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Das Unerhörte und das Unhörbare: Was Musik ist, was Musik sein kann PDF

328 Pages·2004·43.29 MB·German
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Christian Kaden Das Unerhörte und das Unhörbare Christian Kaden Unerhörte Das und das Unhörbare Was Musik ist, was Musik sein kann Bärenreiter Metzler Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Besuchen Sie uns im Internet: www.baerenreiter.com www.metzlerverlag.de Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und J. B. Metzler, Suttgart © 2004 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei Bärenreiter-Verlag KarlVötterle GmbH & Co. KG, Kassel 2004 ISBN 978-3-476-01984-4 (J. B. Metzler) ISBN 978-3-476-02943-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-02943-0 In Erinnerung an Lina und Martin, meinen »unmusikalischen« vater und die ebenso »unmusikalische« Gr<!ßmutter Inhalt Vorspiel auf dem Theater 8 s~ Der Rathausplatz von Siena: Stille Musik, Musik der Stille 11 Ketpt:te1;l Die Musik - gegen die Musiken. Logische und soziologische Grundlagen 19 Singularisierungszwänge 19 . Das musikalische Doppelleben der Suya-India- ner 21 . Wildes Denken 25 . Kadenz: Die »Musikpädagogik« der Temiar 31 . Zur Soziologie von Denk- und Verhaltensmustern 33 . Exkurs: Über soziale Kom plexität 35 Ketpt:te1; 2 Strategien des Außer-sieh-Seins und des Außer-sieh-Geratens. Musik in Ritualkulturen 40 Kunst der Ich-Stärke 40· Ekstase undTrance 42 .V ervielfältigte Wirklichkeit 45 . Verwandlung durch Überraschung: Der Singstreit der Inuit 48 . Fleischwerdung des Göttlichen: Der afro-brasilianische Kult des Candomble 52 . Liebschaften mit Allah: Musik der Sufis 59 Ketpt:te1; 3 Der altgriechische Weg. Musike und die Musen 67 Kurze Besinnung 67 . Eine neueV okabel 67 . Spezial-Nymphen 69 . Rehabilita tion eines »Irrtums«: Apollinisches und Dionysisches 72 . Musike, erneut be trachtet 77 . Harmonia 80 Ketpt:te1; tf An den Ursprüngen abendländischer Kultur. Der gebändigte Dionysos 85 Chor-Phantasien 85 . Theater, Welt-Theater 89 . Professionelle, Banausen, Glücks-Soldaten 93 . Ersatz-Gefechte: Einlassungen der Musiktheorie 100 . Das Handbuch eines Außenseiters 105 f V\tw~ Veu-Uitt"'L011/ Kaisergesänge, Kaiserwetter: Musik, nahe bei der Macht 111 Ketpt:te[,5 Kostbares Durcheinander. Musikanschauungen des Mittelalters 126 Schwache Definitionen 126 . Musik der Engel 134 . Diabolika 140 . Sicher heitsverwahrung des Bösen: Vom Geist mittelalterlicherTonsysteme 145 KCtpü:eL 6 Brückenschläge zur Neuzeit. Selbstüberschreitungen des mittelalterlichen Denkens 150 Schrift, Notenschrift 150 . Selbstbewusste Urbanität 157 . Repräsentations kultur 165 Kcq>u-eL 7 Europa in einer Neuen Welt. Musik-Konzepte der Renaissance und des Barock 181 Humanisierung, Versprachlichung: Korrektur eines Klischeebildes 181 . Toleranz und Intoleranz, musikalisch 190 . Homo creator 196 . Opus-Himmel und In strumenten-Hölle 202 . Der verklärte Leib: Heinrich Schütz' »Musikalische Exequien« 208 S~~F~ Darbietungsmusik als Signatur der Moderne 213 Ketpit'el-8 Musik der Aufklärung, Aufklärung im Musikalischen 221 Ichs, die sich selber setzen 221 . Geftihlsseligkeit und Geschäftsrationalität 230 Steigflug ins Unendliche: Das Werden der absoluten Musik 234 Kcq> it'el- 9 Autonome Musik, entfaltet und in der Krise. Konfliktstrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts 246 Künsderikonen, Künsdermythen 246 . Kalkuliertes Lärmen: Der Streit um die Programmmusik 255· Showgebaren und Suizid-Gesten:Virtuosität 264· Neue Musik als Geschichtsvol1strecker 272 . Eingekürztes Tonbewusstsein: Das Ver schwinden des Distanzprinzips 280 . Das Absolute der Populär-Musik 286 Epiloft Das Ende der Geschichte und der »Gott der kleinen Dinge« 296 