© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Das Alpenmurmeltier (Marmota m. marmota) — eine genetisch verarmte Tierart? Biochemisch-genetische Analysen von Graubündner Vorkommen geben Antwort U. BRUNS, A. HAIDEN & F. SUCHENTRUNK Abstract A total of 282 Alpine marmots (Mar- polymorphic. The overall rate of polymor- mota marmota) from three local populati- phism (16,7 %) was significantly higher ons of the canton Grisons (Switzerland) compared to the marmot populations from was screened for allelic variability at 48 the Eastern Alps studied earlier. The isozyme loci by horizontal starch gel elec- Hg/P-rates of the presently analyzed popu- trophoresis. It was our aim to test the lations were well in the range found in hypothesis put forward by PRELEUTHNER "undisturbed" (i.e., without bottleneck & PlNSKER (1993) assuming a "species- history) populations of various mammali- wide depletion of genetic variability". an species. Thus, the species-wide depleti- Based on a sample of 25.436 genes inve- on hypothesis of Alpine marmots cannot stigated, eight loci (out of 48) were found be further maintained. Stapfia 63, zugleich Kataloge des OÖ. Landesmuseums, Neue Folge Nr. 146 (1999), 139-148 139 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Einleitung population dieselben genetischen Varianten an denselben zwei Loci nachweisen lassen Alle bisher beim Alpenmurmeltier durch- (ARNOLD 1990). Jüngste Untersuchungen der geführten Untersuchungen zur Variabilität der Längenvariation von Mikrosatelliten-Loci Proteingene, also jener Erbanlagen, die für die (eine spezielle Fraktion der nichtkodierenden Produktion der körpereigenen Eiweiße verant- Erbsubstanz; siehe den Beitrag von KRUCKEN- wortlich sind, deuten auf eine sehr geringe HAUSER et al.), die gewöhnlich so variabel Erbvielfalt dieser Tierart hin. Mittels Enzyme- sind, daß sie eine Identifikation von Einzelin- lektrophorese von 8430 Genproben aus 13 dividuen ermöglichen („genetischer Fingerab- verschiedenen Gebieten in Österreich und druck"), ergaben für Murmeltiere aus weiten Bereichen des Vorkommens ebenfalls eine nur geringe Variabi- lität (KLINKICHT 1993, RASSMANN et al. 1994, PRELEUTHNER et al. 1995, KRUCKENHAUSER et al. 1997). Während bei den eingebürgerten Populationen wegen der wenigen jeweils zur Bestandesgründung heran- gezogenen Individuen ein Verlust an Erbvielfalt verständlich ist („Foun- der-Effect", siehe Beitrag von PRE- LEUTHNER &. PlNSKER), läßt sich das generell geringe Ausmaß an geneti- scher Variabilität auf Enzymebene bei den bodenständigen Populationen nicht so einfach erklären. Unter den verschiedenen Möglichkeiten, die zu einem Verlust an genetischer Vielfalt bei natürlichen Populationen führen können (vgl. z. B. HEDRICK 1985), haben PRELEUTHNER & PlNSKER (1993) insbesondere die Hypothese vertreten, daß die gesamte Art auf- grund eines oder mehrerer Fla- schenhals-Ereignisse im Verlauf der nacheiszeitlichen Besiedelung der alpinen Lebensräume generell an Abb. 1: zwei Schweizer Vorkommen wurde festgestellt, genetischer Vielfalt eingebüßt hat. Jüngste Die drei Untersuchungsgebiete (grüne Flächen) „Bivio", „Avers" und „Val daß nur die zwei Genloci Pep-1 und Sod-1 Untersuchungen der Mikrosatelliten-Loci bei Fex" im südlichen Teil des Kantons allelische Variabilität aufweisen (PRELEUTH- französischen Murmeltieren ergaben aber eine Graubünden (Schweiz). NER & PlNSKER 1993). Für jeden dieser beiden durchaus reichliche Variabilität in