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Das Argument 192: Erinnerungsarbeit. Peter Weiss und Uwe Johnson PDF

180 Pages·1979·4.24 MB·German
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Das Argument Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Herausgegeben von Frigga Haug und Wolfgang Fritz Haug 1990/91 schrieben unter anderen Günther Anders, Georg Auernheimer, Etienne Balibar, Hanna Behrend, Jacques Bidet, Volker Braun, Michael Brie, Joseph A.Buttigieg, Martin Damus, Alex Demirovic, lrene Dölling, Andre Gunder Frank, Ehrenfried Galander, Stuart Hall, Gisela Hänel-Ossorio, Brigitte Hansen, Sandra Harding, Nancy Hartsock, Frederic Jameson, Jürgen Jünger, Pierre Juquin, Mary Kaldor, Wilhelm Kempf, Helga Königsdorf, Stefan Krätke, lngrid Kurz-Scherf, Georges Labica, Gabi Lindner, Alain Lipietz, Kaspar Maase, Mary McIntosh, Steffen Mensching, lna Merkei, Matthias Morgenstern, Oskar Negt, Wolfgang Nitsch, Hans-Heinrich NoIte, Helmut Peitsch, Claudia Pinl, Ursula Püschel, Sybille Raaseh, Ruth Rehmann, Peter Ruben, Christina Schenk, Michael Schneider, Klaus Segbers, Anne Showstack Sasson, Dorothee Sölle, David Tetzlaff, Bernd Jürgen Warneken, Sieglinde von Wasielewski, Anja Weberling, lnge Wetig-Danielmeier, Paul Willis, Susan Willis Redaktion Wolfgang Bialas, Sibylle Haberditzl, Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Alexander Honold, Peter Jehle, Thomas Laugstien, Nora Räthzel, Jan Rehmann, Jo Rodejohann, Werner van Treeck, Thomas Weber, Frieder O. Wolf Autonome Frauenredaktion Sünne Andresen, Ariane Brenssell, Soja Fiedler, Frigga Haug, Kornelia Hauser, Barbara Ketelhut, Christina Klenner, Eva Kreisky, Susanne Lettow, Jutta Meyer-Siebert, lngeborg Musold, Eva Stäbler, Ellen Woll Korrespondierende Redaktionsmitglieder Claudia Gdaniec, Karl-Heinz Götze, Michael Krätke, Dieter Kramer, Ulrich Schmitz, Erich Wulff, Gerhard Zimmer Redaktion: Reichenberger Str.l50, 1000 Berlin 36, Tel. (030) 611 41 82, Fax 611 42 70 Direktversand: Reichenberger Str.150, 1000 Berlin 36, Tel. (030) 611 3983, Fax 611 4270 Redaktionssekretariat: Antje Rapmund Verlagsleitung : Georg Stenzaly Umschlag: Johannes Nawrath Foto: © Peter Dragadze Argument-Verlag, Rentzelstraße 1, 2000 Hamburg 13 Telefon (040) 45 60 18 und 45 36 80, Fax (040) 44 51 89 Auslieferung Interabo, Wendenstr. 25, Postfach 103245, 2000 Hamburg 1, Telefon (040) 23 09 92 Buchhandel: Rotation, Mehringdamm 5ie, 1000 Berlin 61, Telefon (030) 692 79 34 lSSN 0004-1157 Das Argument erscheint 1992 in 6 Heften (alle 2 Monate). lahresumfang 1056 (ca. 980 + LXXVI) Seiten. - Einzelheti 14,-DM; Stud .• Schüler. Erwerbslose 1\.-DM. lahresabo 72.-DM zzgl. Versand; Stud. etc. 57.-DM zzgl. Versand. - Kün digung des Abos nur zum Jahresende bei Einhaltung einer Dreimonatsfrist. - Die Redaktion bittet um Mitarbeit, haftet aber nicht für unverlangt eingesandte Texte und Rezensionsexemplare. Aufsätze sollen höchstens 7.0, Rezensionen 2 MS Seiten haben (1 112zeilig. 60 Anschläge. 