Das Leib-Seele-Problem in der Motologie INAUGURAL-DISSERTATION zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg Dr. jong Kim aus Südkorea am 05. 03. 2010 Vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps- Universität Marburg als Dissertation angenommen am 05.03. 2010 Tag der mündlichen Prüfung/Disputation am: 19. 11. 2010 erster Gutachter: Prof. Dr. Jürgen Seewald zweiter Gutachter : Prof. Dr. Uwe Meixner Das Leib-Seele-Problem in der Motologie 1 INHALTSVERZEICHNIS Einleitung: Das cartesianische Rätsel ........................................................................................... 4 Teil I: Philosophische Grundzüge der Leib-Seele-Diskussion .............................................. 12 1 Das Netz der praktischen Alltagsgewissheiten ............................................................... 12 1.1 Bieris Trilemma............................................................................................................ 17 1.2 Das darwinistische Argument für den cartesianischen Dualismus .............................. 20 2 Historischer Abriss ............................................................................................................ 28 2.1 Asien ............................................................................................................................ 28 2.2 Innen und Außen im ostwestlichen Vergleich .............................................................. 38 2.3 Vorsokratiker ................................................................................................................ 42 2.4 Platon ........................................................................................................................... 45 2.5 Antike und Christentum ............................................................................................... 48 2.6 Descartes ...................................................................................................................... 52 2.7 Spinoza ......................................................................................................................... 58 2.8 Malebranche ................................................................................................................. 60 2.9 Leibniz ......................................................................................................................... 62 2.10 Kant ............................................................................................................................ 65 2.11 Darwin und die Folgen ............................................................................................... 69 2.12 Ganzheitliche Strömung ............................................................................................. 72 2.13 Neurophilosophie ....................................................................................................... 75 2.14 Libet und die Willensfreiheit...................................................................................... 92 2.15 Bewusstsein ................................................................................................................ 99 2 Teil II Das cartesianische Rätsel in der Motologie .............................................................. 107 1 Philosophisches Resümee ................................................................................................. 107 2 v. Weizsäckers Gestaltkreis ................................................................................................ 112 3 Kompetenz-/handlungstheoretischer Ansatz ..................................................................... 120 4 Neuropsychologischer Ansatz ........................................................................................... 128 5 Verstehender Ansatz .......................................................................................................... 140 6 Systemisch-konstruktivistischer Ansatz ............................................................................ 153 7 Zur systemisch-konstruktivistischen Vorgeschichte ......................................................... 165 Schluss: Das Theorie-Praxis-Rätsel ........................................................................................... 