diesem Genloci wurden zwei Allele gefunden. Dabei Bereich der Erbsubstanz (GOOSSENS et al. wurden sowohl autochthone (bodenständige) 1996, 1998). Dies kann als Hinweis auf größe- Populationen als auch solche untersucht, die re Variabilität auch in anderen Teilbereichen auf Wiedereinbürgerung von jeweils wenigen der gesamten Erbmasse bei westalpinen Mur- Individuen im vorigen und diesem Jahrhundert meltieren aufgefaßt werden. Ziel der gegenwär- zurückzuführen sind (vgl. auch den Beitrag tigen Untersuchung war es, die Isoenzym- „Genetische Verarmung des Alpenmurmeltie- Variabilität bei einer großen Anzahl an Mur- res Marmota m. marmota in Österreich"). meltieren aus autochthonen Vorkommen der Schon früher haben sich mit entsprechenden Westalpen zu ermitteln. Damit sollte entweder Analysen bei der weitgehend isolierten die Hypothese der artumfassenden genetischen autochthonen Berchtesgadener Murmeltier- Verarmung bekräftigt oder widerlegt werden. 140 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Material und Methoden Die populationsspezifischen Polymorphier- aten sind, ebenso wie die beobachteten und Wir haben Leber- und Nierenproben von erwarteten Heterozygotieraten, die Werte für insgesamt 282 Murmeltieren, die aus jagdli- die durchschnittliche Anzahl der Allele pro chen Gründen im Schweizer Kanton Locus, sowie die Inzuchtkoeffizienten in Tab. Graubünden in den drei Gebieten „Bivio", 3 aufgelistet. Hohe positive Inzuchtkoeffizien- „Avers", und „Val Fex" (siehe Abb. 1) zwi- ten weisen auf geringere Häufigkeiten von schen 1994 und 1997 erlegt wurden, mit Hilfe heterozygoten Genotypen hin, als sie nach der horizontalen Stärkegelelektrophorese und dem Hardy-Weinberg-Gleichgewicht zu enzymspezifischer Färbungen auf Isoenzym- Varianten untersucht. Aus dem Gebiet Bivio standen uns Proben aus vier aufeinanderfol- Locus Genotypen Anode genden Jahren (zwischen 1994 und 1997) zur Verfügung. Für die beiden anderen Gebiete // Is ss // IS SS i waren Organproben jeweils nur von einem Jahr vorhanden. Insgesamt haben wir 48 Loci PEP-1 c analysiert. Für das Gebiet Bivio konnten aber 3 aus technischen Gründen nur 47 Loci für alle Jahre ausgewertet werden. Die Liste der Isoen- o zym-Loci ist in Tab. 1 wiedergegeben. Weitere PEP-2 3 methodische Details, insbesondere auch die (monomorph) 03 Protokolle der enzymspezifischen Färbungen, 1 2 3 finden sich in HARTL & HÖGER (1986), GRIL- Individuum LITSCH et al. (1992), ROTHE (1994), BRUNS et Start \ al. (im Druck). Ein Beispiel für die Gelinter- — Kathode pretation ist in Abb. 2 dargestellt. Die popula- Individuum tions-genetischen und statistischen Analysen wurden mit den Programmen BIOSYS-1 PC erwarten wären, negative Inzuchtkoeffizienten Abb. 2: Beispiel für eine Gelinterpreta- (SWOFFORD & SELANPER 1989) und SPSS 7.5 tion. Links ein Ausschnitt aus einem ergeben sich bei einem Heterozygoten-Über- (vgl. BÜHL & ZÖFEL 1996) durchgeführt. originalen Gelbild mit enzymspezifi- schuß. Die paarweisen genetischen Distanzen, Details zur statistischen Analyse sind ebenfalls scher biochemischer Färbung für Pepti- welche die Differenzierung der Genpools der dase Enzyme (Locus Pep-1 und Pep-2), in BRUNS et al. (im Druck) angegeben. rechts eine Grafik zur Interpretation Populationen zueinander angeben, sind der Genotypen von 3 Individuen. Der zusammen mit den paarweisen Fixationsindi- Locus Pep-2 (untere Reihe) ist mono- Ergebnisse ces, die den Anteil der relativen genetischen morph, der