2-fache Ausfertigung). Autoren. die mit MS-DOS pe arbeiten, tragen zur Verrin gerung unserer Satz kosten bei, wenn sie uns zusätzlich zu 2 Ausdrucken eine 5 1/4-oder 3 ll2-Zoll-Diskette schicken. Zitierweise wie in den Naturwissenschaften. Das Argument wird regelmäßig von den folgenden sozialwissenschaftlichen Dokumentationsdiensten und Informationsbanken ausgewertet: Bulletin Signah~tique 521, Literatllrdokumentation zur Arbeitsrnarkt- lind Berufsforschung, Politische Dokumentation, Social Science Citation Index, Sozialwissenschaftliches Literaturinformationssystem. - Copyright © Argument-Verlag GmbH. Alle Rechte - auch das der Übersetzung - vor behalten. - Konten: Postgiroamt Berlin West 5745-\08. BankfürGemeinwirtschaftBeriin (BfG) II 14401300, BLZ 100 101 11. Satz: Comptext, Berlin. Druck: alta Druck, Göttingen. - März! April 1992. - Es gilt Anzeigenpreisliste Nr. 3. Editorial 163 Nachruf auf Jutta Kolkenbrock-Netz (Jürgen Link) ............... . 166 Peter Weiss: Marx besucht Hölderlin .......................... . 169 Erinnerungsarbeit : Peter Weiss und Uwe Johnson Klaus R. Scherpe Vernunft und Terror. Peter Weiss' Schreckbilder politischer Gewalt ..... 171 Jens-F. Dwars Archäologie der Befreiung Zu WeJschs postmoderner Lesart der Asthetik des Widerstands. . . . . . . . 179 Armin Bernhard »Wir hatten stammelnd begonnen.« Die Asthetik des Widerstands als Bildungsgeschichte der Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Klaus Briegleb Widerstand ais tätige Erinnerung: Uwe Johnson und Peter Weiss . . . . . 205 Norbert Mecklenburg »Märchen vom unfremden Leben« - Uwe Johnson und der Sozialismus 219 * * * Pablo Gonzalez Casanova: An Kuba denken 235 Eva Kaufmann: Zur Verleihung des Feuchtwanger-Preises an B. Struzyk 239 KorneJia Hauser: DDR-Wirklichkeit als Arbeit am Gedächtnis ... . . . 243 Norbert Schmacke: Die Beschwörung von Lasten im Gesundheits- und Sozialwesen ............................................... 254 Ulrich Mehlern: Der ausgeblendete Krieg Eine Spurensuche in Neuerscheinungen zu Golfkrieg und Nahost 268 Brigitte Young: Die Entscheidung für Wüstensturm. Die Rationalität der Befehlshaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Dokumentation Die MEGA wird fortgesetzt 282 Besprechungen Antike Philosophie; Sprache und Ideologie; Tagesschau; Peter Weiss; Theoriedebatten in der Anglistik; Gramsci; Medien; Frauen und Film; Sozialistische Perpektiven; Gewerkschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 VerfasserInnen, Zeitschriftenschau, Summaries 325 DAS ARGUMENT 192/l992 © II Inhalt Besprechungen Philosophie Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike (A. Schätzei) ..................................................... 283 Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie (Ch. Kniest) ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Reinsberg, Carola: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland (Th. Schwarz) .................................................... 285 Thomsen, Dirko: »Techne« als Metapher und als Begriff der sittlichen Einsicht. Zum Verhältnis von Vernunft und Natur bei Platon und Aristoteles (Chr. Kniest) 287 Patzig, Günther (Hrsg.): Aristoteles' "Politik« (S. Haacke) . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Hossenjelder, Malte: Epikur (/1. Schölze!) .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Sprach- und Literaturwissenschaft Schmitz, Ulrich: Postmoderne Concierge: Die »Tagesschau«. Wortwelt und Welt- bild der Fernsehnachrichten (N. Badenberg) ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Palmstierna-Weiss, Gunilla, und Jürgen Schutte (Hrsg.): Peter Weiss. Leben und Werk (R. Koch) ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Bommert, Christian: Peter Weiss und der Surrealismus (s. Kramer) ........ 