"Das Ziel der Wissenschaft ist also die Wahrheit: Wissenschaft ist Wahrheitssuche. Und wenn wir auch nie wissen können, ob wir dieses Ziel erreicht haben, so können wir dennoch gute Gründe für die Vermutung haben, daß wir unserem Ziel, der Wahrheit, nähergekommen sind". Aus: Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt (München 1984) 51f. I. AUFGABE UND METHODE 1. Einleitung Mehrere Wissenschaften tragen zu unserer Kenntnis vom Mittelalter bei. Hierzu zählt die Mittelalterliche Geschichte, der u.a. grundlegende Einsichten zu histori- schen Entwicklungsprozessen zu verdanken sind. Wichtige Beiträge zur Erfor- schung des Mittelalters leisten verwandte Fächer wie die Kunstgeschichte, die Historische Geographie und die Philologie, die - abhängig vom Charakter ihrer Quellen - unterschiedliche Aspekte des mittelalterlichen Lebens zu erschließen vermögen1. Trotz der Bedeutung dieser Fachwissenschaften lässt sich über deren Quellen das Mittelalter nicht in seiner ganzen Komplexität erfassen. Ein Entwicklungsstrang, der über diese Quellen nur silhouettenhart erfasst werden kann, betrifft das All- tagsleben breiter Bevölkerungsschichten. Nur für einen kleinen Teil der mittelalter- lichen Bevölkerung, bestehend aus Adel und Klerus, ist das tägliche Leben auch über diese Quellen zu erschließen. Unbefriedigend ist die Quellenlage der ange- führten Fachwissenschaften überall dort, wo das Leben einfacher Bevölkerungs- kreise erforscht werden soll. Diesem größten Teil der mittelalterlichen Bevölkerung gehörten rund 90 % aller Personen an, darunter vor allem die in der Landwirt- schaft, aber auch die im Handwerk2 tätigen Menschen. Ihre geringe Berücksichti- gung vor allem in den schriftlichen Zeugnissen3 liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass deren Tätigkeiten in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht die Bedeu- tung zukam, die es wert schien, über diese ausführlich zu berichten4. Erst für die jüngeren Phasen des Mittelalters und schließlich für die Neuzeit ermöglichen die 1 schriftlichen Quellen und eine zunehmende Anzahl an bildlichen Darstellungen umfassendere Einblicke in das Alltagsleben dieser Personengruppen. Fragestellungen etwa zur Lokalisierung von Produktionsplätzen, zur Größe und Struktur von Werkstätten, zur Art und zum Umfang der hergestellten Produkte sind über schriftliche Zeugnisse und bildliche Darstellungen des Mittelalters nicht umfassend zu beantworten. Neue Wege, um zu diesen Erkenntnissen zu gelan- gen, bietet seit einigen Jahrzehnten die Archäologie des Mittelalters5. Aufgrund ihrer Methoden und ihrer Quellen ist sie in der Lage, derartige Fragestellungen zum Alltagsleben im Mittelalter zu beantworten6. Anders als die Schriftquellen, die von Personen, Ereignissen und historischen Vorgängen berichten, überliefern die Ergebnisse der archäologischen Forschung ehemalige Zustände. Während den niedergeschriebenen und den bildlichen Quellen bestimmte Absichten zugrunde liegen, handelt es sich bei den Quellen der Archäologie um nicht intentionelle Geschichtsquellen, die - bei methodisch korrektem Vorgehen bei Ausgrabung und Auswertung - einen hohen Grad an "Objektivität" widerspiegeln. Die Archäologie des Mittelalters ist Teil einer modernen Geschichtsforschung, die diese mit eigenen Methoden ergründet. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie über- all dort, wo die Schriftquellen kein oder nur ein vages Bild ergeben, das historische Gesamtbild nach Verfügbarkeit der eigenen Quellen ergänzen kann7. Vor allem Themenbereiche, welche die Erforschung der Lebensumstände der Menschen zum Inhalt haben, können mit archäologischen Methoden beantwortet werden. Die Archäologie ist in der Lage, ehemalige Zustände festzustellen und über einen Vergleich von Zustandsbeschreibungen Veränderungen zu erkennen. Diese Veränderungen bilden die Grundlage dafür, Entwicklungen aufzuzeigen8. Zu Fragen des