Locus Pep-1 polymorph mit Variabilität, der auf die Populations-Gliede- den 2 Allelen "/" (langsames Allel, Auf der Grundlage von 25.436 ausgewer- unten) und „5" (schneller wandernd, rung entfällt, in Tab. 4 angegeben. Dort fin- oben). Individuum 1 ist homozygot teten Genproben erwiesen sich 8 der 48 Loci den sich auch die Signifikanz-Werte für die mit den Allelen „//", entsprechend Indi- als polymorph. Die Polymorphierate (99 % Unterschiede in den Allel-Frequenzen. In viduum 3 mit den Allelen „ss". Das Kriterium) beträgt für alle drei regionalen Individuum 2 ist heterozygot „Is" und Tab. 5 sind die Allel-Frequenzen für die poly- zeigt die für dimere Enzymstrukturen Stichproben zusammen 16,67 Prozent. Jeder morphen Loci in der Region Bivio für den charakteristische mittlere „Hybrid- polymorphe Locus wies zwei Allele auf. Die Zeitraum 1994-1997 aufgelistet. bande". Allelfrequenzen der polymorphen Loci sind für die drei Stichprobengebiete in Abb. 3 dar- Diskussion gestellt. Die drei untersuchten Gebiete unter- scheiden sich in vielen Fällen bereits in den Genetische Vielfalt der drei jeweils gefundenen Allelfrequenzen signifi- Graubündner Populationen und die kant (Tab.2). Signifikante Abweichungen „Hypothese der artumfassenden vom Hardy-Weinberg-Gleichgewicht waren genetischen Verarmung beim Alpen- insgesamt nur zweimal an zwei Loci (Aeon in murmeltier" Avers, Pgm-2 in Val Fex) aufgetreten. In bei- Die gegenwärtig untersuchten autochtho- den Fällen waren signifikant weniger hetero- nen Vorkommen des Alpenmurmeltieres im zygote Genotypen vorhanden als aufgrund der Süden des Schweizer Kanton Graubünden zei- Allelfrequenzen zu erwarten gewesen wäre. gen eine deutlich höhere genetische Vielfalt 141 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Abb. 3: im En:ymbereich als alle bisher analysierten Gesamtstichprobe eine signifikant (p=0,039; Allelfrequenzen (dunkelgrün = langsa- Vorkommen in den Ostalpen. Während bei einseitiger Fisher-Test) höhere Polymorphier- mes Allel (I), hellgrün = schnelles Allel (s)) an den acht polymorphen Enzym- allen ostalpinen Murmeltieren bislang nur ate (99 % Kriterium) von 16,7 Prozent als für loci in den drei Graubündner Murmel- zwei polymorphe Loci festgestellt werden alle untersuchten Murmeltierpopulationen tierpopulationen. Signifikante Unter- aus den Ostalpen ^99% = 4,0 %; vgl. auch schiede sind aus Tab. 3 zu ersehen. konnten (ARNOLD 1990, PRELELTHNER & PlNSKER 1993), haben wir mit einem sehr ähn- Beitrag von PRELELTHNER & PINSKER). Im Vergleich mit den beiden anderen bisher lichen Set an untersuchten Loci bei den untersuchten Murmeltierarten, dem nordame- Bündner Murmeltieren acht polymorphe Loci rikanischen Gelbbauchmurmeltier (Marmota gefunden. Dies ergibt für die Bündner flaviventris: P = 40,0 %; vgl. SCHWARTZ & ARMITAGE 1980, 1981) und dem Waldmurmeltier (M. monax: P = 25,0 %; WRIGHT et al. 1987), liegen die für die Bünd- ner Population des Alpenmurmel- tieres ermittelten Polymorphier- aten noch immer relativ niedrig. Dies ist teilweise dadurch bedingt, daß bei den Untersuchungen der amerikanischen Murmeltierarten Pep-1 Sod-1 entweder eine relativ geringe Anzahl an Loci (24 Loci für M. monax) oder ein hoher Anteil an rasch evoluierenden Enzymloci (allein 4 Esterasen waren bei M. flaviventris polymorph) verwendet wurden. Dies erhöht die Chance polymorphe Loci zu finden erheb- lich (vgl. HARTL et al. 1990). Die Polymorphierate für alle von uns Ldh-1 Pgm-1 untersuchten