Schwabereflexe Band73 Daniel Hell Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst unter Mitarbeit vonFrançois Gysin SchwabeVerlag BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüber http://dnb.dnb.deabrufbar. ©2022SchwabeVerlag,SchwabeVerlagsgruppeAG,Basel,Schweiz DiesesWerkisturheberrechtlichgeschützt.DasWerkeinschließlichseinerTeiledarf ohneschriftlicheGenehmigungdesVerlagesinkeinerFormreproduziertoder elektronischverarbeitet,vervielfältigt,zugänglichgemachtoderverbreitetwerden. Korrektorat:SchwabeVerlag,Berlin Gestaltungskonzept:iconabaselgmbH,Basel Cover:KathrinStrohschnieder,STROHDesign,Oldenburg Layout:iconabaselgmbh,Basel Satz:3w+p,Rimpar Satz:DieMedienmacherAG,Muttenz,Schweiz Druck:CPIbooksGmbH,Leck PrintedinGermany ISBNPrintausgabe978-3-7965-4442-2 ISBNeBook(PDF)978-3-7965-4443-9 DOI10.24894/978-3-7965-4443-9 DaseBookistseitenidentischmitdergedrucktenAusgabeunderlaubtVolltextsuche. ZudemsindInhaltsverzeichnisundÜberschriftenverlinkt. [email protected] www.schwabe.ch Inhalt EinleitungundÜbersicht ........................... 7 1.Kapitel:VonderSeelezumSelbst .................. 11 2.Kapitel:Das«Selbst»inPhilosophieundPsychologie – einekurzeÜbersicht ............................... 25 3.Kapitel:Problemedes«Selbst»inPsychiatrieund Psychotherapie .................................... 51 4.Kapitel:ScheiterninderSpätmoderneundseine psychotherapeutischeHerausforderung................ 83 5.Kapitel:Scheiternansichselbst .................... 97 6.Kapitel:DieSuchenachIdentität – eineneueArt Heimweh ......................................... 119 7.Kapitel:KeinSelbstvertrauenohne zwischenmenschlichesVertrauen ..................... 137 8.Kapitel:Scham –Türhüterindes«Selbst» ........... 155 Schlussbetrachtung................................. 171 Literatur.......................................... 173 5 Einleitung und Übersicht «Erkenne dich selbst». So war schon im 5.Jahrhundert vor Christus auf einer Säule des Apollotempels in Delphi zu lesen. Der ebenso kurze wie prägnante Satz findet heute ein großes Echo. Er scheint dem modernen Selbstverständnis zu entspre- chen, sich als autonomes Individuum zu verstehen und von sich auszugehen. Die antike Lesart war aber eine andere: Der SpruchwurdealsAufforderung verstanden,sichnichtzuüber- heben, sondern sich zu bescheiden und seine Begrenztheit und Hinfälligkeitzuerkennen. DieAufforderungzurSelbsterkenntnisinDelphiwurdezu- nächst als göttliches Gebot von Apollo wahrgenommen. In der philosophischen Tradition der griechischen Antike wurde der Satzdann als Hinweis auf die Verletzlichkeit desMenschenver- standen.DerMenschsolleumseineAbhängigkeitenwissenund das richtige Maß im Leben finden. Die Stoiker sahen darin zu- dem die Aufforderung, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben.SpäterwurdederSatzunterdemEinflussPlatonsauchso interpretiert,dassesgelte,dasethischGutezuverwirklichen. Das moderne Selbstverständnis ist anders. Zwar sind die antiken Auffassungen nicht einfach verschwunden. Aber die SoziokulturunddieLebensverhältnissehabensichsostarkver- ändert,dassausdem«Erkennedichselbst»bzw.«Erkennedei- ne Grenzen» tendenziell eine Betonung und Inszenierung des «Selbst» geworden ist. Dafür stehen aktuelle Schlagworte wie Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung oder Selbstoptimie- 7 rung. Aber auch in der Philosophie, Psychologie und anderen WissenschaftenistdasSelbstbewusstseinzueinemSchlüsselbe- griffgeworden. Angesichts dieses tiefgehenden Wandels stellt sich die Fra- ge, wie es zu dieser Entwicklung kam. Welche soziokulturellen Umständehabendazubeigetragen?Zuwelchenpsychologischen Konsequenzen hat dieser Umbruch geführt? Dabei steht für mich als Psychiater und Psychotherapeut die letzte Frage im Vordergrund.Dochwäreesvermessen,VeränderungenderPsy- cheundderpsychischenProblematikohneBerücksichtigungdes historischenundsoziokulturellenHintergrundszubehandeln. Deshalb setze ich mich im ersten Kapitel mit der ge- schichtlichen Entwicklung auseinander, die zur Ablösung des Seelenbegriffs und zum neuen Begriff des «Selbst» geführt hat. DabeihandeltessichebennichtnurumeinebegrifflicheAblö- sung, sondern um eine grundlegende Veränderung des Men- schenbildes. Mit dem veränderten Selbstverständnis verändern sich auch die psychischen Probleme, die den Menschen heute imVergleichzufrüherzuschaffenmachen. Das