185 Literatur ......................................................................................................................................... 190 3 Einleitung: Das cartesianische Rätsel Unter der cartesianischen Spaltung verstehe ich ganz allgemein die psycho/physische Spaltung, denn Descartes’ methodischer Zweifel betrifft nur die äußere physische Realität, nicht die innere psychische. Und das cartesianische Merkmal der res cogitans unterscheidet allgemein das Psychische vom Physischen: Es ist nicht im Raum. Oder doch? Diese Frage steht seit Descartes umstritten im Raum (fragt sich nur, in welchem). Engagierte Humanwissenschaftler stehen zu dieser Frage ganz anders als Naturwissenschaftler und Philosophen. Die Motologen, die ich kenne, empfinden sich nicht als cartesianisch gespalten, sondern als ziemlich ganzheitlich, und das ist gut so. Schizophrene, und seien sie auch nur philosophisch schizophren, eignen sich eher schlecht für therapeutische Berufe. Das Fach Motologie verdankt seine Existenz einer therapeutischen Praxis, und die praxisnähere Fachbezeichnung Psychomotorik signalisiert etwas Wichtiges und Kostbares: die untrennbare Einheit von Psyche und Motorik, die die Mototherapeuten immer wieder in Selbst- und Fremdbeobachtung erleben, wahrnehmen und praktisch verwenden. Aber im Schritt von der Verwendung zur Betrachtung, also dem Schritt von der Praxis zur Theorie, geschieht etwas Sonderbares, das jeden faszinieren sollte, der sich für die Mechanik des menschlichen Bewusstseins interessiert: Die untrennbare Einheit von Psyche und Motorik spaltet sich cartesianisch in Psyche und Motorik. Nur ein Wortspiel? Ein Scheinproblem? Manche Wittgensteinianer (z. B. Wittgenstein und G. Ryle) und manche Physikalisten (z. B. Paul und Patricia Churchland) halten die Spaltung tatsächlich für eine grammatische Täuschung, eine Verhexung des Verstandes durch die Sprache.1 Diese einfachste aller Lösungen des Leib-Seele- Problems scheint mir auch die schlechteste zu sein. Ich halte die cartesianische Spaltung für einen tiefliegenden Denkzwang, der sich schon deshalb nicht sprachphilosophisch wegtherapieren lässt, weil er viel älter als die Sprache ist, ich glaube sogar, so merkwürdig das für manche klingen mag, viel älter als die menschliche Spezies. Es begann irgendwann mit der ersten Bewusstseinsregung: der ersten Empfindung, einer keimhaften Subjekt/Objekt-Trennung. Diese wurde im Lauf der Evolution sehr spät allmählich als Denkzwang bewusst, verschärfte sich unter dem Druck der modernen Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten enorm und führte zu den Turbulenzen der heutigen philosophisch-neurowissenschaftlichen Diskussionen. Tatsächlich halte ich die 1 „Wo unsere Sprache einen Körper vermuten lässt, und kein Korper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“ (Wittgenstein 1971, § 36) Diese Kritik am „ghost in the machine“ wurde vor allem durch G. Ryle 1949 populär. 4 cartesianische Spaltung für das zentrale philosophische Thema der Motologie, denn ihr zentrales fachliches Thema war immer die praktische Einheit (und theoretische Zweieinheit) von Bewegung und Wahrnehmung in der erlebten eigenen Körperbewegung. Aber der Körper ist intersubjektiv zugänglich, er bewegt sich öffentlich in Raum und Zeit. Wahrnehmung ist intersubjektiv nur indirekt zugänglich wie alles Fremdpsychische, subjektiv ist sie einfach da in der inneren Zeit, aber – und nun muss ich wohl Farbe bekennen - nicht im äußeren Raum! Denn wo genau wäre sie dort? In der Körpermitte? Zwischen den Augen? Wahrnehmung, das scheint mir ihre Funktion zu sein, verweist auf bestimmte Stellen im äußeren Raum, die dort innerhalb oder außerhalb des eigenen Körpers liegen können. Zusammenfassend: Körperbewegung gehört zur res extensa und erfordert Wahrnehmung, um bewusst zu werden; Wahrnehmung gehört zur res cogitans und erfordert (a) mentale Bewegung, um bewusst zu werden, sowie (b) neuronale elektrochemische Bewegung, um überhaupt möglich zu sein. Daher folgert der Cartesianer: Ohne die sonderbare Trennung der beiden Sphären und ihre von Descartes postulierte Wechselwirkung im Hirn (Zirbeldrüse beiseite) gäbe es kein Bewusstsein. Das ist