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Das haptische Bild: Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit PDF

292 Pages·2013·11.482 MB·German
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Das haptische Bild ACTUS BAND VII et IMAGO BerlinerSchriftenfürBildaktforschung undVerkörperungsphilosophie HerausgegebenvonHorstBredekampund JürgenTrabant Schriftleitung:MarionLauschke Das haptische Bild KörperhafteBilderfahrung inderNeuzeit Herausgegebenvon MarkusRath, JörgTremplerund IrisWenderholm AkademieVerlag EinbandgestaltungunterVerwendungvonFrancescoColonna,„Hypnerotomachia Poliphili“,1499(Vorderseite)undFrankDicksee:Studiezu„TheTwoCrowns“, um1900(Rückseite),©TrusteesoftheBritishMuseum. Reihengestaltung:PetraFlorath,Berlin DruckundBindung:DZADruckereizuAltenburgGmbH,Altenburg BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüberhttp://dnb.d- nb.deabrufbar. LibraryofCongressCataloging-in-PublicationData ACIPcatalogrecordforthisbookhasbeenappliedforattheLibraryofCongress. DiesesWerkisturheberrechtlichgeschützt.DiedadurchbegründetenRechte, insbesonderediederÜbersetzung,desNachdrucks,desVortrags,derEntnahme vonAbbildungenundTabellen,derFunksendung,derMikroverfilmungoderder VervielfältigungaufanderenWegenundderSpeicherunginDatenverarbeitungsanlagen, bleiben,auchbeinurauszugsweiserVerwertung,vorbehalten.EineVervielfältigung diesesWerkesodervonTeilendiesesWerkesistauchimEinzelfallnurindenGrenzender gesetzlichenBestimmungendesUrheberrechtsgesetzesinderjeweilsgeltendenFassung zulässig.Sieistgrundsätzlichvergütungspflichtig.Zuwiderhandlungenunterliegenden StrafbestimmungendesUrheberrechts. ©2013AkademieVerlagGmbH EinUnternehmenvonDeGruyter www.degruyter.de GedrucktinDeutschland DiesesPapieristalterungsbeständignachDIN/ISO9706. ISBN978-3-05-006011-8 Inhaltsverzeichnis VII MarkusRath,JörgTrempler,IrisWenderholm DashaptischeBild. KörperhafteBilderfahrunginderNeuzeit I. Wahrnehmung 3 MarkusRath DieHaptikderBilder. RilievoalsVerkörperungsstrategiederMalerei 31 JodiCranston TheDisorderedBedintheSleepingVenus 51 IrisWenderholm TheGaze,Touch,Motion:AspectsofHapticityin ItalianEarlyModernArt 69 PhilineHelas LebendesBild–haptischesBild II. Sujet 95 AlessandroNova RossoFiorentinosChristusinformaPietatiszwischen AndachtundSchönheit 113 PeterStephan DasverräumlichteBildimverbildlichtenRaum. JacopoRusutisMosaikeninFerdinandoFugasFassade vonS.MariaMaggiore 135 HansKörner GiovanniGonnelli. QuellenundFragenzumWerkeinesblindenBildhauers 159 MatthiasKrüger PalettenundPalettenbilder III. Material 185 JohannesMyssok BildhauerischesDenkenundhaptischeBilder 209 JorisvanGastel Michelangelo’sLesson. TheBaroqueBozzettobetweenCreationandDestruction 227 YannisHadjinicolaou Malen,Kratzen,Modellieren. ArentdeGeldersFarbauftragzwischenInnovationundTradition 253 MonikaWagner „DasAugewardHand,derLichtstrahlFinger“. BildoberflächeundBetrachterraum 267 Autorenverzeichnis 271 Bildnachweise MarkusRath,JörgTrempler,IrisWenderholm DAS HAPTISCHE BILD KörperhafteBilderfahrunginderNeuzeit Die Geschichte der Bildwahrnehmung ist mitnichten nur eine Geschichte des Sehens.EntgegenderAuffassung,dassBilderalsvirtuelleMedienalleindem Augeverpflichtetseien,stehtdieErkenntniseinerplurimodalenBildrezeption: UnterschiedlicheWirkungsweisenvonArtefaktenbasierenstetssowohlaufopti- schen als auch auf körperlich-haptischen Reizen und Sinneswahrnehmungen. DiesbetrifftnichtalleindiedreidimensionalenWerkederBildhauereiundder