Siedlungswesens vermag die Archäologie auf diesem methodischen Weg ebenso grundlegende Beiträge zu liefern wie etwa zu Fragen der Landwirt- schaft, der Ernährung, des Handels und des Handwerks9. An diesen archäologischen Quellen orientiert sich die vorliegende Arbeit, die Einzelaspekte der mittelalterlichen Handwerkstopographie zum Inhalt hat. In den nachfolgenden Betrachtungen wird die 700 Jahre währende Zeitspanne zwischen 700 n. Chr. und 1400 n. Chr. behandelt. Grundlage der Ausführungen sind die archäologischen Befunde und Funde, die innerhalb des für diese Arbeit definierten Gebietes nachgewiesen werden konnten10. Noch vor einer Generation standen nur wenige dieser Befunde zur Verfügung, welche die Quellenbasis dieser Arbeit bilden. Erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich der Bestand an 2 auswertbaren Befunden zur Handwerksgeschichte durch die starke Zunahme an Ausgrabungen und (meist vorläufigen) Veröffentlichungen stark vermehrt. Durch diesen quantitativen, vor allem aber durch den qualitativen Zuwachs an archäolo- gischen Quellen soll in dieser Arbeit erstmals der Versuch unternommen werden, handwerkstopographische Fragestellungen zu formulieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Bei den Erkenntnissen, die sich aus der Diskussion einzelner Befunde ergeben, ist zu berücksichtigen, dass die archäologischen Quellen keinen unmittelbaren Zu- gang zum geschichtlichen Prozess gestatten11. Erst deren relative bzw. absolute Datierung und deren Einbindung in einen räumlichen und zeitlichen Kontext macht die ergrabenen Befunde zu Quellen der historischen Forschung. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass den Bodenfunden immer nur punktuelle Aussagen zum mittelalterlichen Leben abgewonnen werden können12. Die Ergebnisse der archäo- logischen Forschungen sind jedoch in der Lage - unabhängig von den Quellen der Mediävisten - Veränderungsprozesse aufzuzeigen und "... topographische Prob- leme zuverlässig (zu) lösen"13. Die schriftlichen14, aber auch die bildlichen Quellen15 zur Handwerksgeschichte können im Rahmen dieser Arbeit nur tangiert werden. Dem methodischen Ansatz dieser Studie entsprechend, sollen die archäologischen Handwerksquellen analy- siert werden16. Eine Übersicht zur Handwerkstopographie unter Heranziehung schriftlicher Belege, die vor allem ab dem 15. Jh. für eine zunehmende Anzahl an Städten möglich ist17, wird nicht angestrebt18. Befunde des mittelalterlichen Handwerks werden bei Ausgrabungen immer wieder nachgewiesen. Untersucht man die Veröffentlichungen im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der Gewerbe im wirtschaftlichen Gefüge des jeweiligen Ortes und der jeweiligen Zeit, so ist festzustellen, dass die meisten Publikationen - bei denen es sich oftmals um vorläufige Berichte handelt - Fragen der mittelalterlichen Handwerkstopographie nicht berücksichtigen. Nur selten wird in diesen Arbeiten der Versuch unternommen, die Befunde in einem größeren handwerksgeschichtli- chen Kontext einzubetten und mögliche topographische Entwicklungen aufzuzei- gen19. Diese immer wieder gemachte Beobachtung bildet eine grundlegende Voraussetzung für diese Arbeit. In ihr soll der Versuch unternommen werden, auf einer möglichst umfangreichen Datenbasis handwerksgeschichtlich relevante Zusammenhänge zu erarbeiten, die auf der Grundlage vereinzelter Befunde nur schwer zu erkennen sind. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Befunde aus 3 einem definierten Arbeitsgebiet, das als Basis dieser Studie dient, systematisch zusammengetragen worden. Grundlage des auswertenden Teils der Arbeit ist die bis Sommer 1998 veröffentlichte Fachliteratur20. Diese Beiträge können immer nur so informativ und verlässlich sein wie die aus mehreren Jahrzehnten stammenden Ausgrabungsbefunde und deren Interpretation, die unter unterschiedlichen Rah- menbedingungen dokumentiert und publiziert wurden und die unter dem Einfluss zeitgeschichtlicher Strömungen veröffentlicht worden sind21. Angesichts dieser Determinanten ist im Planungsstadium der Arbeit der Ent- schluss gefasst worden, die Handwerksbefunde, die sich aus der Literatur des Arbeitsgebietes ergeben, nach einzelnen Qualitätskriterien zu ordnen und zu bewerten22. Damit soll vermieden werden, dass Befunde, deren Qualitätsmerkma- le stark voneinander abweichen, gleichwertig bewertet werden. Die einzelnen Handwerksbefunde werden im Katalogteil der Arbeit (Teil II)23 alphabetisch nach Fundstellen zusammengetragen und beschrieben. Im Anschluss daran werden diese nach Bundesländern/Kantonen und Handwerkszweigen aufgeschlüsselt24. Im Textteil werden die für die Beurteilung relevanten Befunde beschrieben und für die spezifischen Fragestellungen dieser Arbeit ausgewertet. Um unterschiedliche Befundqualitäten beurteilen zu können, ist jeder Handwerksbefund einer Quali- tätsgruppe (A1, A2, A3, B) zugeordnet worden. Diese Herangehensweise wurde gewählt, um eine relative Vergleichbarkeit der Befunde zu erreichen. Damit soll eine tragfähige Arbeitsbasis für die Beantwortung der Fragestellungen geschaffen werden. Der Ansatz dieser Studie deckt sich mit dem Vorschlag von W. Janssen, "... die erarbeiteten Funde und Befunde, die uns in gesicherter Form vorliegen, auf wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen hin neu ..." zu befragen und auszuwer- ten25. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, auf der Basis der Grabungsbefunde neue Erkenntnisse zur Topographie handwerklicher Produktionsplätze vom 8.-14. Jh. zu gewinnen26. Diese systematischen Analysen werden für die Befunde des herstel- lenden mittelalterlichen Handwerks durchgeführt. Berücksichtigt werden Hinweise auf die Herstellung von Keramik, auf die Verarbeitung von Glas und Metallen (Eisen, Bunt- und Edelmetalle), auf Textilherstellung, auf Verarbeitung von Holz und tierischer Produkte wie Knochen, Geweih, Horn und Leder27. Das Bauhand- werk28 bleibt, da es den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen würde, ebenso außerhalb der Betrachtung wie die Erzeugung von Nahrungsmitteln. Als Sied- lungsformen des Mittelalters wird in dieser Studie zwischen dem ländlichen Sied- lungsraum, Burgen, Klöstern, "Siedlungsagglomerationen vor der Epoche der 4 Städte"29 und Städten unterschieden. Die Zuordnung der Handwerksbefunde zu den Siedlungsformen soll im Idealfall zu Erkenntnissen führen, die es ermöglichen, einzelne Aspekte der mittelalterlichen Handwerkstopographie zu beantworten. 5 2. Forschungsgeschichte und Forschungsstand "Vergleichende, weite Räume oder Epochen übergreifende Arbeiten oder solche, die unter Einbeziehung der Schriftquellen Aussagen zur Wirtschafts- und Sozial- geschichte zum Ziele haben, sind noch relativ selten"30. Diese Beschreibung des Forschungsstandes, die auch für die archäologische Erforschung des mittelalterli- chen Handwerks in vollem Umfang zutrifft, zog G.P. Fehring anlässlich eines Kolloquiums im Jahre 1990, das Aufgabenstellungen und die Zielsetzungen der Archäologie des Mittelalters thematisierte31. Die Anfänge der archäologischen Forschungstätigkeit zum mittelalterlichen Hand- werk reichen bis in das letzte Drittel des 19. Jh. zurück32. In den 40er Jahren des 20. Jh. begannen die langjährigen Forschungen von H. Jankuhn in dem Ostsee- Handelsplatz Haithabu. Dabei wurden schon früh Rohlinge, Halbfabrikate und, Produktionsausschuss und -abfall in großer Menge geborgen, die auf die Aus- übung handwerklicher Tätigkeiten hinwiesen33. Trotz der Kenntnis derartiger Befunde und Funde wurden Fragen nach den Aussagemöglichkeiten der Werk- stattabfälle kaum gestellt. Wesentlich häufiger beschäftigte sich die Forschung dagegen mit Fragen nach den verhandelten Produkten und nach den aus den Funden erschlossenen Handelsverbindungen. Erste Ansätze, handwerksgeschichtliche Zusammenhänge