294 Bhabha, Homi K. (Hrsg.): Nation und Narration (A. Oksiloff) ............. 295 Scholes, Robert: Protocols of Reading (u. Blumenbach) ................ . . 297 Fish, Stanley: Doing What Comes Naturally (R. Markner) ............ . . . . 298 Siek, Franziska: Literaturpolitik und politische Literatur. Zum Selbstverständnis der französischen Romanschriftsteller im Umkreis der Volksfront (R. Jerzewski) 300 Kunst- und Kulturwissenschaft Holub, Renate: Antonio Gramsci (P Jehle) ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Morera, Esteve: Gramsci's Historicism (Th. Sablowski) .............. . . . . 304 Sraffa, Piero: Lettere a Tania per Gramsei (G. Baratta) ..... . . . . . . . . . . . . . 305 Hickethier, Knut, und Siegfried Zielinski (Hrsg.): MedienlKultur (u. Schmid) 307 Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deut- schen Kinos (u. Weber) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Altersbild incognito. Frauen und Film, Heft 50/51 (S. Kaltenecker) ...... . . . 310 Asholt, Wolfgang, und Walter Fähnders (Hrsg.): Arbeit und Müßiggang 1789-1914 (S. Harringer, D. Kramer) ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Soziale Bewegungen und Politik Gorz, Andre: Und jetzt wohin? (R. Lederer) ............................... 313 Brus, Wlodzimierz, und Kazimierz Laski: Von Marx zum Markt (M. Richter) 315 Iilrgas, Oscar Rene: Adonde va Nicaragua (W Mackenbach) .......... . . . . 316 Hartung, Klaus: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende (W Bialas) ..................................... 318 Bullmann, Udo: Kommunale Strategien gegen Massenarbeitslosigkeit (H.-J. Schabedoth) ..................................................... 320 Hindrichs, Woljgang, Claus Mäulen und Günter Scharf: Neue Technologien und Arbeitskampf (J. Schmid) ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Kaßebaum, Bernd: Betriebliche Technologiepolitik. Arbeitsgestaltung in der Politik der IG Metall (J. Schmid) ..................................... 322 Frey, Martin, und Paul Schobei: Konflikt um den Sonntag (W Joußen) 323 DAS ARGUMENT 192/1992 ,:§; 163 Editorial Der Riß, der die Geschichte des östlichen von der des westlichen Nachkriegs deutschlands trennt, geht tiefer als die politisch-administrativ reparierte Teilung. Erinnerung erscheint als störendes oder gesuchtes Aktenmaterial, instrumentali siert in den tagespolitischen Kämpfen und als Ware auf den Markt der Enthüllun gen geworfen. Die publizistische Allgegenwart des auf die Täter / Opfer-Alterna tive reduzierten Stasi-Verdachts überdeckt, als herrschende Form historischer 'Abwicklung', daß das in Archiven gelagerte Gedächtnis gebraucht wird im doppelten Sinne - zur Wahrheitsfindung benötigt und als Machtinstrument benutzt. Erinnerung als Arbeit, als konstruktive Form der politisch bewußten Aneig nung von Geschichte zeigen die Werke von Uwe Johnson und Peter Weiss schon in ihren Titeln an; von spekulativen »Mutmaßungen« ist die Rede, doch auch von dokumentarisch genauer »Ermittlung« historischer Realität. Erinnerungsarbeit, die nach den Toten des Holocaust, den Widerstandskämpfern der »Roten Kapelle« und nach den Opfern des Stalinismus fragt, ist zuerst eine