Architektur,dieumlaufenoderdurchschrittenwerdenmüssen,sondernschließt auchzweidimensionaleDarstellungenmitein. Obmehroderwenigerrealiterraumgreifend,manifestierensichjedwedevon MenschenhandgestaltetenGebildedurchihreFormalseinekörperlichbegreif- bare Struktur. Ebenso wie eine dynamisch zurückschwingende Barockfassade vermögeneinegemalteDarstellungdesMedusenhauptes,einanthropomorphes Terrakottamodell oder eine abstrakte Zeichnung anhand ihrer jeweiligen for- malen Komposition unterschiedliche Facetten körperlich-haptischer Reaktio- nenzuevozieren.Bilderbewegenoderlassenerstarren,berührenoderstoßen ab.DochauchohneinjedemFallderartexpressiverReizeauszulösen,wirken BilderdurchihreformaleGestaltaufgrunddermitihrtransportiertenkörper- lich-materiellenGehalteaufdenBetrachterkörper.„DashaptischeBild“istin- sofern die begriffliche Umschreibung einer körperlich und emotional aktivie- rendenBildrezeption. AusbiologischerSichtumfassthaptischesEmpfindennichtnurdietak- tilenReizederHändeoderderFingerspitzen,sonderndasgesamtepropriozep- tive,viszeraleundsensomotorischeRepertoiremateriellerKörperorientierung, alsoauchdieTiefensensibilität,welchedieLageundDynamikdesKörpersim Raumbestimmt,dieWahrnehmungvonTemperaturunddasSchmerzempfin- den. Diese Grundreize der Körperwahrnehmung, die als „fünfter Sinn“ die SensibilitäteinesOrganismusbedingen,habensichinNaturwissenschaftund Geistesgeschichte,inMedizinundPhilosophie,überJahrhundertehinwegals VIII MARKUS RATH,JÖRGTREMPLER,IRISWENDERHOLM lebensnotwendig erwiesen.1 Die Verortung des Körpers in seiner Umwelt, die WahrnehmungvonRaum,vonFormenundStrukturen,erfolgtsomitstetsals eineKombinationausverschiedenendurchdashaptischeEmpfindenkomplet- tiertenSinneswahrnehmungen.2 Auch im Rahmen der Bildbetrachtung, deren Natur zumeist als kon- templativbeschriebenwird,scheintdieseSinneskombination,insbesonderedie VerquickungvonoptischenundhaptischenEindrücken,fürdieFähigkeiteiner instantanen Bilderfassung elementar: Indem der Betrachter einen fühlenden KörperbesitztundsichimRaumzuorientierenvermag,kannerStaffelungen und Perspektive, schwere und leichte Körper, Nah- und Fernwerte erfassen. NebenunmittelbarandasTastempfindengebundenenbildlichenDarstellungen vonSchmerzen,3StillstandundBewegung,HitzeundKälte,bishinzuOber- flächenstrukturen, sind es diese basalen Wahrnehmungsparameter, welche schließlichaucheinabstraktesBild„ausgewogen“,„ruhig“oder„dynamisch“ erscheinenlassen. Wenngleich Künstler und Kunsthistoriographen der Renaissance das SinnbilddesVisusals„FürstenderSinne“geprägthaben,4entsteheninnerhalb 1 DieseErkenntnisführtvonAristotelesDeAnima,422b(„OhneTastsinnkannes aberkeinenWahrnehmungssinngeben[…].Esistalsoklar,dassnurbeimVerlust diesesWahrnehmungssinnesdieLebewesensterbenmüssten.“)überTomasînvon Zerclaeres 1215/1216 verfasstes Lehrgedicht Der Welsche Gast, 9483ff. („Nun denktdaran,dassniemandohnedenfünftenSinnzulebenvermag[…]ohnetak- tilesVermögenistesniemandemmöglich,langezuleben.“)undHusserl,derin IdeenII(150)denTastsinnzumKonstitutivdesLeibesselbsterklärt,bishinzuden jüngstenForschungenderInternationalSocietyforHaptics(GabrielRobles-De- La-Torre:TheImportanceoftheSenseofTouchinVirtualandRealEnvironments, in:IEEEMultimedia13/3(2006)S.24–30). 2 Vgl.GézaRévéz:OptikundHaptik,in:StudiumGenerale10/6(1957),S.374–379 sowieallg.MartinGrunwald(Hg.):HumanHapticPerception.BasicsandApplica- tions,Basel2008. 