natürlich nur der Anfang, nicht das Ende der turbulenten heutigen Diskussionen. Sollte am Ende doch Descartes mit seiner unglücklichen Unterscheidung an allem schuld sein? Nein, alle Weltsprachen verwenden ein Vokabular, das seit Jahrtausenden vor Descartes auf ganz ähnliche Weise wie er Physis und Psyche der Person trennt und kausal verbindet. Ein Teilvokabular bezieht sich auf physische Objekte in Raum und Zeit und jene ihrer Eigenschaften, die ziemlich rasch und ziemlich eindeutig intersubjektiv entscheidbar sind (Lockes „primäre Eigenschaften“2 gehören gewiss dazu). Ein ganz anderes Vokabular ist das der intentionalen Prädikate, d. h. der typischen Subjekt-Objekt-Prädikate. Diese drücken zum Teil psychische, zum Teil grenzüberschreitende psychophysische Relationen aus und sind letztlich nur subjektiv entscheidbar, aber manchmal so eng mit intersubjektiv entscheidbaren physischen Konsequenzen verbunden, dass sie semantisch ambig werden. Beispiel: subjektives und objektives Sehen. Es gibt das sog. Blindsehen nach bestimmten Hirnverletzungen, wobei die Person subjektiv nichts, aber objektiv richtig sieht, weil sehr alte Bahnen des visuellen Systems, die am Bewusstsein vorbeigehen, noch intakt sind.3 Nur das subjektive Sehen ist eine intentionale Relation. Solche Relationen haben als erstes Argument das intendierende Subjekt s und als zweites Argument entweder (a) das intendierte Objekt o oder (b) den intendierten Sachverhalt S, wobei o existieren kann, aber nicht muss, und S bestehen kann, 2 Locke 1979, Book II. 3 Weiskrantz 1986. 5 aber nicht muss. Beispiel: (a) s sucht, findet, sieht, hört, fühlt, bemerkt, erkennt, wartet auf, flieht vor, denkt an, liebt, fürchtet, bewundert, verachtet, erinnert sich an, vergisst ... o. (b) s versucht, erreicht, verhindert, erkennt, glaubt, vermutet, weiß, erwartet, befürchtet, bedauert, freut sich darüber, sieht ein, versteht, behauptet, ... , dass S . Ist s etwas Physisches oder etwas Psychisches? Weder noch, und auf sonderbare Weise beides zugleich, wenn wir unseren uralten Sprachen trauen dürfen. Und genau das tat Descartes ungeachtet aller profunden philosophischen Zweifel: s ist (im Normalfall) eine menschliche Person, ein Individuum bei Descartes. Die Person hat ihren Körper, aber ist kein Körper, sie hat Bewusstsein, aber ist kein Bewusstsein.4 Sie hat eine Doppelnatur und weiß dies seit Urzeiten, wie ihre Sprache verrät. Betrachten wir dazu die intentionalen Satzprädikate (b), die durch dass- Einbettung iteriert werden können: Ich weiß, dass du immer noch glaubst, dass er nichts davon ahnt, dass wir vorhatten, ihn zu betrügen. Menschen, die solche Sätze tausende Jahre lang vor Descartes verwendeten und verstanden, mußten cartesianisch gespalten sein. Sie hatten die Basis ihrer eigenpsychischen Gewissheiten, zweifelten nicht an der Existenz des Fremdpsychischen, wußten aber praktisch sehr genau, dass dieses ihnen nur indirekt und manchmal sehr hypothetisch über die gemeinsame physische Realität zugänglich war. Und sie erlebten selbstverständlich Psyche und Physis als kausal verbunden. Denn unser kausales Denken stammt ganz gewiss nicht aus der Physik, sondern umgekehrt. Dieses Denken ist semantisch tief verankert in der grenzüberschreitenden psychophysischen Wechselwirkung, die wir fortwährend erleben. Und den (mono)kausalen Zwang, das propter im weil, das Hume zu Recht in der physikalischen Kausalität vermisst,5 erleben wir seit frühster Kindheit, und manchmal schmerzhaft: Weil die Biene mich sticht, spüre ich den Stich, und weil er mich schmerzt, schlage ich nach der Biene. 4 An dieser Stelle weicht Descartes vom Weltbild der (mir bekannten) natürlichen Sprachen ab: Die Substanz des Individuums ist res cogitans, Descartes’ Ich ist sein Bewusstsein. 