Anmerkungen 299 Literatur 311 Quellennachweise 322 Personenregister 324 Dank 329 Vorspiel auf dem Theater D ieses Buch sollte ein Lexikonartikel werden. Aber ich habe das, so zumindest, nicht geschafft. Im Sommer 1987 muss es gewesen sein, dass WolfgangThierse, damals Mitarbeiter des Zentralinstituts fur Literaturgeschichte an der DDR-Akademie der Wissenschaften, sich mit mir zu einer Tasse Kaffe im Ostberliner Lindencorso, Ecke Friedrichstraße verab redete. Wir hatten beide die gleiche Bank eines Marxismus-Seminars fiir Kulturwissen schaftler an der Humboldt-Universität drücken müssen. Später trafen wir uns beiVeranstal tungen der Evangelischen Kirche im Weißenseer Stephanusstift. Nun saß mir Thierse mit einem Vorhaben gegenüber, das ich auf den ersten Blick, und auch auf den zweiten, fiir ebenso hochtrabend hielt wie anziehend. Vermutlich kenne ich doch, so mein Gesprächs partner, das ))Historische Wörterbuch der Philosophie« von Joachim Ritter und Karlfried Gründer; an seinem Literaturinstitut trage man sich mit der Idee, ein entsprechendes Werk fiir den Bereich der Ästhetik herauszubringen, ein West-Unternehmen im Osten sozusagen. Vorläufiger Titel: ))Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe«. Verlag: der, durch aus angesehene, Akademie-Verlag. Erscheinen: in etwa vier bis ftinfJahren. Ich sei eingela den (ironisches Augenzwinkern: man denke durchaus an ))bestimmte« Autoren, und auch bei Kollegen im Ausland würde angefragt), den Artikel ))Musik« zu übernehmen, vielleicht sogar noch andere musikbezogene Stichwörter. Ich überlegte kurz, sagte spontan ))ja« - und hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlassen würde. Das Wörterbuch seinerseits, obwohl durch den Zusammenbruch der DDR in seiner Herstellung zunächst behindert, kam gut voran und hat mittlerweile mit seinen ersten Bänden reüssiert. Ich selber beschäftige mich mit dem Auftrag, den ich damals annahm, seit nunmehr ein und ein halb Jahrzehnten. Eine Menge lernen konnte ich bei den zahlreichen Begegnungen mit Germanisten und Romanisten: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Hans Robert Jauß, Horst Wenzel. Und viel zu danken habe ich der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, die mir mehrere Studienaufenthalte an ihrem Haus ermöglichte. Je intensiver aber ich mich in die Materie vertiefte, desto deutlicher trat mir vor Augen: Diesen Artikel ))Musik« würde ich nicht schreiben können. Zu disparat war, was man nach gängigerTradi tion hätte unter dem Stichwort vereinen müssen: die griechische ))musike«, die lateinisch mittelalterliche ))musica«, die weitgehend anders sich gebärdende neuzeitliche ))music« / ))musique«j))Musik«. Warum dann nicht auch den Blick auf die chinesische ))yüeh«, die japanische ))gaku«, die indische ))sangita« lenken? Andererseits erschien es indiskutabel, das Thema nur fur die Moderne abzuhandeln, 8 im Umfeld der ))beaux arts«, der sich im 18. Jahrhundert formierenden Schönen Künste. Und: ausschließlich ftir eine Musik, die sich als »Tonkunst« zu verstehen wusste. Die Ge fahr war buchstäblich unabweislich, angesichts einer solchen Verengung des Gesichtsfeldes im Kreis des Allzuvertrauten, im Wohnzimmer der Musikphilosophie eingeschlossen zu bleiben - und nur Geläufiges, modisch frisiert, nachzuerzählen. Last but not least hatte ich Schwierigkeiten mit dem Ansatz der Begriffsgeschichte selbst, vor allem im eigenen Fach, der Musikwissenschaft, wo er sich fast ausschließlich auf terminologische Entwicklungen richtete - oder auf Musikanschauungen von Denkern und Dichtern. Benennungen aber und Sachen, Worte und Taten, Reflexion und reflektierter »Gegenstand«, davon bin ich überzeugt, gehören aufs Innigste zusammen, nicht nur zudem in der Perspektive von intel lektuellen Oberschichten, sondern auch aus der Sicht des Mannes auf der Straße, des All tagslebens. Und mir wollte sogar scheinen, dass das, was sprachlich nie und nimmer auf den Begriff zu bringen wäre, gleichwohl eigentümliche Begriillichkeiten ausprägen könne, ohne alle ~rte - in Musik primär, in musikalischem Denken und in musikalischem Handeln. So kam es, dass ich anstelle von verbal formulierten Musikauffassungen und der ins Vokabulare gegossenen Musik-Termini zunehmend die Beschäftigung mit »Konzepten« mir zur Aufgabe machte, Konzepte, die zwar die Termini und Ansichten über Musik ein schließen, oft aber weit über sie hinausgehen, erstaunlich weit. Vielfach sogar wurden sie erst greifbar als Regelwerke gemeinschaftlichen Miteinanders: als »Begriillichkeiten« einer sozialen Situation und einer sozialen Struktur. Das mag ein wenig verschwommen klingen. Und ich nutze die durch das Deutsche gegebene Unschärfe des Wortes »Konzept« (das im Weiteren als eine Art Leitvokabel agieren wird) planvoll aus. Allerdings bin ich guten Mu tes, dass die Nebel sich bald lichten werden, dass dieses Buch insgesamt daftir Aufhellungen schafft. Trotzdem wäre in erster Annäherung festzuhalten, dass ein Konzept jenes Mini mum von Wissen überspanne, welches zum Verständnis einer Sache unerlässlich sei. Kon zeptualität erwüchse damit, und in solchem Sinne, letztlich aus menschlicher, sozialer, mu sikalischer Praxis: als ein Kompasskreuz im Leben, im musikalischen Leben. Den Wörterbuch-Artikel ))Musik« habe ich also nicht abliefern können, wenn auch die einschlägigen Partien über ))musike« und ))musica«.l Der Stoff jedoch, den ich gesammelt hatte, schien die Ausbreitung zu verdienen in einem größeren Zusammenhang. Das vorlie gende Buch bietet dazu die Chance. Es ist eine nachgeholte Schularbeit, die unmerklich sich zum Experiment auswuchs. Denn gehandelt wird, noch einmal will ich es hervor heben, vom Denken über Musik ebenso wie vom Denken im Musikalischen - und sogar von Logiken, Verhaltenslogiken jenseits dessen, was begrifflich zu rationalisieren ist. Viel Freude habe ich bei der Arbeit empfunden, und mehr als einmal große Bangigkeit. Man ches, so geschieht es mir immer wieder, wird erst klar, wenn ich es niederschreibe - und wenn es dann auf dem Papier steht, lässt es sich kaum mehr halten: Es bedarf der Verflüs sigung, der Verlebendigung. Auch war ftir die Fülle des Darzustellenden der gewählte (und zu wählende) Rahmen oft sehr klein, zu klein. So wird der Leser eine gewisse ))Überlast« bei der Behandlung nicht-europäischer, antiker und mittelalterlicher Kulturen wahrneh men, während die Musikkonzepte der Neuzeit und der Moderne (von denen die For schungsliteratur überbordet) nur in Grundzügen, skizzenhaft verkürzt, z. T. polemisch zu gespitzt erscheinen. Aber damit war auch ausgleichende Gerechtigkeit zu üben, zugunsten jener geschichtlichen Leistungen, die heute kaum mehr im Bewusstsein haften. Und über- 9 dies: Handicaps gehören nun einmal zum Geschäft des Wissenschaftlers. Vielleicht muss man unter ihnen nicht nur leiden. Sie können auch Herausforderung sein: für eine Irrita tion, die schöpferisch macht. Jedenfalls wünschte ich mir, dass sich dem Leser eine ähnliche Ahnung mitteilte, wie ich sie immer wieder gewann beim Schreiben: dass es ermutigend sei, ganz außerordentlich ermutigend, sehr viel und stets neu etwas von Musik zu erfah ren - um desto weniger zu wissen, was sie sei »im Eigentlichen«. Denn solches Un-Wissen im Angesicht des Vielerfahrbaren: Es bedeutet, nicht orientiert zu sein, sondern sich zu orientieren, nicht gelebt zu haben, sondern zu leben, im »fortgesetzten Versuch« (Christa Wolf), in unablässigem Deuten und Bedeuten. Berlin, Sommer 2003 Christian Kaden

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