3 DieindermonastischenMystikdesMittelalterswurzelndeAuffassungdercom- passiogenerierteeinegroßeAnzahlanMitleid-erregendenBildformen,wieetwa dieFigurdes„Schmerzensmannes“,derenLeidenunmittelbarkörperlichnachemp- fundenwerdensollten.AmBeispieldesgemartertenKörpersChristiimIsenheimer Altar spricht Hartmut Böhme diesbezüglich von der „Gestaltung von Gefühlen […],diealseineraumfüllendeKontaktkraftwirkt“,undaktivdiebildimmanenten repulsiven und anziehenden Bewegungen generieren, wodurch „das Sehen der FigurenzumSpürendesleiblichenSchmerzes“wird:„DarinbestehtdieKunst:im VisuellendasleiblichspürbarAnwesendevonGefühlendarzustellen.“Hartmut Böhme:DerTastsinnimGefügederSinne,in:Kunst-undAusstellungshalleder BundesrepublikDeutschland(Hg.):Tasten,Göttingen1996,S.185–211,hierS.197. 4 Vgl.FrankFehrenbach:DerFürstderSinne.MachtundOhnmachtdesSehensin der Italienischen Renaissance, in: Horst Bredekamp/John M. Krois (Hg.): Sehen undHandeln,Berlin2011,S.141–154.DieDominanzdesVisualprimatsberuhte hingegen auf einer vielschichtigen, durch antike, arabische und neuplatonische IX DAS HAPTISCHE BILD dieserSchwellenepochezugleichArtefakte,dieganzbewusstaufeinekörper- hafteBilderfahrunghinausgerichtetsind.DerUntertiteldesvorliegendenBan- des ist dieser Entwicklung geschuldet, da seit der Frühen Neuzeit sowohl KünstleralsauchBildrezipienteninBildproduktionundSehpraxis,Kunsttheo- rie und Kunstreflektion, die (wieder)errungenen Darstellungsmodi einer vor- ikonographisch auf Körpererfahrung beruhenden Bildsprache einforderten.5 DieseumfasstenebeneinerVerortungderkörperhaftenGegenständeimper- spektivischenRaumdiestimmigeWiedergabederKörperselbst.Mithilfevon Licht und Schatten wurde Volumen bildlich generiert, anatomische Studien wirktenaufdietreffendeKörperdarstellungzurück,Draperienverdecktenden LeibundließenihnzugleichinseinernatürlichenAusprägungerscheinen.Die Reflektion über innovative Darstellungsmodi der Bildkörper führte dabei zu einerAusdehnungderGattungen,zuAssimilationen,etwaimrilievoschiacca- to,oderzuKopplungen,etwaimkombiniertenAndachtsbildausBildtafelund Skulptur.6 DieDiskussionumadäquatekünstlerischeAusdruckformenwurdeim Zuge der Aufklärung eng mit ihren jeweiligen sinnlichen Implikationen ver- knüpft.InderFolgevonGeorgeBerkley(AnEssayTowardsaNewTheoryof Vision,1709)undDenisDiderot(Lettresurlesaveugles,1749)entgegneteJo- hann Gottfried Herder durch den Impetus des Haptischen in seiner „Physio- Ästhetik“ jenen körpersublimierenden Formen klassizistischer Ästhetik, wie sieetwainLessingsLaokoon(1766)zutagetreten.7InseinerAbhandlungPlas- tik(1778)entwickelteeranhandderBetrachtungvonWerkenderBildhauerei eine Phänomenologie körperhafter Kunstrezeption.8 Eigene Bewegung und haptisches Sehen sind dabei eng verknüpft: Beim Umschreiten der Skulptur LehrengespeistenSeh-undPerspektivgeschichte.Vgl.HansBelting:Florenzund Bagdad.Einewest-östlicheGeschichtedesBlicks,München2008. 5 DasssichdieserWandelnichtabrupt,sonderninStufenvollzog,wobeiKünstlern wieGiottoundseinenNachfolgerneineSonderrollezuzusprechenist,wurdeviel- fachherausgestellt.Vgl.jüngstFrankBüttner:GiottounddieUrsprüngederneu- zeitlichenBildauffassung.DieMalereiunddieWissenschaftvomSeheninItalien um1300,Darmstadt2013. 6 Vgl.IrisWenderholm:BildundBerührung.SkulpturundMalereiaufdemAltar deritalienischenFrührenaissance,München/Berlin2006. 