Murmeltieren aus Graubünden (282 Tiere) liegt beim ES29 Vergleich mit Säugerarten aus ver- schiedenen Ordnungen sogar etwas über dem Mittel (Abb. 4). Die Polymorphieraten der einzelnen regionalen Bündner Populationen liegen innerhalb des Bereichs für „ungestörte" (ohne Flaschenhals- Vergangenheit) Säuger-Popula- tionen aus verschiedenen Ordnun- Pgm-2 Aat-1 gen, wenn nur Studien herangezo- gen werden, bei denen ausreichend viele Loci (mindestens 25) ausge- wertet wurden (TlEDEMANN et al. 1996). Die durchschnittliche Hetero- zygotierate der drei untersuchten Populationen liegt knapp unter dem Mittelwert von verschiedenen Säugetierarten, die in unserem Acon Labor mit vergleichbaren Sets an 142 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Enzym-Loci analysiert wurden (Abb. 5). Die auf eine durchschnittliche Heterozygotie von populationsspezifischen erwarteten Heterozy- 3,9 Prozent. Der Durchschnittswert für 46 gotie-Werte (H) für die Graubündner Popu- Land- und Meeres-Säugerarten beträgt nach e lationen (3,2 - 4,1 %, Tab. 2) liegen ebenfalls TlEDEMANN et al. (1996) 3,9 Prozent, wenn im für Säuger aus verschiedenen Ordnungen nur Studien mit genügend Loci (mindestens typischen Bereich. NEVO (1978) errechnete 25) herangezogen werden. Allerdings weisen für zahlreiche Säuger-Arten einen Durch- mehrere Untersuchungen (z.B. GORMANN & schnittswert von 3,6 Prozent, und WOOTEN & RENZI 1979, NEI 1987, LEBERG 1992) darauf SMITH (1985) kamen bei 138 Säuger-Arten hin, daß Flaschenhals-Situationen bei Popula- Abb. 4: Polymorphieraten für Säugerarten aus verschiedenen Ordnungen. Die Mittel- werte ausgewählter Arten werden mit den Daten der Murmeltierpopulatio- nen aus Graubünden verglichen. Die Werte beruhen auf z.T. unveröffent- lichten Ergebnissen aus Arbeiten des Forschungsinstituts. Für jede Tierart standen mindestens 20 Individuen zur Verfügung, und es wurden pro Art mindestens 25 Enzym-Loci untersucht. A V ^ *^ ^ % °4 Abb. 5: Heterozygotieraten für Säugerarten aus verschiedenen Ordnungen. Die Mittelwerte ausgewählter Arten wer- den mit den Daten der Murmeltierpo- pulationen aus Graubünden vergli- chen. Die Werte beruhen auf z.T. unveröffentlichten Ergebnissen. Für jede Tierart standen mindestens 20 Individuen zur Verfügung, und es wur- den pro Art mindestens 25 Enzym-Loci untersucht. 143 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at tionen nicht unbedingt zu einer Verringerung ten Populationen. Dies paßt zu der Auffas- ihrer Heterozygotie führen müssen. Ja sie kann sung, daß die Berchtesgadener Population in sogar nach einem Flaschenhals auch anstei- ihrer Geschichte einem oder mehreren Fla- gen. Deshalb sollte der Heterozygotiegrad schenhälsen ausgesetzt war und außerdem geo- alleine nicht als Hinweis auf einen Fla- graphisch relativ stark isoliert ist (ARNOLD schenhals in der Vergangenheit einer Popula- 1990, PRELEUTHNER & PINSKER 1993, PRE- tion herangezogen werden. HARTL & HELL LEUTHNER et al. 1995, RASSMANN et al. 1994, (1994) und HARTL & PUCEK (1994) haben BRUNS 1997). vorgeschlagen, das Verhältnis von Heterozy- Trotz der vergleichsweise geringen geogra- phischen Distanzen zwischen den drei Bünd- ner Untersuchungsgebieten (Abb. 1) zeigen sich signifikante Unterschiede in den Allel- frequenzen an mehreren Loci (Abb. 2), und die Anzahl der polymorphen Loci schwankt Q) um das Doppelte (zwischen vier und acht). Obwohl aus dem Gebiet Val Fex 41 Tiere untersucht wurden, haben wir dort nur 75 % aller