Das russische Parlament Ellen Bos Margareta Mommsen Silvia von Steinsdorff (Hrsg.) Das russische Parlament Schule der Demokratie? Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2003 Die Veröffentlichung wurde gefordert von der Volkswagenstiftung, Hannover Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ISBN 978-3-8100-3133-4 ISBN 978-3-663-09553-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-09553-8 © 2003 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au ßerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Ellen Bos/Margareta Mommsen Einfiihrung ................................................................................................ 7 Erster Teil Parlamente in historischer und vergleichender Perspektive Herbert Döring Entwicklungstendenzen parlamentarischer Tätigkeit in etablierten Demokratien - Die historisch langwierige Eindämmung einiger Pathologien von Rational Choice.. .... ......... ......... .... 13 Attila Agh Parliamentarization as a Regionally Specific Way of Democratization in East Central Europe .......... .... ...... .............. ............ 47 Klaus von Beyme Entwicklungstendenzen des defekten Parlamentarismus in der Ersten und Zweiten Russländischen Republik. ............ ....... ............ 71 Zweiter Teil Elemente repräsentativer Demokratie im russischen Übergangs regime Viktor Sejnis Zehn Jahre parlamentarische Erfahrung im postsowjetischen Russland - eine (persönliche) Zwischenbilanz ......................................... 87 Margareta Mommsen Die Ohnmacht von Parlament und Parteien bei der Regierungsbildung in Russland........... ................ ........................ ....... ....... 109 5 Silvia von SteinsdorjJ Wer sitzt in der Staats duma? Zum Wandel der Repräsentationsmuster im russischen Parlament....................................... 143 Thomas F. Remington Toward a New Model ofCoalition Politics in the Russian State Duma........................................................................ 177 Galina Michaleva-Luchterhandt Die politischen Parteien in der russischen Staatsduma .. ........................... 199 Margarete Wiest Der russische Föderationsrat - Macht und Ohnmacht der zweiten Parlamentskammer ................................................................ 223 Andre} Zacharov Die regionalen Parlamente im postsowjetischen Russland - Bilanz eines Jahrzehnts .......................................................... 249 Statt einer Schluss betrachtung Ellen Bos Wo fangt Demokratie an und wo hört Demokratie auf? Demokratietheoretische Überlegungen zum politischen Regime Russlands... .......................... .............................. ........ 271 Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen................................................ 293 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................. 295 Die Schreibweise russischer Eigennamen in diesem Buch folgt grundsätzlich den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration (DIN 1460). Eine Ausnahme bilden im Deutschen geläufige geografische Bezeichnungen sowie die Namen der russischen Staatspräsidenten, die in der deutschen Umschrift wiedergegeben werden. Die Begriffe "russisch" (russkij) und "russländisch" (rossijskij) werden bewusst von einander abgegrenzt; im Unterschied zum ethnisch gemeinten "russkij" bezieht sich ,.ros sijskij" auf die gesamte Staatsnation. 6 Ellen Bos/Margareta Mommsen Einführung Der vorliegende Sammelband ist dem Entstehen und der Entwicklung des Parlamentarismus im postsowjetischen Russland gewidmet. Der Schwerpunkt liegt bei der Tätigkeit der beiden Parlamentskammem Staatsduma und Föde rationsrat seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Dezember 1993. Die Frage nach dem Platz des Parlaments in dem neuen politischen System durchzieht als roter Faden alle Beiträge des Bandes. Insbesondere war zu prüfen, ob sich das russische Parlament als Schule der Demokratie und als Motor einer allgemeinen demokratischen Entwicklung hervorgetan hat. Das Erkenntnisinteresse der Autoren war auch von dem schon klassischen Diktum von David Olson und Michael Mezey beeinflusst, demzufolge Parlamente "dichter als alle anderen politischen Institutionen am Zusammenfluss von Demokratietheorie und demokratischer Praxis" stehen. Die Konstituierung eines Parlaments ist gewiss ein wesentliches Element der Institutionalisierung von Demokratie. Parlamente gelten nicht nur als Mutterinstitutionen der Demokratie überhaupt, bei Prozessen des System wechsels fallt ihnen sogar eine Schlüsselrolle zu. Diese besondere Funktion kommt allerdings nur dann zum Tragen, wenn die Grundvoraussetzungen eines funktionsfahigen Parlamentarismus, darunter ein gesellschaftlich veran kerter Parteienpluralismus und die Akzeptanz der Prinzipien