Arbeit der Spurensuche und der Ortsbesichtigung: Weiss fertigte Lageskizzen an während seiner Reise nach Auschwitz, Johnson recherchierte das NKWD-Lager Fünf eichen. Die topographisch genaue Beschreibung dieser Schauplätze dient, so fern sie der Gegenwart scheinen mögen, doch auch der eigenen Standortbestim mung. Bei beiden war das Schreiben, das von Stockholm und New York aus in die deutsche Vergangenheit zurückging, angetrieben von dem Projekt Sozialis mus und dem Wissen um die notwendige Parteinahme »in der geteilten Welt« (Weiss). Dennoch blieben sie »unzugehörig« injenem Nachkriegspanorama der Ost-West-Konfrontation, das am Ende der Asthetik des Widerstands steht: »als ginge uns der Boden erst verloren, als es darauf ankam, irgendwo Fuß zu fas sen.« (ÄdW III, 261) Dem zeitlebens angestrebten Bündnis von ästhetischer und politischer Befrei ung hat Peter Weiss, wider manche Erfahrung des Zerriebenwerdens, und miß achtend auch die Grenzen des historisch Belegbaren, die Erinnerung an eine unerhörte Begebenheit geschenkt: Der gealterte Friedrich Hölderlin wird vom jungen Kar! Marx aufgesucht. Der Dialog zwischen dem ins Tübinger Turm Exil 'verrückten' Jakobiner und dem rationalen Analytiker verläuft ohne Ergeb nis, und dennoch: daß er stattfindet, ist selbst bereits ästhetisch-politisches Pro gramm, grundlegendes Kompositionsprinzip eines Denkens und Schreibens in Antithesen, und auch Antwort auf eine literaturgeschichtliche Herausforderung. Thomas Mann war es, der nach dem Ersten Weltkrieg Umbruch und Neube ginn in dieser Konstellation zu denken versuchte. Nach dem persönlichen Bruch mit dem deutschnationalen Lager und den kriegsbegeisterten Betrachtungen eines Unpolitischen plädiert Mann in dem Vortrag »Goethe und Tolstoi« (1921) für einen Sozialismus, in welchem »Kar1 Marx den Friedrich Hö1derlin gelesen hat, eine Begegnung, die übrigens im Begriffe scheint, sich zu vollziehen.« (Lei den und Größe der Meister, Frankfurt/M. 1982, 141) Geist und Politik sollten sich einander nähern, um die Tradition des ästhetischen Humanismus für die politische Emanzipation wirksam werden zu lassen. - Die Geschichte der in DAS ARGUMENT 19211992 © 164 Editorial diesen Satz gelegten Bedeutungen, seiner konservativ-erbebetonten, aber auch seiner befreienden Lesarten, läßt sich weiterverfolgen entlang den Trümmern eines Jahrhunderts, von der gescheiterten Novemberrevolution über die Vernich tung des antifaschistischen Widerstands bis zum hoffnungslosen Zerbrechen des sozialistischen Projekts auf dem Boden seiner realstalinistischen Verwirk lichung. »Marx und Hölderlin sind sich nicht nahe gekommen, die marxistische Lektüre blieb einseitig und unfruchtbar«: Während Manfred Riedel mit diesem Fazit (Zeitkehre in Deutschland, Berlin 1991, 152) das Ende der DDR als einen Territorialgewinn des im Westen herrschenden Geschichtsbilds verbucht, gehen Abrechnung und Einverleibung so glatt nicht aufbeijenen, die beiden deutschen Staaten als unerwünschte Kritiker galten. Peter Weiss und Uwe Johnson: Dieses Heft hat sich Weiss' Denken und Schrei ben in Konfigurationen zum Vorbild genommen. Peter Weiss ist am 10. Mai 1982 gestorben. Er hat die Begegnung von Hölderlin und Marx nicht nur auf die Bühne gebracht, sondern als bewegende Kraft in das eigene Werk aufgenom men; seinem Gedächtnis seien