zu einzelnen Material- gruppen aufzuzeigen, gehen auf P. Grimm, einen der Pioniere der archäologi- schen Dorf- und Pfalzenforschung in Mitteleuropa, zurück. Im Jahre 1972 wies er in einem Beitrag auf die Bedeutung des Handwerks und des Handels am Beispiel der Befunde der Pfalz Tilleda hin34. In einem übergreifenden Beitrag zum Hand- werk im mittelalterlichen Westfalen stellte W. Winkelmann 1977 herausragende Handwerksbefunde aus dem westfälischen Raum zusammen35. Im Gegensatz zu Grimm, der sich auf die umfangreichen Handwerksbefunde seiner Plangrabungen in Tilleda beschränkte, trug Winkelmann als erster Wissenschaftler die Befunde verschiedener Grabungsplätze zusammen und verglich diese miteinander36. In demselben Jahr erschien ein kleinerer Beitrag von W. Janssen, in dem erstmals auf die grundsätzliche Bedeutung der archäologischen Quellen bei der Erfor- schung gewerblicher Produktionsstätten im ländlichen Siedlungsbereich während des Mittelalters aufmerksam gemacht wurde37. Den in den späten 70er Jahren erreichten Forschungsstand fasste H. Jankuhn zusammen. Er stellte fest, dass 6 "die Entwicklung des Handwerks, seiner Abgrenzung gegen das Hauswerk und seine Eingliederung in das Leben der agrarisch strukturierten Gesellschaft Mittel- europas ... von der archäologischen Forschung bisher überhaupt nicht beachtet worden (ist), obwohl diese Forschung durch fast jedes Stück, das sie dem Boden entnimmt, darauf gestoßen wurde"38. Die zunehmende Etablierung der Mittelalter-Archäologie innerhalb der Boden- denkmalpflege führt seit etwa zwei Jahrzehnten dazu, dass die Zahl der Hand- werksbefunde aus mittelalterlicher Zeit stark angestiegen ist. Die Bedeutung, die wirtschafts- und handwerksgeschichtlichen Fragestellungen des Mittelalters auch von Seiten der Ur- und Frühgeschichte zugemessen wird, belegt eine Äußerung des Frühgeschichtlers R. Christlein, der bereits 1981 auf die "... wachsende Be- deutung (der) ... Untersuchungen an gewerblichen und industriellen Anlagen ..." des Mittelalters und der Neuzeit hinwies39. Meilensteine bei der Erforschung des mittelalterlichen Handwerks in den 80er Jahren bilden drei übergreifende Beiträge zum mittelalterlichen Handwerk, in denen W. Janssen zum Teil europaweit hand- werksgeschichtlich relevante Befunde zusammenstellte, diskutierte und diese in einen historischen Kontext stellte. Diese Beiträge stellen für die vorliegende Arbeit wichtige Grundlagen dar. 1983 erschienen die beiden ersten Beiträge von W. Janssen in einem Göttinger Kongressbericht. Die erste Arbeit beschäftigte sich mit der Bedeutung des Hand- werks in und bei mittelalterlichen Burgen40. Janssen kommt dabei zu dem Ergeb- nis, "daß im Zusammenhang mit Burgen sowohl vielfältige Handwerke im Rahmen des Hauswerks nachzuweisen sind als auch Handwerk im Sinne der Über- schußproduktion anzutreffen ist ..."41. In demselben Kongressband behandelte Janssen die Bedeutung des mittelalterlichen Handwerks im ländlichen Siedlungs- raum42. Schwerpunkte dieser Arbeit bilden Befunde, die eine Herstellung bzw. Verarbeitung von Glas, Eisen sowie Keramik bezeugen. Der Autor unterschied dabei zwischen großen ländlichen Gewerbegebieten, die bei den Siedlungen selbst angelegt wurden (Typ 1), und solchen, die sich außerhalb der Siedlungen (Typ 2) befanden. Die dritte Übersichtsarbeit von Janssen aus dem Jahr 1986 behandelte Handwerksbefunde aus hochmittelalterlichen Städten Europas. Das in dieser Arbeit aufgeführte Spektrum umfasst Materialgruppen, aber auch verschie- dene Tätigkeitsbereiche wie die Buchbinderei oder den Schiffsbau, zu denen die Archäologie Beiträge liefern kann43. 