Allele der polymorphen Loci gefunden. Im Untersuchungsgehiet Bivio zeigen zwei Loci (Aeon, Me) nur in einem der vier Jahre einen Polymorphismus (Tab. 4). Dies könnte teilweise erklären, weshalb in den früheren Untersuchungen von zwei Schweizer Murmel- Bivio Avers Val Fex Berchtes- autochthone allochthone gaden Pops. Pops. tierpopulationen durch PRELEUTHNER &. PINS- Ostalpen Ostalpen KER (1993) einige der jetzt polymorphen Loci (n = 3) (n=10) monomorph waren, da die Autoren eine deut- diese Arnold, 1990 Preleuthner & Pinsker, 1993 Untersuchungen (unveröff. Daten) lich geringere Individuen-Stichprobenzahl zur Verfügung hatten. Außerdem kann auch eine Abb. 6: Verhältnis von erwarteter zeitliche Änderung von Allelfrequenzen an Heterozygotie (He) und Poplymorphie- gotierate und Polymorphierate (He/P) als polymorphen Loci bei den Murmeltieren im rate (P) in den gegenwärtig untersuch- Indikator für verringerte genetische Varia- ten Bündner Murmeltierpopulationen Schweizer Untersuchungsgebiet dafür mitver- bilität zu verwenden. Unter verschiedenen im Vergleich (Median, Minimum, Maxi- antwortlich sein. Säugetierarten haben laut TlEDEMANN et al. mum) mit den entsprechenden Werten bei autochthonen (blau) und allocht- (1996) Populationen mit offenkundlicher Im Lichte der gegenwärtigen Ergebnisse honen (grün) Murmeltierpopulationen Flaschenhals-Vergangenheit eine signifikant aus dem Ostalpenbereich (Wert für kann die Hypothese von der artumfassenden höhere H/P-Rate, als Populationen, die Berchtesgaden aus ARNOLD 1990 und e genetischen Verarmung beim Alpenmurmel- unveröff. Daten; die anderen Werte keinen offensichtlichen Flaschenhälsen aus- sind aus den Angaben von PRELEUTHNER gesetzt waren. tier nicht aufrecht erhalten werden. Die & PINSKER 1993 berechnet). Die beiden gegenwärtig untersuchten Bündner Murmel- horizontalen Linien markieren die In Abb. 6 sind die H ,/P-Raten für die drei tiere weisen durchaus eine im „Normalbereich Durchschnittswerte der H/P-Rate für L e ungestörte (untere Linie) und gestörte Bündner Murmeltierpopulationen zusammen für Säuger" liegende genetische Variabilität (obere Linie) Populationen verschiede- mit den entsprechenden Werten für autocht- auf, und das Ergebnis spricht nicht für Fla- ner Säugerarten (nach Daten von TIE- hone und allochthone Populationen aus dem schenhälse in ihrer Populationsgeschichte. Im DEMANN ET AL. 1996). Ostalpenraum dargestellt. Während die Werte Gegensatz dazu zeigen die umfassenden Ergeb- für die Bündner Populationen im mittleren nisse zur Enzymvariabilität und zur Variabilität Bereich von ungestörten Populationen ver- der Mikrosatelliten-Loci der ostalpinen schiedener Säugerarten liegen, sind die Werte Murmeltiervorkommen (ARNOLD 1990, PRE- für die ostalpinen Murmeltierpopulationen LEUTHNER & PINSKER 1993, PRELEUTHNER et erhöht. Letzteres gilt sowohl für allochthone al. 1995, RASSMANX et al. 1994, BRUNS 1997) als auch autochthone Populationen. Auch die eine weitgehende genetische Verarmung. Die- früher untersuchte autochthone Population se kann sich schon in den außeralpinen Vor- aus Berchtesgaden (ARNOLD 1990) zeigt einen kommen während der letzten Eiszeit aufgrund höheren Wert als die gegenwärtig untersuch- von drastischen Populationszusammen- 144 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at brächen oder auch während der postglazialen Zusammenfassung Besiedlungsphase der alpinen Lebensräume ergeben haben. Eventuell sind die späteiszeit- Organproben