diese Beiträge gewidmet. Zum vorliegenden Heft Ortlos geworden scheint nun, nach dem Zusammenbruch der 'Zweiten Welt', der Widerstand gegen die Geschichte der Gesiegt-Habenden, bodenlos die Hoffnung auf eine Alternative. Das Denken der Widersprüche aber bleibt aktuell gerade dort, wo es auf seiten des Nichtgeschehenen und des Gescheiterten steht. Ver gangenes zu erkennen, ist nicht ohne Selbstbeteiligung möglich; auch der Gang zu den Akten und in die Archive, deren trübe Ablagerungen eine haussierende Gerüchtebörse zu Fällen verarbeitet, führt nicht zur historischen Wahrheit, son dern zu einem Kampfplatz. Zur Revision, zur erneuten Besichtigung der literari schen Geschichtsentwürfe fordert nun eine Situation heraus, in der die Positions bestimmungen der Jahrestage und der Asthetik des Widerstands auf eine ver änderte politische Landkarte treffen. Eine Aufarbeitung des Stalinismus hätte einzusetzen bei den Schreckbildern des Terrors, die Klaus R. Scherpe bei Weiss gerade dort nachzeichnet, wo der historische Prozeß angehalten, zu einer Figur der erlittenen Geschichte zusammengezogen wird. Jenseits der Gleichsetzungen einer Totalitarismustheorie zeigen auch Johnsons Jahrestage den Umschlag der erhofften Befreiung in neue Verfolgung. Klaus Brieglebs Vergleich beider Haupt werke macht als ihren Ausgangspunkt das Problem des Schreibens angesichts von Auschwitz kenntlich; gegen das Beschweigen der industriell betriebenen Ermordung der Juden setzen beide Romanprojekte »Erinnerung als tätigen Widerstand«. In einer Kritik an W. Welschs postmoderner Lesart der Asthetik des Widerstands führt Jens-F Dwars vor, daß die politische Kraft des Romans nicht in der Willkür äußerlicher (und damit, so Welsch, austauschbarer) Be kenntnisse liegt, sondern in der Arbeit des kontroversen Auslegens und Bedeu tunggebens, die an Bildwerken wie dem Pergamonaltar den Entwurf eigenen Handeins vollzieht. Das historische Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung wird auch als Unvermögen deutlich, jene Formen proletarischer Selbstbildung zu entwickeln, die dieser Roman gleichsam kontrafaktisch in der Bildungs- DAS ARGUMENT 19211992 © Editorial 165 geschichte seiner Protagonisten vorführt. Aus der Kritik eines reduktionisti schen Erbe-Diskurses erwächst bei Weiss eine emanzipatorische Pädagogik, die Armin Bernhard auch auf die Leseerfahrung mit dem Roman überträgt. Ist Weiss' Ästhetik damit als Beitrag einer marxistischen Theoriebildung zur Wei terentwicklung der »Linie Luxemburg-Gramsci« einzuordnen, so würdigt Nor bert Mecklenburg in Johnsons Romanen die theoretisch fundierte Kapitalismus kritik als das Werk eines 'gelernten' Sozialisten, zeigt aber auch, etwa an John sons Unverständnis für die 68er Bewegung, die Grenzen seiner Politikfähigkeit. Außerhalb des Schwerpunkts, doch ebenfalls erinnernden Textformen zuge wandt, machen Eva Kaufmanns Laudatio auf Brigitte Struzyk und Kornelia Hausers Kritik zweier DDR-Memoiren Geschichte und deren Aktualität an gelebten und geschriebenen Biographien sichtbar; am Leben der Caroline Schel ling, das Struzyk als Selbstbehauptung weiblicher Individualität vergegen wärtigt; und an den Lebensbilanzen zweier Männer (Schabowski und Janka), in denen DDR-Wirklichkeit gegeneinander steht. In Hausers Lektüre der Biogra phien eines Politbürokraten und