisse. In westlichen Gesellschaften bzw. der Jugendforschung wird das Ju gendalter als eine Lebensphase akzeptiert, in der vieles noch nicht festge legt wird, das Experimentieren mit verschiedenen Lebens- und Denkfor men noch möglich ist, ebenso wie die Distanznahme zu und die kritische Auseinandersetzung mit den Lebensformen und Normen der Erwachsenen und den Werten des Gesellschaftssystems. Die Veränderungsprozesse in der DDR könnten zu einer Angleichung führen. Die Beiträge dieses Sammelbandes beleuchten unter verschiedenarti gen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden die hier kurz skiz zierten Aspekte und Fragen in bestimmten Problembereichen. Den Auto ren wurde dafür ausdrücklich viel Spielraum eingeräumt, um diese Vielfalt der Möglichkeiten der DDR-Forschung bzw. der Jugendforschung, aber auch die Desiderata deutlich zu machen. Inhaltlich wird der Blick sowohl 12
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