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Das System Canetti: Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes PDF

266 Pages·1993·17.68 MB·German
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Heike Knüll· Das System Canetti Heike Knall Das System Canetti Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes MI> VERLAG FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Knoll, Heike: Das System Canetti : zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes / Heike Knoll. - Stuttgart : Mund P, Ver!. für Wiss. und Forschung, 1993 Zug!.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1992 ISBN 978-3-476-45036-4 ISBN 978-3-476-45036-4 ISBN 978-3-476-04194-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-04194-4 D.30 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver- 1ages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über setzungen, Mikroverfilrnungen und Einspeicherung in elektronischen Systemen. M & P Verlag für Wissenschaft und Forschung ein Verlag der J. B.Metzlerschen Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart © 1993 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1993 Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 I. Die Blendung der Vernunft 1. Wider den Realismus, für einen realistischen Roman: Canettis Forderungen an die Dichtung 12 2. Der Wahnsinn hat Methode: Wirklichkeitskonstitution in der "Blendung" 24 3. "Ein Kopf ohne Welt": Negative Erkenntnistheorie als Strukturprinzip 31 4. "Kopflose Welt": Vom kategorischen Imperativ zur leeren Kategorie 46 5. "Welt im Kopf": Die Konsequenzen der Vernunft 64 11. Die Sprachreflexionen 1. Von der Sprachkritik zur Sprachskepsis: Canetti und Kar! Kraus 86 2. Sprach-Figuren: Akustische Maske, Maskensprung und Geheimnis 103 3. Sprach-Bewußtsein: Der Entwurf einer Anthropologie von der Sprache her 119 4. Die Versöhnung im Wort: Sprache als konkrete Utopie 131 III. Die Verwandlung 1. Mythos und Verwandlung 156 1. Der Mythos als Material 160 Exkurs: Die Anwendung des Mythos 172 2. Die Legitimation der Dichtung 180 2. Verwandlung statt Vernunft: Das Erkenntniskonzept 187 3. Verwandlung oder Macht: Die Anthropologie 208 IV. System der Verwandlung, Poetologie des Lebens 228 Literaturverzeichnis 251 Für Oma Gretel, die das alles für "überflüssige Arbeit" hält. 1 Einleitung "Du bist deiner Sache so sicher, daß man an deinem Verstande zweifeln könnte. Aber solange der Lärm nicht über dich zusammenschlägt, muß diese Sicherheit nicht schaden. Das Schwierigste ist, ein Loch zu finden, durch das du aus dem eigenen Werk hinausschlüpfst. Du möchtest wieder in einer freien und regellosen Welt sein, die von dir nicht vergewaltigt ist. Alle Ordnung ist quälend, aber die eigene Ordnung am quälendsten. Du weißt, daß es nicht alles stimmen kann, aber du läßt dir dein Gebilde nicht zerstören. Du könntest versuchen, es zu unterminieren, aber dann wärst du selber noch drin. Du willst draußen sein, frei. Du könntest als ein anderer einen furchtbaren Angriff dagegen schreiben. Aber du willst es ja nicht vernichten. Du willst dich nur verwandeln."! Seit der Wiederveröffentlichung der "Blendung" wird Elias Canetti häufig in einem Atemzug mit Joyce, Musil oder Kafka genannt; sein Werk "Masse und Macht" gilt als zwingende Diagnose unseres Jahrhunderts, seine Aufzeichnungen werden nicht selten als Meisterstücke aphoristischer Brillanz bewundert, und immer wieder wird die Originalität des Denkers ebenso anerkennend vermerkt wie der universelle Entwurf, den er in seinen Schriften wagt. Doch macht sich dieser Enthusiasmus verdächtig, über eine gewisse Hilflosigkeit hinwegzuloben: Dem Problem, Canettis Denken systematisch nachzuvollziehen, wurde bisher immer wieder ausgewichen. Die Hauptschwierigkeit beim Umgang mit Canetti besteht überraschen derweise gerade in der thematischen Homogenität seines - formal sehr heterogenen - Werks. Die Dramen und der Roman "Die Blendung", die 1 PDM, S. 236. 2 Untersuchung "Masse und Macht", die Essays und Aphorismen befassen sich alle mit den Erscheinungen der Masse, der Macht, des Todes und der Verwandlung. Die nahezu ausschließliche Konzentration auf diese Phäno mene, die, bei Canetti stets miteinander verbunden, letztlich ein -das einzige -Grundthema seines Werks bilden, geht einher mit der Einheitlichkeit eines Denkens, das einmal gewonnene und festgelegte Erkenntnisse nicht mehr in Frage stellt, das keinerlei Brüche und Disharmonien zeigt. Diese Konstanz von Canettis Überlegungen ist um so erstaunlicher, be rücksichtigt man den Zeitraum, in dem die einzelnen Schriften entstanden sind. So läßt sich "Masse und Macht" als theoretische Erläuterung zu dem 30 Jahre zuvor erschienenen Roman "Die Blendung" lesen; die Essays zur Poetologie, die im Abstand von 40 Jahren verfaßt wurden, lassen keinerlei Veränderung des ihnen zugrundeliegenden Konzepts erkennen; und selbst die über einen Zeitraum von 43 Jahren hinweg niedergeschriebenen Apho rismen zeigen die unausgesetzte Kontinuität von Canettis Reflexionen. Es scheint, als seien seine Gedanken von Anfang an festgefügt gewesen, als hätte er sie nie weiterentwickelt oder verändert, sondern allenfalls präzisiert. Nun gewinnen dadurch seine - in den Essays und in "Masse und Macht" dargelegten und in der Prosa und den Dramen literarisch umgesetzten - Grundgedanken nicht unbedingt an Transparenz. Die Ursache dafür ist in der Eigenwilligkeit von Canettis Denken zu sehen: Er läßt keinen Zweifel daran, daß er seine Reflexionen voraussetzungslos, ohne jede Anlehnung an bestehende Theorien und Begriffe entwickelt hat und sie so verstanden wissen will: "Und es scheint mir, wenn man an einer neuen Theorie arbeitet, sehr wichtig, daß auch die Begriffe, die man aufstellt, neu sind."2 2 Rupprecht Slavko Baur, Gespräch mit Elias Canetti. In: Literatur und Kritik 7, 1972, S. 272 -279; hier: S. 276. 3 Mit diesem Anspruch wendet er sich vor allem gegen eine wissenschaftliche Methodik, die ihren Gegenstand mittels abstrakter Kategorien erfaßt. Canetti setzt dagegen eine phänomenologische Herangehensweise, die durch eigene, neu geschaffene Grundkategorien wie Masse, Macht, Tod und Verwandlung die Wirklichkeit neu erfassen will. Doch wo die Originalität zum Programm erhoben wird, ist der Schritt zur Unzugänglichkeit klein. Canettis Ordnungssystem errichtet sich auf Kategorien, die nur noch aus ihrem spezifischen Zusammenhang heraus verständlich sind, also durch einen Kontext, der ausschließlich von Canettis eigenen Begriffen gebildet wird. Eine wechselseitige Erklärung scheint unvermeidlich: Canettis Reflexionen präsentieren sich als ein extrem selbstbezügliches, in sich abgeschlossenes Denkgebäude. Dabei erzeugt gerade die - in der Anschaulichkeit seiner Kategorien und ihrer einfachen, unmittelbaren Verknüpfung gründende - Schlichtheit von Canettis Aussagen Ratlosigkeit und Irritation. Sie scheint einen umfassen den philosophischen Entwurf zu verschleiern, dessen innerer Zusammen hang in den Schriften Canettis eben nicht zum Ausdruck kommt - und verleitet entweder zu schroffer Ablehnung oder zu euphorischer Zustim mung, ohne daß dabei ein nennenswerter Reflexionsgrad erreicht würde; eine Reaktion, die die Forschungsliteratur nur zu genau wiedergibt. Eine breitere Canetti-Rezeption begann in Deutschland erst Mitte der sechziger Jahre3, zu einem Zeitpunkt also, wo - neben den bis heute eher vernachlässigten Dramen und "Welt im Kopf', einer von Erich Fried herausgegebenen Werkausgabe - nicht nur die "Blendung", sondern auch bereits "Masse und Macht" vorlag. Entsprechend konzentrierte sich die Forschung zunächst auf den Vergleich beider Werke. Die Arbeiten von D. 3 Vgl. Dieter Dissinger, Erster Versuch einer Rezeptionsgeschichte Canettis am Beispiel seiner Werke "Die Blendung" und "Masse und Macht". In: Herbert G. Göpfert (Hg.), Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. München, Wien: Hanser 1975 (= Reihe Hanser 188), S. 90 -105.

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