eines Literaturverlegers begegnet sich die Ge dächtnisarbeit von 'Macher' und 'Opfer'. Unvergangene Vergangenheit schließ lich erkennt auch Norbert Schmacke, der in seiner Untersuchung aktueller sozial-und gesundheitspolitischen Diskurse auf die Rede von (zu reduzierenden) »Lasten« stößt, wo Menschen gemeint sind - Anklänge einer sprachlichen 'Ent sorgung', die in NS-Euthanasieprogrammen furchtbare Praxis wurde. Hat die gegenwärtige Weltsituation, mehr als ein Jahr nach dem Golfkrieg, sich eingerichtet auf das Leben mit dem Präzedenzfall risikolos gewordener Militär 'Eingriffe' unter Führung der USA? Der Literaturbericht von Ulrich Mehlem und die Rezension von Brigitte fuung sichten die Analysen des Krieges und die Ein schätzungen seiner ökologischen, sozialen und politischen Folgen. Der mexikani sche Soziologe Pablo Gonzalez Casanova sieht im US-Handelsembargo gegen Kuba die nach dem Wegfall der Unterstützung durch die Sowjetunion schwerste Bedrohung für dieses Land. Sein Bericht aus Havanna ist ein Appell zur Unterstüt zung eines eigenständigen Demokratisierungsprozesses der Insel; er widerspricht dem Suggestionseffekt der internationalen Medien, die Kuba als eines der letzten Steinehen einer fallenden Dominokette ins Bild gefußt haben. AH »Drüber und Drunter in Deutschland« Die 13. Berliner Volksuni wird auch unter diesem Motto zu Pfingsten aus der Reihe tanzen. Keine deutsche Einheitsfeier also, sondern mehr als 100 Veranstal tungen, in denen die Spaltungen und Zerstörungen des global gewordenen Kapi talismus analysiert und Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden. Zu sehen sind in der ehrwürdigen Humboldt-Universität u.a. Elmar Altvater, Volker Braun, Martin Buchholz, Peter Glotz, Otto Kreye, Günther Krusche, Wolfgang Leonhardt, A1fred Mechtersheimer, Heiner Müller, Claus affe, Wolfgang Thierse, Wolfgang Ullmann und - wie wir hoffen - zahlreiche LeserInnen des Argument (für Unterbringung kann gesorgt werden). Näheres im beiliegenden Faltprospekt und über: Volksuni e.Y., Oranienburger Straße 46/47,0-1040 Berlin, Telefon Berlin (Ost) 282 39 31; (West) 624 51 42. DAS ARGUMENT 192/1992 © 166 Zum Tode von Jutta Kolkenbrock-Netz Am 25. Januar 1992 ist Jutta Kolkenbrock-Netz, Literaturwissenschaftlerin am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, an den Folgen einer Gehirnblutung gestorben. Die Dreiundvierzigjährige hat die theoretischen Debatten der beiden letzten Jahrzehnte um die Neubestimmung des Gegenstands Literatur im Feld von Ideologie- und Subjekttheorie, Psycho-und Dislcursanaly se (einschließlich feministischer Orientierungen) entscheidend mitgeprägt. Wissenschaftliche Biographien (ebenfalls eines ihrer wichtigsten Forschungs gebiete) sind wie Biographien überhaupt von einem bestimmten historischen Kairos zumindest mitgeprägt. Das Denken von Jutta Kolkenbrock-Netz bliebe ohne den Enthusiasmus und den Elan von 1968 unverständlich. Von damals datierte ihr bis zum Tode bewahrter seltener Mut, unerwünschte, ja zuweilen »peinliche« Fragen öffentlich zu stellen. Daß ohne diesen Mut keine Wissen schaft gedeihen kann - das mußte in den deutschen Kulturwissenschaften 1968 erst wieder gelernt werden. Die zeitweilige Verwerfung eines Teils der Bewegung in anachronistische, leninistisch orientierte Organisationskonzepte (auch Jutta