von 282 Alpenmurmeltie- lichen westalpinen Murmeltierpopulationen, ren (Marmota m. marmota) aus drei Sammel- bevor sie in die freiwerdenden Alpengebiete gebieten des Kantons Graubünden (Schweiz) eingewandert sind, nicht von vorangegange- wurden mittels horizontaler Stärkegelelektro- nen eiszeitlichen Populationszusammen- phorese und enzym-spezifischer Färbungen auf brüchen betroffen gewesen und haben daher allelische Variabilität an 48 Isoenzym-Loci mehr genetische Variabilität erhalten können; untersucht. Ziel der Studie war es, die früher oder aber die nacheiszeitliche Besiedlungspha- aufgestellte Hypothese von einer artumfassen- se in den Westalpen und die späteren den genetischen Verarmung des Alpenmur- Populationsentwicklungen waren nicht so meltieres zu überprüfen. Acht Loci wiesen sehr von Flaschenhälsen und geographischen diallelische Polymorphismen auf. Die Poly- Isolationseffekten betroffen wie die Murmel- morphierate betrug für alle Murmeltiere 16,7 tiere in den autochthonen Populationen der Prozent und war signifikant (p=0,039) höher Ostalpen. Die signifikante genetische Diffe- als die früher für ostalpine Murmeltiere gefun- renzierung, die wir zwischen den drei gegen- dene. Die He/P-Raten der drei lokalen Bünde- wärtig untersuchten Bündner Populationen ner Populationen lagen im Bereich derer von feststellen konnten (siehe Tab. 4), weist aber „ungestörten" (d.h., nicht durch Flaschenhals darauf hin, daß selbst in Lebensräumen mit beeinflußten), Säugerpopulationen aus ver- offensichtlich weiter, nicht stark verinselter schiedenen Ordnungen. Die Hypothese einer Verbreitung (MÜLLER 1996), über relativ artumfassenden genetischen Verarmung beim geringe geographische Distanz Genflüsse zwi- Alpenmurmeltier kann somit nicht aufrecht schen Murmeltiervorkommen in unterschied- erhalten werden. lichem Ausmaß verringert sein können. Dadurch wird eine eigenständige Entwicklung von regionsspezifischen Genpools beim Danksagung Alpenmurmeltier gefördert. Die gegenwärtig untersuchte Schweizer Region könnte ein Wir danken Dr. Peider RATTI (Kantonaler Gebiet darstellen, in das Murmeltiere aus ver- Jagd- und Fischereiinspektor, Chur, Graubün- schiedenen eiszeitlichen Refugien (südlich, den) und seinen Wildhütern für die Erlaubnis nordwestlich und nordöstlich des Alpen- und die Organisation der Probennahme. Prof. bogens) eingewandert sind. Eine umfassende W. ARNOLD (Wien) regte die Untersuchungen Analyse der geographischen Strukturierung an und das Team vom Forschungsinstitut f. der westalpinen Murmeltiervorkommen Wildtierkunde u. Ökologie (Veterinärmed. könnte Aufschluß über die nacheiszeitliche Universität Wien) half bei der Probennahme. Besiedlungsgeschichte von verschiedenen gla- 'Prof. P. LANFRANCHI (Universität Mailand), zialen Refugien geben. sein Team und Dr. S. CALDEROLA (Ozzano/Bologna) halfen ebenfalls bei der Probennahme und Weiterversorgung. Die Grafiken wurden von A. KÖRBER (Wien) erstellt. Die Schweizerische Bankgesellschaft unterstützte dieses Projekt in Teilen. 145 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Tabelle 1: Untersuchte Isoenzyme/-Systeme, Abkürzungen, E.C. Codes, Anzahl der analysierten Loci (NL) und jeweils verwendete Organproben (L = Leber, N = Niere, H = Herz) sind angegeben. Litera- turhinweise bzgl. der verwendeten enzymspezifischen Färbungen sind bei GRILLITSCH et al. (1992) angegeben. IsoenzymASystem Abkürzung E.C.