zweite Kapitel gibt einen Überblick über philosophi- sche und psychologische Konzeptionen des «Selbst» in der Neuzeit.EszeigtUnterschiede,aberauchEntwicklungenauf. Im dritten Kapitel stelle ich ein Konzept des Selbstbe- wusstseinsvor,dasmirfürPsychiatrieundPsychotherapiehilf- reich erscheint. Es geht davon aus, dass das Selbstbewusstsein nicht bloß reflexiver Art ist, sondern auch präreflexive Anteile hat. Unter präreflexivem Selbstbewusstsein verstehe ich ein leibliches und affektives Selbstgefühl. Manche schweren psych- iatrischen Erkrankungen gehenmiteinerBeeinträchtigung die- ses präreflexiven Selbstbewusstseins einher. Anhand verschie- dener Beispiele und empirischer Befunde zeige ich auf, was diese Konzeption für das Verständnis und die Behandlung sol- cher Patienten bedeuten kann. Dabei diskutiere ich mithilfe 8 entwicklungspsychologischerBefundeauch die Entstehung sol- cherStörungen. DasvierteKapitelbringtdasScheiterninderSpätmoderne mit anspruchsvollen Selbstidealen in Zusammenhang, beleuch- tetaberauchdensoziokulturellenHintergrund heutigen Schei- terns. Dabei findet die beschriebene Konzeption des Selbstbe- wusstseinspraktischeAnwendung. Im fünften Kapitel gehe ich detaillierter auf biologische, soziale, biografische und persönlichkeitsbedingte Zusammen- hängevonpersönlichenKrisenundpsychischenErkrankungen ein. Daraus werden psychotherapeutische Schlussfolgerungen gezogen, die weniger einespezifischeBehandlungsmethodikals einebestimmtetherapeutischeHaltungnahelegen. ImsechstenKapitelbeschäftigeichmichmitderIch-Iden- tität, die heute besonders kontrovers diskutiert wird. Dabei gehe ich – auch aus der psychiatrischen Erfahrung mit disso- ziativen Persönlichkeitsstörungen – davon aus, dass zwischen wechselndenreflexivenInhaltenderSelbstvorstellungundeiner präreflexiven Konstanz der Ich-Perspektive zu unterscheiden ist. Es gibt bei versteckten Identitätsproblemen auch eine Art HeimwehnachdieserinnerenUngebrochenheit. Das siebte Kapitel macht darauf aufmerksam, dass Selbst- vertrauen nicht künstlich herstellbar ist. Im Gegensatz zum Selbstwert, der auf einer Selbsteinschätzung beruht und durch Erfolge gefördert werden kann, ist Selbstvertrauen weitgehend vom Vertrauen abhängig, das andere Menschen einem entge- genbringen.Selbstvertrauenwirdabergeradeinderspätmoder- nen Soziokultur besonders wichtig, betont doch der Individua- lismus die Selbstverantwortung auch bei unvermeidlichen RückschlägenoderNiederlagen. Im achten Kapitel kommt nochmals inanderer Weise zum Ausdruck, was das ganze Buch durchzieht: wie wichtig die Ver- bindungvonpräreflexivemundreflexivemSelbstbewusstseinfür 9 dieLebensgestaltungist.DabeispieltdieSchameinevielfachun- terschätzteRolle.DennSchamistdasSelbstgefühlparexcellence. Diesesschwierige,abersehrwichtigeGefühlschrecktmichnicht nurauf,wenndieSelbstachtunginGefahrist,sondernträgtauch dazu bei, dass ich über mich nachdenke. Scham nimmt eine Schnittstellezwischen präreflexivem und reflexivem Bewusstsein ein. Sie führt dazu, dass ich mich als erlebendes Subjekt und gleichzeitigalsbeobachtetesObjektwahrnehme. Das Buch ist so gestaltet, dass es auch kapitelweise gelesen werden kann. Deshalb kommen zur besseren Lesbarkeit auch einzelne inhaltliche Wiederholungen vor. Aus dem gleichen Grund habe ich politisch unkorrekt darauf verzichtet, konse- quent mehrere Geschlechtsformen zu verwenden. Mit Patienten und Ärzten sind in der Regel auch Patientinnen und Ärztinnen gemeint.IchbinmirdieserSchwächedesBuchesbewusst. Dieses Buch wäre ohne die Hilfe meiner Frau, mancher Freunde,KolleginnenundKollegenundohneZusammenarbeit mit vielen Patientinnen und Patienten nicht möglich gewesen. In besonderer Weise hat François Gysin, Psychiater und Psy- chotherapeut in Lissabon, zu diesem Buch beigetragen. Er hat mich nicht nur zur Titelgebung dieses Werkes angeregt, son- dern sich während meines Schreibens über Google Drive auch intensiv mit mir ausgetauscht. Dabei hat er neben Verbesse- rungsvorschlägen viele Ideen zur inhaltlichen Erweiterung des Bucheseingebracht.IchverdankeseinerOriginalitätundseiner immensen Kenntnis der psychotherapeutischen Literatur so mancheVertiefungdesInhalts. Besonders dankbar bin ich auch Frau Ruth Vachek vom Schwabe Verlag. Sie hatmeinen Text sprachlich verbessertund mancheszurKlärungbeigetragen. 10