Kolkenbrock-Netz hat eine Zeitlang versucht, eine von Louis Althusser in spirierte radikal demokratische Orientierung in der DKP stark zu machen) hat in der veröffentlichten Meinung seither das Image von Achtundsechzig fast zum »Umkippen« gebracht. Dabei hat es keine stärkere Verneinung des Apparat schiks und der Nomenklatura gegeben als Achtundsechzig - gerade weil sich die Kritik zuerst an den eigenen westlichen Apparaten und der akademischen Nomenklatura rieb. Der Weg durch die DKP brachte lutta Kolkenbrock-Netz ein zeitweiliges Berufsverbot ein. Angesichts der Aufdeckung des flächendeckenden Spitzel systems in der DDR fällt es schwer, nicht zu verdrängen, daß es auch an den westdeutschen Universitäten, in Organisationen und Bürgerinitiativen von for mellen wie informellen »Mitarbeitern« gewimmelt hat und vermutlich weiter wimmelt. Ihr jedenfalls wurden in einschlägigen Überprüfungsgesprächen ein deutig 'erspitzelte' Erkenntnisse vorgehalten. Als sie über solche Erfahrungen anläßlich des Russell-Tribunals 1978 die Öffentlichkeit informieren wollte, »ver bot« die DKP ihr diese Zeugenaussage vor einem als parteifeindlich eingestuften Gremium. Sie hat sich über dieses Verbot hinweggesetzt und sich damit in exem plarischer Weise gleichzeitig mit Stasi- und Verfassungsschutz-Syndrom ange legt. In diesem Erfahrungskontext stehen auch ihre Forschungen über die Beziehun gen zwischen Literatur und den »ideologischen Staatsapparaten« (Althusser) bzw. den »Disziplinierungs-Dispositiven« (Foucault). Ihre vielbeachtete Doktor arbeit (Fabrikation - Experiment - Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitima tion im Naturalismus, 1981) begriff die theoretischen Debatten des deutschen Naturalismus als Symptom einer ganz neuen Situation des »Dichters«: Was pas siert mit ihm, wenn der »Journalist« neben ihm und mehr noch in ihm selber auf taucht und ihm über den Kopf wächst? Was wird aus der »Schöpfung« angesichts eines Schreibens, das zunehmend als ein geregelter Produktionsprozeß trans parent und simulierbar wird? lutta Kolkenbrock-Netz beantwortet solche Fragen DAS ARGUMENT 19211992 © Zum Tode von Jutta Kolkenbrock-Netz 167 auf eine neue, »diskursanalytische« Weise: Indem sie z.B. die erste Phase deut scher Schriftstellerverbände auf ihre inneren Widersprüche hin (sehr aktuell!) untersucht oder die Juristen von damals dabei beobachtet, wie sie sich bei der Abgrenzung zwischen »Kolportage« und »Kunst« abstrampeln. In einem Punkt stimmten scheinbar sämtliche Naturalisten überein: Alle beriefen sich empha tisch auf ihre Allianz mit der »modernen Wissenschaft«. Die Diskursanalyse zeigt, daß unter dieser gemeinsamen Phrasendecke die zwei Auffassungen von Literatur (als Produktion eines Diskurses oder als schöpferische Offenbarung einer ewigen Wahrheit) sich nur um so schärfer differenzieren. Mit der Doktorarbeit war ein breites Spektrum von Fragen eröffnet: Einmal die gegenseitIge Faszination des scheinbar Unvereinbaren, der Literatur und der Naturwissenschaft, wie sie sich in den von Jut~ Kolkenbrock-Netz untersuchten Autobiographien von WissenschaftlerInnen niederschlägt. Dann die Rolle der Literatur bei der »Normalisierung« von Subjektivität und Sexualität: In einem Beitrag über den »Mann als Statthalter des Normalen« (kultuRRevolution 9/1985) analysierte sie den