7 Im Jahr 1986 folgte eine Monographie von H. Roth unter dem Titel "Kunst und Handwerk im frühen Mittelalter". Ein 1988 veröffentlichter Kongressbericht zum Thema "Handwerk und Sachkultur im Spätmittelalter"44 enthält drei impulsgebende Textbeiträge zum Thema dieser Studie. Aus dem Jahr 1995 stammen drei wichti- ge Textbeiträge, von denen sich einer auf den bearbeiteten Raum bezieht. Eine dieser Übersichten, die von P. Donat stammt, behandelt das Handwerk in slawi- schen Siedlungsgebieten45. Der Autor kam zu dem Ergebnis, dass sich in den frühstädtischen Handelssiedlungen an der Ostsee "... vor allem mit der Geweih- und Bernsteinverarbeitung eigenständige Produktionsbereiche entwickelt (haben) ... In die dörflichen Siedlungen gelangten Erzeugnisse des Handwerks in größe- rem Umfang erst seit dem 11. Jahrhundert"46. Bei der zweiten Veröffentlichung aus dem Jahr 1995 handelt es sich um eine Übersicht von J. Callmer, in der die Handwerksproduktion im südostskandinavischen Raum thematisiert wird47. Den 1995 erreichten Forschungsstand umreißt ein weiterer Beitrag von W. Jans- sen. Darin brachte er das in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Selbst- verständnis der Archäologie des Mittelalters zum Ausdruck. Janssen wies mit Recht darauf hin, dass bis heute in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur "... die Rolle der Archäologie für die ältere Wirtschaftsgeschichte oft falsch eingeschätzt oder überhaupt nicht erkannt wird"48. Die Archäologie des Mittelalters ist heute, so Janssen, "... nicht mehr nur, wie früher, als Randerscheinung der etablierten Wirtschaftsgeschichte zu sehen, sondern sie ergänzt ... die Geschichtswissen- schaft überall dort, wo diese an Quellen selbst oder an deren Interpretierbarkeit Mängel leidet"49. Abschließend ist der 1997 ins Leben gerufene "Arbeitskreis zur archäologischen Erforschung des mittelalterlichen Handwerks" zu nennen, dessen erster Band 1999 herausgegeben wurde50. Von Bedeutung ist vor allem der einleitende Beitrag von R. Röber, der sich anhand ausgewählter Beispiele mit historischen und ar- chäologischen Quellen und deren Aussagemöglichkeiten bei der Erforschung der Topographie des städtischen Handwerks in mittelalterlicher Zeit befasste51. Dieses handwerksgeschichtliche Kolloquium, das im Frühjahr 2000 zum vierten Mal abgehalten wurde, dokumentiert die gewachsene Bedeutung, die der Erforschung des mittelalterlichen Handwerks von Seiten der Archäologie des Mittelalters zu- gemessen wird. Im folgenden wird der Publikationsstand zu den einzelnen Materialgruppen, die in dieser Arbeit thematisiert werden, abrissartig aufgezeigt. Produkte aus Keramik stellen die am häufigsten angetroffene Materialgruppe bei Ausgrabungen 8 dar. Während die Publikationen zur Keramikforschung nur noch unter großem zeitlichen Aufwand zu überblicken sind, sind die wichtigsten Publikationen zu Töpferöfen, Fehlbränden und zugehörigen Tonentnahmestellen trotz einer deutli- chen Zunahme an Befunden in den vergangenen Jahren noch einigermaßen überschaubar. Grundlegende Arbeiten zu der im Mittelalter bedeutenden Töpfer- landschaft im Rheinland wurden in den 50er Jahren von W. Lung veröffentlicht52. Jüngere Publikationen, bei denen es sich meist um regionale Übersichten handelt, stammen von A. Jürgens53, J. Hähnel54, W. Janssen55, M. Rech56, H.-G. Stephan57 und G. Mangelsdorf58. Zwei Publikationen von R. Röber und U. Gross, die kurz vor der Fertigstellung dieser Arbeit veröffentlicht wurden, thematisieren erstmals Fragen nach der Topographie mittelalterlicher Töpferwerkstätten im städtischen Umfeld59. Zum knochen- und geweihverarbeitenden Handwerk sind in den letzten Jahren die ersten regionalen Übersichten erschienen. In zwei größeren Beiträgen trug U. Lehmkuhl Befunde und Funde dieses Handwerkszweiges für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zusammen60. Eine Übersicht zu den baden- württembergischen Befunden und Funden wurde 1995 von R. Röber erstellt61. Zwei grundlegende Publikationen, welche die Bedeutung dieses Handwerkszwei- ges in Haithabu und Schleswig beleuchten und darüber hinausführende Ergebnis- se liefern, sind I. Ulbricht zu verdanken62. Unbefriedigend ist auch der Forschungsstand zu den Befunden der Gerberei und der Lederverarbeitung. Eine erste Zusammenstellung der Gerbereien und der lederverarbeitenden Befunde, die den Forschungsstand der 80er Jahre widerspie- gelt, enthält ein Beitrag von W. Janssen63. Aussagekräftige Befunde von Gerbe- reien, die in den vergangenen Jahren vermehrt ausgegraben wurden, sind häufig in regionalen Schriftenreihen erschienen, die über keine große Verbreitung verfü- gen. Als Beispiele seien Befunde aus Schaffhausen und Bamberg genannt64. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die grundlegende Arbeit von J. Cramer über Gerberhäuser, die 1981 veröffentlicht wurde. Wie vorsichtig bei der Interpretation von Gerberbefunden vorzugehen ist, konnte B. Scholkmann anhand der Interpretation eines Befundes aufzeigen65. Für die Lederverarbeitung liegen seit kurzem die ersten monographischen Vorlagen für das Arbeitsgebiet durch Chr. Schnack vor66. Diese Vorlagen ergänzen die langjährigen Studien von W. Groenman-van Waateringe, in denen in den vergangenen Jahrzehnten die Grund- lagen für die Erforschung dieser Materialgruppe gelegt worden ist. 9 Das textilverarbeitende Handwerk ist in den vergangenen Jahrzehnten nur selten Gegenstand übergreifender mittelalterarchäologischer Untersuchungen gewesen. In den meisten Fällen handelt es sich um einzelne herausragende Befunde, die im Zusammenhang größerer Veröffentlichungen bzw. in Vorberichten vorgestellt worden sind. Impulsgebend für die jüngere Forschung ist ein vielzitier- ter Beitrag von W.H. Zimmermann aus dem Jahr 198267. Eine 1987 erschienene Dissertation von I. Bollbuck behandelt Textilien aus merowingerzeitlichen Reihen- gräbern68. Eine neuere Übersicht zu "Textilfunden und Textiltechnologie", die ihren Schwerpunkt jedoch in der Eisenzeit hat, wurde 1996 von K. von Kurzynski veröf- fentlicht69. Zur mittelalterlichen Metallverarbeitung existieren nur wenige Übersichten. Mit den Schmiedegräbern der Wikingerzeit, die räumlich außerhalb des Gebietes dieser Arbeit liegen, hat sich M. Müller-Wille in den späten 70er und frühen 80er Jahren in zwei übergreifenden Beiträgen beschäftigt70. Für den kontinentalen Raum sind grundlegende Arbeiten von R. Pleiner71 und H. Drescher zu nennen72, die sich neben dem prähistorischen Metallhandwerk über Jahrzehnte hinweg immer wieder mit mittelalterlichen Befunden beschäftigt haben73. Diesen breit angelegten Forschungsansätzen und -ergebnissen können nur wenige neuere Studien zur Seite gestellt werden. Auf den schlechten Publikationsstand bei der Gewinnung und bei der Verarbeitung von Eisen wies F. Mahler in einer 1991 veröffentlichten Monographie über die Schmiede von Nußhausen hin. Er stellte fest, dass "ungeachtet einzelner Schwerpunkte "montanarchäologischer For- schung"74 mittelalterliche und neuzeitliche Produktionsstätten des eisenerzeugen- den und -verarbeitenden Gewerbes, so etwa Verhüttungsplätze, Eisenhämmer und Schmieden bundesweit bisher kaum untersucht" wurden75. Erst in den letzten Jahren scheint man sich diesem Themenfeld stärker zu widmen. Darauf weisen jüngere, regional ausgerichtete Untersuchungen von H.-G. Stephan76, G. Wacha77 und St. Krabath78 hin, die sich vor allem dem Buntmetallhandwerk zuwenden. Wenig befriedigend ist der Publikationsstand auch bei der Erforschung der glas- herstellenden und glasverarbeitenden Plätze des 8.-14. Jh. Wichtige Grundla- gen für diese Materialgruppe lieferte T.E. Haevernick, die sich zeitübergreifend mit Produkten aus Glas auseinandersetzte. Wertvolle Impulse zur Erforschung des mittelalterlichen Glases lieferte ein 1988 herausgegebener Ausstellungskatalog79. Aus dem Jahr 1991 stammt eine durch H. Horat zusammengestellte Übersicht wichtiger Befunde zum Glashandwerk80. Eine Auswahl wichtiger Forschungen im Arbeitsgebiet enthält ein 1992 in Baden-Württemberg abgehaltenes Kolloquium81. 10
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