7 Vgl. Herman Parret: L’œil qui caresse. Pygmalion et l’expérience esthétique, in: ClaireVanDamme/PatrickVanRossen/MarijkeVanEeckhaut(Hg.):Touchme, don’ttouchme.DetoetsalsInterfaceindeHedendaagseKunst,Gent2007,S.17– 44,hierS.24ff. 8 Vgl.UlrikeZeuch:UmkehrderSinne.HerderunddieAufwertungdesTastsinns seitderFrühenNeuzeit,Tübingen2000;NatalieBinczek:GewänderalsParerga. Zu Herders ‚Pastik‘, in: Pandaemonium germanicum 8 (2004), S.151–167 sowie ausführlicher dies.: Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007. X MARKUS RATH,JÖRGTREMPLER,IRISWENDERHOLM wirdderBlickdesBetrachterszumtastend-liebkosendenFingerstrahl.9Wenn- gleichdieseSchriftimstandewar,dieSinneshierarchiezuUngunstendesSeh- sinns in Frage zu stellen, hinterließ die vollzogene Gattungstrennung in kör- perhafte und daher haptisch empfundene Plastik und körperloses, visuell rezipiertesBilddasDesiderateinesExplanandumsfürdievisuellenAnteilein- nerhalb der Skulpturrezeption – und reziprok für die haptischen Anteile der BetrachtungvonMalerei. Die Grundannahme des vorliegenden Bandes ist, dass jedwedes Bild während des Rezeptionsprozesses in Relation zum Betrachterkörper gesetzt wird,wobeivisuelleundhaptischeWertezugleichwirksamwerden.10Inbeste- chenderPräzisionhatHeinrichWölfflindiesesPhänomen1886inseinenPro- legomenazueinerPsychologiederArchitektur erfasst:„KörperlicheFormen könnencharakteristischseinnurdadurch,daßwirselbsteinenKörperbesitzen. WärenwirbloßoptischauffassendeWesen,somüßteunseineästhetischeBe- urteilungderKörperweltstetsversagtbleiben.AlsMenschenabermiteinem Leibe,derunskennenlehrt,wasSchwere,Kontraktion,Kraftusw.ist,sammeln wiranunsdieErfahrungen,dieunserstdieZuständefremderGestaltenmit- zuempfinden befähigen.“11 Dieser Ansatz hat in der Kunstgeschichte bisher wenigNachhallgefunden.ImGegenteil,erhatmöglicherweiseeinemForma- lismus die Tür geöffnet, den Wölfflin paradoxerweise am Ende seines Lebens selbstvertrat.WenigeJahrenachdessenDissertationveröffentlichtederetwas ältereAloisRieglseineStilfragen(1893)sowieseineUntersuchungDiespätrö- mische Kunst-Industrie (1901), in der er zwischen optischer und haptischer Wahrnehmung unterscheidet. Für den Zusammenhang dieses Bandes ist ent- scheidend,dassRieglhiernichtdiekörperlicheBildwahrnehmungthematisiert, sondern auf ein antithetisches Begriffspaar abhebt, das in einen Formalismus mündet.WiediezweiSeiteneinerMedaillebedingensichhaptisch(plastisch gebunden,umrissbasiert)undoptisch(binnenmodelliert)ineinemdialektischen, 9 DamitistdieseFormdesKunstgenussesnichtmehrTeilderrealiterhaptischen, manuellenKunsterfahrung.Vgl.HansKörner:DerfünfteBruder.ZurTastwahr- nehmungplastischerBildwerkevonderRenaissancebiszumfrühen19.Jahrhun- dert,in:ArtibusetHistoriae21/42(2000),S.165–196.Vgl.auchdenBeitragvon MonikaWagnerindiesemBand. 10 DiesbedeutetnichteinsynästhetischesErleben,alsoeineReizübertrittaufandere Primärsinne, sondern eine anthropologische Konstante körperhafter Bilderfah- rung.AuchdiebewussteAushebelungderartigerKörper-(undSeh-)erfahrungals künstlerischesAusdrucksmittel,etwainden„kopfüberstehenden“BildernGeorg Baselitz‘,bestätigtnochexnegativodiekörpergebundenenSehmechanismen. 11 HeinrichWölfflin:ProlegomenazueinerPsychologiederArchitektur[München 1886], Berlin 1999, S.9. Vgl. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: HorstBredekamp/MarionLauschke(Hg.):JohnM.Krois.BildkörperundKörper- schema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011, S.252–271.

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