paradoxerweise »modernen« Trend der wilhelmini schen Zensurpraxis und der Männerbünde gegen »Schmutz und Schund«, sich auf das subjektive »Empfinden« des »normalen Mannes« zu berufen. Ihre sehr genaue Lektüre wies auf, daß als Subjekt der »Normalität« immer ein männli ches gesetzt war, das allein befähigt schien, »weibliches Schamgefühl« mit zu berücksichtigen, da nur ihm die Konfrontation mit dem »Schmutz« zuzumuten war! Ihre zahlreichen Beiträge zu weiblichem Schreiben gingen niemals von einer präexistenten, »natürlich« gegebenen »Weiblichkeit« aus, sondern fragten präzise nach den durch historisch verschiedene Diskurstypen allererst mitkonstituierten Formen weiblicher Subjektivität. Dieser Ansatz führte in dem gemeinsam mit Marianne Schuller verfaßten Essay »Frau im Spiegel« (AS 92) zu einer feministi schen Kritik an damaligen Erfolgsbüchern wie Anja Meulenbelts Die Scham ist vorbei. Das Konzept eines mit sich identischen weiblichen Subjekts wurde als - in den klassischen männlichen Autobiographien seit Rousseau vorgeprägter - Mythos dekonstruiert. An Texten von Christa Wolf, Maxie Wander und Rossana Rossanda wurde gezeigt, wie es gelingen kann, ein weibliches Leben als Folge niemals aufgehender radikaler Brüche zu schreiben und Freiheit gerade als Demontage von Identität zu gewinnen. Hier erwies Jutta Kolkenbrock-Netz sich wesentlich von Lacans Kampf gegen eine ichpsychologische Lektüre Freuds angeregt. In den letzten Jahren fand Jutta Kolkenbrock-Netz anläßlich von Symposien wie dem über »Nationale Mythen und Symbole« in Iserlohn (mit ihrem Beitrag über den Streit zwischen Haeckel und Virchow über »deutsche« Naturwissen schaft, Stuttgart 1985) oder dem in Bielefeld über »Diskurstheorien und Litera turwissenschaft« (mit ihrem exemplarischen Beitrag »Diskursanalyse und Narra tivik«, Frankfurt/M 1986) zunehmend auch in der breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit die verdiente Anerkennung. Im diesem ihrem letzten Winter semester hat sie Seminare über Joseph Roth und Walter Benjamin durchgeführt und sich angesichts der Pogromwelle gegen Flüchtlinge einer Gruppe »SOS Rassismus« angeschlossen. Jürgen Link DAS ARGUMENT 192/1992 © ~~--------------, Volksuni. Das Lernfest zu Pfingsten. Drei Tage zum Zuhören, Mitreden, Streiten, Leute treffen und Feiern 13. Berliner Volksuni Pfingsten, 'Wie gestern und morgen sich 5.-8. mächtig vermischen .... Brempunkt: Sozialpolitik Juni 1992 Die politische Ökonomie des Einheitsprozesses Humboldt Industriepolitik Universität Zukunft der Gewerkschaften Unter den Betriebliche Interessenvertretung Linden 6 Ringen um politische Handlungs fähigkeit: Frauenbewegungen im neuen Deutschland Neue Welt(un)ordnung: AufschWUlg für das Patriarchat? Abseits( -Fallen)? Feministischer Marsch durch die Institutionen Sein oder fremd sein: Rassismus und Alltagsdenken Mit vereinten Kräften: Krisen, Kämpfe, Chancen des kultlXelien Zusammell'Nachsens Solidarität im Treibhaus? Energie und Chemiewende! Restaurations politik der AKW-Lobby Kriegsgefahren! -Friedenschancen? Kapitalismus -Sozialismus - "Dritte" Welt Herausforderungen der Ökumene des christlichen Internationalismus Kindertheater - Ein Clowntheaterstück von und mit Boris Radi voj und Gisela Klyczyk IN DEUTSCHLAND L ________ _

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