einer repräsen tativen Demokratie durch politische Eliten wie Wahlbürger, gegeben sind oder darur zumindest Aufgeschlossenheit herrscht. In diesem Fall dient das Wirken des Parlaments als wahre Schule der Demokratie. Im postsowjetischen Russland waren und sind jene Grundvoraussetzun gen rur den Beginn jeder fruchtbaren parlamentarischen Tätigkeit indessen nur sehr begrenzt vorhanden. Es war deshalb von Anfang an fraglich, ob das neue Parlament überhaupt als Schule oder auch nur als Vorschule der Demo kratie zu dienen vermochte. In der Tat zeigte sich bald, dass Wählerwille und Repräsentationsverständnis der Abgeordneten in Russland weit auseinander klafften. Hinzu kam, dass die autoritären Tendenzen unter lelzin die gegen seitige Blockade von Exekutive und Legislative und deshalb nur einen "nega tiven Parlamentarismus" hervorbrachten. Unter Putin ruhrte wiederum die fortgesetzte Manipulation der Parteien, Fraktionen und Abgeordnetengruppen zur weitgehenden Gängelung der Volksvertretung durch die Kremlruhrung. Ellen Bos/Margareta Mommsen Insofern ergibt sich das Bild eines nur bedingt institutionalisierten Parlamen tarismus. Ansätze zu einer horizontalen Gewaltenteilung als Voraussetzung demokratischer Konsolidierung konnten sich kaum entfalten. Russlands poli tisches System verblieb so im Zwielicht von Autokratie und Demokratie. In diesem Buch gelangen die unterschiedlichen Facetten des hybriden po litischen Systems umfassend zur Darstellung. Der Band' fußt auf einem Workshop zum Parlamentarismus, der im September 2000 an der Ludwig Maximilians-Universität in München stattfand. Die hier edierten Beiträge gingen aus dieser von der Volkswagenstiftung finanzierten Konferenz wie aus einem ebenfalls von ihr geförderten Projekt zur Erforschung des russischen Parlamentarismus hervor. Dabei geht das Spektrum der Beiträge weit über die im Rahmen des Forschungsprojekts geförderten Arbeiten hinaus. Auf diese Weise konnten die parlamentarischen Gehversuche im Zentrum wie in den Regionen Russlands in eine breitere Perspektive der historischen und verglei chenden Parlamentarismusforschung eingebettet werden. Im ersten Teil zeigt Herbert Döring in einem historischen Rückblick, dass in der "Jugend" heute etablierter Demokratien (Großbritannien, USA, Frank reich) vergleichbare Erscheinungen auftraten, wie sie sich aktuell im neuen russischen Parlamentarismus finden. Vor dem Hintergrund der realen histori schen Lernprozesse in westlichen Demokratien erscheinen Döring die "Kin derkrankheiten" der russischen Duma nicht so sehr als "Zeichen einer ,de fekten' Demokratie, sondern [als] Ausdruck ganz normaler Entwicklungen". Attila Agh beleuchtet in seinem Beitrag die zentrale Rolle der Parlamente in den Transitions- und Konsolidierungsprozessen der ostmitteleuropäischen Staaten. Den fur die Region spezifischen Weg der Demokratisierung bezeich net er entsprechend als Parlamentarisierung. Der Beitrag bietet eine interes sante Vergleichsfolie zu den weniger positiven zeitlich parallelen Entwick lungen in der russischen Staatsduma. Klaus von Beyme hebt auf die Schwächen des neuen Parlamentarismus in Russland ab. Dazu zählt er die "personalistische prämoderne Repräsentati onsauffassung" der Parlamentarier, den "präparlamentarisch-konstitutionellen Parlamentarismus" sowie das Übermaß an präsidentiellen Dekreten und die fehlende Parteienstrukturierung. Aus all diesen Gründen habe sich ein "nega tiver Parlamentarismus" wie im 19. Jahrhundert entwickelt, der sich in einer Blockadepolitik von Legislative und Exekutive niederschlage. Im zweiten Abschnitt des Bandes werden Arbeit und Funktionsweise der beiden Kammern des russischen Parlaments und der regionalen Legislativen analysiert. Außerdem wird die untergeordnete Rolle der politischen Parteien in der Gesellschaft, im Parlament und bei der Regierungsbildung kritisch beleuchtet. Der Beitrag von Viktor Sejnis ist eine persönliche Bilanz über die ersten zehn Jahre parlamentarischer Erfahrung im postsowjetischen Russland. Wir danken Britta Mümmler für die Text-und Endredaktion des Manuskriptes. 