5 Hume 1978, Book I, Part II. 6 (Stich ist semantisch ähnlich ambig wie sehen. Es gibt den subjektiven Stich für den Patienten und den objektiven Stich für den Arzt, und manchmal gibt es den einen Stich ohne den anderen.) Descartes hat die Spaltung, die seinen Namen trägt, nicht erfunden, nur protokolliert. Wäre er in den Wirrnissen des Dreißigjährigen Krieges früh verschollen, hätte sie ein anderer protokolliert. Aber dass sie zu Beginn der Neuzeit in Europa protokolliert wurde, war ebensowenig zufällig wie die Tatsache, dass sie heute weltweit diskutiert, praktisch verdrängt und theoretisch als tiefes Rätsel empfunden wird. Meine These dazu lautet: (1) Die onto- und phylogenetische Evolution des Bewusstseins macht uns zwangsläufig die cartesianische Spaltung als tiefliegenden Denkzwang zunehmend bewusst. Der Ursprung der Spaltung war, wie erwähnt, die erste Empfindung: das erste Bewusstsein von etwas. Wie, warum und woher es kam, weiß niemand. Darwinistisch erklärbar ist nur die Hirnevolution, nicht die Bewusstseinsevolution. Universum und Biosphäre hätten mit bewusstlosen, empfindungslosen Zombies genauso gut funktioniert wie mit uns. Wann es zur ersten Empfindung kam, lässt sich nur vermuten. Ich vermute, ontogenetisch bald nach dem Einsetzen der Hirnströme, und phylogenetisch vor ein paar hundert Millionen Jahren. Bleiben wir bei der Ontogenese der Spaltung. Der erste, alles entscheidende Schritt ist der frühkindliche Erwerb der Objektpermanenz.6 Sobald ich die Gewissheit habe, dass die physischen Alltagsdinge auch dann existieren, wenn ich sie nicht wahrnehme, ist das Ding nicht mehr die Dingwahrnehmung, also (2) esse ≠ percipi res extensa ≠ res cogitans Physis ≠ Psyche außen ≠ innen mein Körper ≠ mein Bewusstsein. Der Schluss von der Objekpermanenz auf (2) ist semantisch unabweisbar, wird aber vom Kind zunächst ganz unbewusst vollzogen. Nur sein Verhalten zeigt, dass ihm (2) sehr bald zur praktischen Gewissheit geworden ist. Manchen nachdenklichen Kindern wird (2) zum Problem, 6 Der Begriff stammt bekanntlich von Piaget 1975. 7 vor allem später in der Pubertät. Aber da bis heute niemand die cartesianische Spaltung theoretisch versteht, muss sie praktisch verdrängt werden. Die Basis unserer Praxis bleibt die Objektpermanenz. Ihr Erwerb wird in der neueren Säuglingsforschung tendenziell mehr und mehr zeitlich vorverlegt,7 vielleicht ist sie angeboren. Dann wäre auch das Wissen um die cartesianische Spaltung keimhaft angeboren. Und Tierbeobachtungen lassen für Darwinisten, anders als für Descartes, kaum einen Zweifel daran, dass nicht nur wir von unserer Spaltung wissen. Beispiel 1: Schimpansenkinder bestehen ähnlich wie Menschenkinder den bekannten Spiegeltest der innen/außen-Selbstidentifikation.8 Sie bekommen unbemerkt einen roten Farbfleck ins Gesicht getupft, sehen ihn im Spiegel und wischen ihn weg, weil sie wissen: Das bin ich! So sehen mich die anderen. Mein äußeres Bild ist kategorial anders als mein inneres Selbstverständnis - reichlich ungereimt, aber damit muss ich leben. Eine Spur von diesem Gedanken, den jeder von uns einmal hatte, hat wohl auch der Schimpanse. Wozu sonst den Fleck wegwischen? Beispiel 2: Eine Schimpansin blickt überaus brav zum Alphamännchen und krault derweil liebevoll ihren halbstarken Freund, der hinter einem Sichthindernis steckt. Ihr körpersprachliches Täuschungsgeschick lässt auf ein ziemlich menschliches Innenleben schließen, ein diebisches Vergnügung und einen cartesianischen Gedanken: Er kann es [objektiv und subjektiv] nicht sehen, aber Vorsicht! Er könnte es [subjektiv] ahnen. Beispiel 3: Verstehen wir spontan, auf Anhieb, die Körpersprache einer Wasserschildkröte? Ich hätte es nicht geglaubt, bis ich Wilma kennenlernte. Während ihre Artgenossen im Aquarium mich völlig ignorierten, ruderte Wilma mir heftig entgegen. Ich verstand: Sie wollte nicht auf den Ruheplatz und ans Futter, das konnte sie selbst, sie wollte aus dem Aquarium! Ich nahm sie heraus und setzte sie auf den Boden. Sie humpelte mir hinterher, kletterte auf meinen Fuß und richtete sich an meinem Bein halb auf. Um hochzuklettern? Physisch unmöglich, so dumm ist keine Schildkröte. Ich verstand: Sie wollte hoch genommen werden. Wozu, sagte sie mir dann. Sie wollte nicht gleich wieder abgesetzt werden, sonst hätte sie gestrampelt oder sich in ihrem Panzer verkrochen, sie wollte eine Zeit lang mit ausgestrecktem Hals die Welt von oben betrachten. Wozu? Neugier, Spieltrieb, vielleicht sogar körperliche Nähe? Wie auch immer, ich vermute ein 7 Näheres z. B. bei Stern 1992 und Dornes 2008. 8 Menschenkinder bestehen diesen Rouge-Test etwa ab dem 18. Monat (Dornes 2008, S. 135). Bei Schimpansen scheint es ähnlich zu sein. 8
Description: