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Das Testament der Lady Abigail PDF

122 Pages·2011·0.43 MB·German
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Anne de Groot Das Testament der Lady Abigail Irrlicht Band 405 …er ist gar nicht tot, dachte Linda, von Grauen übermannt. Er will mich umbringen. Sie sah die scheußliche Fratze näher kommen, immer näher. Und plötzlich verwandelte sie sich in Deans schöne Züge. Dean, der sich über sie neigte, um sie zu küssen. Seine Lippen preßten sich auf die ihren, bis sie keine Luft mehr bekam, bis sie nicht mehr schreien konnte. Jerry, durchzuckte es sie noch. Jerry, warum hilfst du mir nicht? Dann versank alles in schwarze Nacht… Der graue, wolkenverhangene Himmel war nicht dazu angetan, Linda in ^Hochstimmung zu versetzen. Ein kleines Sonnenzwinkern hätte sie im Moment ganz gut gebrauchen können, denn immerhin kurvte sie einer ungewissen Zukunft entgegen. »Yellow Bird«, wie sie ihren kleinen gelben Wagen getauft hatte, hielt sich auch bei diesen Kurven tapfer. Er schnaufte zwar hin und wieder und hustete wie eine Nebelkrähe, aber immerhin quälte er seine betagten PS ganz wacker die Küstenstraße hinauf und hinunter. Im Moment ging es hinunter, und zwar in rasanter Fahrt, rechts von ihr gähnte ein Abgrund, nur durch eine lächerliche kleine Mauer gesichert, und links wuchs eine Felswand in den Himmel. Linda unterdrückte einen Seufzer. Sie mußte verrückt gewesen sein, sich auf so ein ungewisses Abenteuer einzulassen. Was versprach sie sich davon, zu wildfremden Menschen zu fahren, auch wenn es zufällig ihre Verwandten waren? Jetzt begann es zu allem Überfluß auch noch zu regnen, und »Yellow Bird« liebte nasse, glitschige Straßen überhaupt nicht. Linda verlangsamte das Tempo des Wagens und stellte nach einer letzten Kurve aufatmend fest, daß im vor ihr liegenden Tal eine kleine Ortschaft auftauchte. Mit einem Schlag verbesserte sich ihre Laune. Sie hielt Ausschau nach einem Gasthof, fand auch bald auf dem Marktplatz ein altes, wenig verlockend aussehendes Haus mit dem finsteren Namen »Zum schwarzen Mond«. Sie parkte den Wagen direkt davor, stieg mit Karte und Brief bewaffnet aus und streckte die vom langen Sitzen schmerzenden Beine. Die Luft hier war frisch und kühl. Man spürte die Nähe des Meeres. Ein leichter Wind fuhr ihr durchs Haar, und es regnete nur noch wenig. Gerade soviel, daß es sich wie ein feuchter Schleier über ihr Gesicht legte. Sie öffnete die schwere Tür, die ein gepeinigtes Quietschen von sich gab, ging durch einen dunklen Vorhang und stand dann in einem muffig riechenden Raum. Im Dämmerlicht nahm sie undeutlich drei Gestalten wahr, die an der Theke standen. »Hallo!« grüßte sie forsch. Drei bärtige Gesichter wandten sich ihr zu und starrten sie an, als hätten sie noch nie ein junges Mädchen in Jeans und weißer Regenjacke gesehen. Hinter der Theke tauchte eine hagere Gestalt auf. Die schmutzig-weiße Schürze ließ Linda vermuten, daß es sich um den Wirt handelte. »Hallo!« grüßte er wortkarg zurück. »Ich hätte gern eine Tasse Tee«, meinte Linda mit ihrem reizendsten Lächeln. »Tee?« echote der Wirt mit angewiderter Miene. E$ war klar, daß er von diesem Getränk wenig hielt. Dann öffnete er eine Tür und brüllte ihren Wunsch ins Dunkel. Linda hatte an einem der Holztische Platz genommen, steckte sich eine Zigarette an und entfaltete die Karte. Sie spürte, daß die Männer sie beobachteten, kümmerte sich aber nicht weiter darum. »Ihr Tee, Miß!« Der Wirt stellte eine einfache Porzellantasse mit einer bräunlichen Flüssigkeit vor sie hin. Er blieb am Tisch stehen und blickte auf die Karte. »Haben Sie sich verfahren?« »Ich hoffe nicht!« Linda blickte ihn mit ihrem offenen Lächeln an. »Ich möchte nach Schloß Merville. Das liegt doch hier in der Gegend?« Es wurde plötzlich so still im Raum, als hielten alle den Atem an. Der Blick, mit dem der Wirt Linda ansah, war äußerst merkwürdig. Sie schüttelte ein leichtes Unbehagen ab und wiederholte ihre Frage. »Sie sind schon richtig hier«, sagte der Wirt schwerfällig. Er neigte sich zu ihr und starrte ihr aufdringlich ins Gesicht. »Sind Sie verwandt mit den Mervilles?« »Lady Merville ist eine Tante von mir«, erklärte Linda. »Ist es noch weit bis zum Schloß?« »Mit dem Auto höchstens eine halbe Stunde«, murmelte der Wirt. »Wenn Sie an der Küste langfahren, können Sie es nicht verfehlen.« »Eine bessere Straße gibt es wohl nicht?« »Es gibt nur die eine Straße, wenn Sie mit dem Auto fahren«, sagte der Wirt. Linda zahlte für den Tee und brach auf. Sie wollte möglichst noch vor Einbruch der Dunkelheit im Schloß sein. Diese schwierige Küstenstraße zu fahren, war schon bei Tag riskant genug. Der Wirt begleitete sie bis vor die Tür. Als sie schon hinter dem Steuer saß und starten wollte, blickte er durch das Seitenfenster. »Jetzt weiß ich auch, wieso Sie mir gleich so bekannt vorkamen«, sagte er mit eigenartig gepreßter Stimme. »Sie sehen genauso aus wie Lady Merville, als sie noch eine junge Frau war.« * Linda wunderte sich nicht weiter über die Bemerkung des Wirtes. Warum sollte sie ihrer Tante nicht ähnlich sehen? Immerhin war sie die Schwester ihrer Mutter, die leider vor zwei Jahren an einer heimtückischen Krankheit gestorben war. Eigenartig, daß Ma überhaupt keinen Kontakt mit ihrer einzigen Schwester hatte, grübelte Linda. Ob sie zerstritten gewesen waren? Sie wußte es nicht. Wenn Linda gefragt hatte, hatte ihre Mutter nur ausweichende Antworten gegeben. Jetzt hatte sie ganz überraschend von Tante Abigail eine Einladung erhalten und war sofort aufgebrochen. Sie hatte in London ja sowieso nichts zu versäumen. Es waren Semesterferien. Außerdem brannte sie vor Neugierde, ihre fremden, adeligen Verwandten kennenzulernen. Zudem hatte die Einladung Lady Mervilles einen äußerst befremdlichen Nachsatz gehabt. »Komm, so schnell du kannst«, hatte sie geschrieben. »Ich brauche dich!« Die Worte waren mit flüchtiger Schrift aufs Papier geworfen, wie jemand schreibt, der in höchster Eile ist. Jetzt, wo Linda darüber nachdachte, fand sie es wirklich sehr merkwürdig. Zwar hatte die Tante nie versäumt, ihr zum Geburtstag ein kostbares Geschenk zu senden, aber sonst hatte sie sich nie um sie gekümmert. Warum verlangte sie jetzt so dringend nach ihrer Gegenwart? Auf all meine Fragen werde ich ja bald eine Antwort haben, beruhigte sich Linda. Aber die Straße hier war wirklich eine Katastrophe! Sie warf einen beunruhigenden Blick auf das Gestrüpp seitlich der Straße. Ein phantastisches Versteck für irgendwelche Straßenräuber, überfiel es sie. Zum Glück war sie keine ängstliche Natur, und wenn sie jetzt ein leichter Schauer überlief, kam das sicher nur daher, weil sie übermüdet war. Da, waren das nicht die Türme der Burg, die wie schwarze Zeigefinger gen Himmel ragten? Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Sie war am Ziel, hatte es fast geschafft. Die paar Serpentinen würde der Wagen auch noch schaffen. Der steinige Weg entfernte sich vom Meer, ging zwischen mannshohem Gestrüpp und verkümmerten Bäumen dahin. Es wurde plötzlich so dunkel, daß Linda die Scheinwerfer einschalten und das Tempo verlangsamen mußte. Sie sah, wie die Türme näher rückten und spürte Erregung in sich aufsteigen. Bisher war ihr Leben in geraden, ein wenig langweiligen Bahnen verlaufen. Kam jetzt endlich das Abenteuer, nach dem sie sich zeitlebens gesehnt hatte? Wie hypnotisiert starrte sie die Türme an. Plötzlich ging es haarscharf in eine Kurve. Der Wagen schleuderte leicht. Linda riß das Steuer herum, blickte auf den Weg und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Nur einige Meter von ihr entfernt lag die Gestalt einer Frau. Linda bremste so scharf, daß sie nach vorn geschleudert wurde. Sie sprang aus dem Wagen und lief zu der offensichtlich ohnmächtigen Frau hin. Ein scharfer kalter Wind warf sich ihr entgegen, riß an ihrem Haar und nahm ihr den Atem. Trotzdem kämpfte sie sich weiter. Im Gebüsch raschelte es gespenstisch, fern war ein leichtes Brausen zu hören. Der Schrei der wilden Möwen klang bis zu ihr her. Linda lief verzweifelt. Immer näher kam sie der regungslosen Gestalt, die im diffusen Licht der Dämmerung unwirklich aussah. »Kann – ich Ihnen helfen?« Schwer atmend neigte sie sich über die Frau und spürte, wie sich alles in ihr vor Entsetzen sträubte. Sie blickte in das starre Antlitz einer Schaufensterpuppe. Das ist eine Falle, überfiel es sie siedendheiß. Mit einem ersticken Stöhnen warf Linda sich herum und raste zum Wagen zurück. Linda gehörte nicht zu den Mädchen, die beim Anblick einer Maus auf den nächsten Stuhl springen. Horrorfilme entlockten ihr höchstens ein amüsiertes Lächeln, und an irgendwelche Geister glaubte sie nicht. Doch jetzt verspürte sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben echtes Grauen. Sie erwartete jeden Moment einen Überfall. Im Geiste spürte sie schon rohe Fäuste, die sie zu Boden rissen. Schon glaubte sie den heißen Atem eines Verfolgers im Nacken zu spüren, sein Keuchen zu hören. Doch da war nichts als ihr eigenes wildes Atmen, der heftige Wind und der klagende Schrei der Möwen. Endlos kamen ihr die wenigen Meter bis zu ihrem Auto vor. Keuchend, am Ende ihrer Kräfte, warf sie sich in den Wagen, versuchte sofort zu starten. Als der Wagen nicht gleich ansprang, überkam sie Panik. Gewaltsam zwang sie das Zittern ihrer Hände zur Ruhe und versuchte es noch einmal. Diesmal sprang »Yellow Bird« sofort an. Der Wagen schoß vorwärts. Lindas Blick hing an der Straße. Gleich mußte die Puppe kommen. Sie würde einfach darüber hinwegfahren. Sie konnte es nicht riskieren, darum herum zu fahren und vielleicht mit den Vorderrädern in die Büsche zu geraten. Ihre Hände umklammerten das Steuer. Jetzt war sie dicht vor der Stelle. Doch wo war die Puppe? Ein keuchender Laut entrang sich ihrer Kehle. Die Puppe war fort. Jemand mußte sie weggenommen haben, als sie zum Wagen zurückrannte. Eisiges Entsetzen überströmte sie. Also war doch jemand dagewesen. Jemand, der sie genau beobachtet hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, daß sie so schnell war. Doch wer konnte ein Interesse daran haben, sie zu überfallen? Außer den Mervilles wußte doch niemand, daß sie kam. Und sie hoffte nicht, daß die Mervilles zu den Leuten gehörten, die ihre Gäste mit solchen makabren Scherzen empfingen. Sicher hat das alles gar nicht mir gegolten, versuchte Linda sich zu beruhigen. Falls es sich um irgendwelche Räuber gehandelt hat, was wäre bei mir schon groß zu holen? Das bißchen Waisenrente, das ich bekomme, würde selbst bei einem Bettler Mitleid erwecken.

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