8 Einführung Als Abgeordneter aus den Reihen der demokratischen "Jabloko"-Partei schreibt Sejnis aus der Perspektive als teilhabender Beobachter. In seiner autobiografischen Skizze hat er einen scharfen Blick auf die widersprüchli chen Entwicklungen des parlamentarischen Lebens, insbesondere seit 1993. Die heutige Duma charakterisiert er als weitgehend "lenkbar"; typisch seien die neuen Schaukelmehrheiten. Margareta Mommsen stellt die weit reichende Ohnmacht des Parlaments bei der Bildung wie bei der Kontrolle der Exekutive überhaupt heraus. So werden nicht von Parteien gestützte Regierungen, sondern Präsidialkabinette gebildet, die sich am besten als "Marktplätze von Wirtschafts interessen" charakterisieren lassen. Der Beitrag beleuchtet die relativ große Bedeutung der frühkapitalistischen Oligarchen aus den neuen Industrie- und Bankimpe rien sowie die Rolle informeller Machtstrukturen bei der Regierungsbildung. Gleichzeitig zeigt Margareta Mommsen, dass die semipräsidentielle Verfas sungsstruktur im Falle veränderter politischer Konstellationen auch in Russ land quasi französische Verhältnisse erzeugen könnte. Der Beitrag von Silvia von Steinsdorff bringt wichtige Einblicke in den Prozess des "institutionellen Lernens" der Abgeordneten und liefert außerdem soziobiografische Daten zu den Abgeordneten seit Beginn der Parlamentari sierung. Die Autorin hebt hervor, dass sich die Abgeordneten vorwiegend "als unabhängige Gesetzgeber im Sinne des klassischen Liberalismus" verstanden und verstehen. In der Analyse wird deutlich, dass sich die Duma mehr und mehr zu einem Elitenparlament entwickelt hat, womit sie sich bereits stark an das soziale Profil westlicher Parlamente annähert. Der Schwerpunkt des Beitrags von Thomas Remington liegt auf den jüngsten Entwicklungen des russischen Parlamentarismus seit den Duma wahlen Ende 1999. Er beleuchtet die nach den Wahlen völlig veränderten politischen Konstellationen in der Duma. Während bis zu den Wahlen sowohl die politische Situation innerhalb der Duma als auch das Verhältnis zwischen Präsident und Parlament durch die Polarisierung zwischen den Kommunisten und ihren Verbündeten einerseits und den reformorientierten Gruppen ande rerseits geprägt wurden, gestalte sich die Beziehung zwischen Präsident und Duma heute sehr viel harmonischer. Galina Michaleva-Luchterhandt zeichnet in ihrem Beitrag die verschie denen Phasen in der Entwicklung des russischen Parteiensystems nach. Sie stellt heraus, dass auch nach den Wahlen vom Dezember 1999 "immer noch nicht von einem voll ausgebildeten stabilen Parteiensystem die Rede sein" kann. Ein großes Defizit der gesellschaftlichen Interessemepräsentation sieht die Autorin in dem Phänomen der von oben gegründeten so genannten "Par teien der Macht". Margarete Wiest beschreibt in ihrem Beitrag die wechselhafte Rolle der zweiten Parlamentskammer in Russland. Der von Boris Jelzin ursprünglich als der "verlängerte Arm des Kremls innerhalb des Parlaments" vorgesehene 9 Ellen Bos/Margareta Mommsen Föderationsrat konnte sich zunächst zu einem politischen Gegengewicht zur Exekutive entwickeln. Aufgrund des im Rahmen von Putins Reformpolitik durchgesetzten neuen Formierungsmodus der zweiten Kammer habe diese aber ihre Rolle als wichtige politische Vetornacht gegenüber der präsiden tiellen Exekutive wieder stark eingebüßt. Andrej Zacharov vollzieht die verschiedenen Phasen in der Entwicklung der regionalen Parlamente in Russland nach. Er kann dabei zwar aufzeigen, dass eine fortschreitende Institutionalisierung der regionalen Legislativen sowie eine Professionalisierung der Abgeordneten stattgefunden hat. Aller dings hebt er gleichzeitig hervor, dass die regionalen Parlamente stark von den jeweiligen Exekutiven dominiert werden. Analog zum Zentrum seien auch in den Regionen Wahlmonarchien entstanden, die ein ungünstiges Um feld rur die Entwicklung der Parlamente zu einem wirkungsvollen Gegenge wicht zu den regionalen Exekutivchefs darstellen. Aufs Ganze gesehen zeigen die Beiträge des zweiten Abschnitts, wie weit der "lange Arm der Vergangenheit" (Claus Offe) aus dem Sowjetsystem in das politische Regime des postsowjetischen Russlands hineinreicht. Offen sichtlich hält der Homo sovieticus selbst die wenigen postsowjetischen "De mokraten" noch eng in seinen Fängen. Dies wird etwa in dem von allen Auto ren hervorgehobenen weit verbreiteten Antiparteiensyndrom und in dem allgemeinen Unverständnis fur die Relevanz gewaltenteiliger Vorkehrungen überdeutlich. Im abschließenden Beitrag unternimmt Ellen Bos den Versuch, das poli tische Regime der Russländischen Föderation typologisch zu bestimmen. Ausgehend von der Frage nach den Kriterien rur eine Minimaldefinition von Demokratie ordnet die Autorin das russische System der Gruppe hybrider Regime in der Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie zu. In ihrer kritischen Bilanz wird deutlich, dass die Staatsduma und die regionalen Volksvertretungen zwar positive Ansätze der demokratischen Institutionali sierung und Professionalisierung zeigten, diese allerdings nicht auf das Ge samtsystem ausstrahlen konnten. Ganz im Gegenteil zeichne sich in jüngster Zeit eine Entdemokratisierung der Parlamente ab. Auch wenn der Ausgang der institutionellen Experimente in Russland noch keinesfalls entschieden sei, spreche vieles darur, dass Russland auf absehbare Zeit ein Grauzonenregime bleiben werde. 10 Erster Teil Parlamente in historischer und vergleichender Perspektive