-Nr. ML Organ- Pröbe Alcohol Dehydroqenase ADH 1.1.1.1 1 L cx-Glvcerophosphat Dehvdroqenase a-GPDH 1.1.1.8 1 L Sorbitol Dehvdroqenase SDH 1.1.1.14 1 L Lactat Dehvdroqeanse LDH 1.1.1.27 2 N Malat Dehvdroqenase MDH 1.1.1.37 l N Malat Enzym ME 1.1.1.40 UN Isocitrat Dehvdroqenase IDH 1.1.1.42 7 N 6-Phosphoqluconat Dehvdroqenase PGD 1.1.1.44 N Glucose Dehvdroqenase GDH 1.1.1.47 L Glucose-6-Phosphat Dehvdroqenase G-6-PD 1.1.1.49 L Glvceraldehyd-3-Phosphat Dehvdroqenase GAPDH 1.2.1.12 L Xanthin Dehvdroqenase XDH 1.2.3.2 L Glutamat Dehvdroqenase GLUD 1.4.1.3 L NADH-Diaphorase DIA 1.6.2.2 N Catalase CAT 1.11.1.6 N Superoxid Dismutase SOD 1.15.1.1 L Purin Nucleosid Phosphorvlase NP 2.4.2.1 L Aspartat Aminotransferase AAT 2.6.1.1 l N Glutamat Pvruvat Transaminase GPT 2.6.1.2 L Hexokinase HK 2.7.1.1 L Pvruvat Kinase PK 2.7.1.40 H Phosphoqlvcerat Kinase PGK 2.7.2.3 N Creatin Kinase CK 2.7.3.2 ;> L Adenvlat Kinase AK 2.7.4.3 > L Phosphoqlucomutase PGM 2.7.5.1 N Esterasen ES 3.1.1.1 N Fructose-1,6-Disphosphatase FDP 3.1.3.11 L Saure Phosphatase ACP 3.1.3.2 N ß-Glucuronidase ß-GUS 3.2.1.31 L Peptidasen PEP 3.4.11 L Leucinamino Peptidase LAP 3.4.11.1 N Amino Acvlase-1 ACY-1 3.5.1.14 N Adenosin Deaminase ADA 3.5.4.4 N Aldolase ALD 4.1.2.13 H Carbonat Dehvdroqenase CA 4.2.1.1 N Fumarat Hydratase FH 4.2.1.2 N Aconitase ACON 4.2.1.3 N Glyoxalase GLO 4.4.1.5 L Mannose-6- Phosphat Isomerase MPI 5.3.1.8 N Glucose Phosphat Isomerase GPI 5.3.1.9 N Tabelle 2: Signifikanzwerte für paarweise Allelfrequenz-Vergleiche zwischen den drei Untersuchungsge- bieten. Signifikanz anhand von G- oder Fisher's exact Tests und sequentiellem Bonferroni-Ver- fahren, das für mehrmaliges Testen korrigiert, n. s. = nicht signifikant. Locus Bivio (1) Val Fex (2) Avers(3)Locus Bivio (1) Val Fex (2) Avers (3) Pep-1 (1) - <0.001 <0.001 Sod-1 (1) n.s. <0.001 (2) <0.001 (2) <0.001 (3) - (3) - Ldh-1 (1) - <0.001 <0.001 Pqm-1 (1) n.s. n.s. (2) <0.001 (2) . n.s. (3) - (3) . Pqm-2 (1) - <0.001 n.s. Aat (1) n.s. n.s (2) - <0.001 (2) _ n.s. (3) . (3) _ Acon (1) - n.s. n.s. Me (1) n.s. n.s. (2) n.s. (2) _ n.s. (3) - (3) - 146 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Tabelle 3: Populationsspezifische durchschnittliche beobachtete (Ho) und erwartete (He) Heterozygotier- aten, Polymporphieraten (99% Kriterium), durchschnittliche Anzahl von Allelen pro Locus (A) und Inzuchtkoeffizienten (FJJ) bei den drei Graubündner Murmeltierpopulationen. In Klammern sind jeweils die Standardfehler angegeben. Alle Werte beruhen auf 48 untersuchten Loci. BIVIO AVERS VAL FEX Ho 0,038 (0,017) 0,038 (0,016) 0,021 (0,012) He 0,038 (0,016) 0,041 (0,017) 0,023 (0,013) P 14,58 14,58 8,33 A 1,17 (0,05) 1,15 (0,05) 1,08 (0,04) Fis -0,005 0,06 0,08 Tabelle 4: Paarweise genetische Distanzen zwischen den drei Bündner Murmeltier-Gebieten. Über der Dagonale: NEI'S (1978) D (erste Reihe) und modifizierte Rogers' Distanzen (WRIGHT 1978) (zweite Reihe); unter der Diagonale: Fj-p -Werte (erste Reihe) und Signifikanz-Werte für FJJ ist größer als 0,0 (zweite Reihe). BIVIO VAL FEX AVERS BIVIO 0.010 0.005 0.100 0.069 VAL FEX 0.142 - 0.018 p<0.001 0.134 AVERS 0.058 0.222 p<0.001 p<0.001 Tabelle 5: Allel-Frequenzen (f(l) = langsames Alle), f(s) = schnelles Allel) für die polymorphen Loci in Bivio von 1994 bis 1997. n = Anzahl der Individuen. Locus 1994 1995 1996 1997 n 9 48 73 64 Pep-1 f(D 0.667 0.521 0,5 0,484 f(s) 0.333 0.479 0,5 0,516 Sod-1 fd) 0.389 0.396 0.301 0.305 f(s) 0.611 0.604' 0.699 0.695 Ldh-1 fd) 0.772 0.885 0.746 0.892 f(s) 0.222 0.115 0.254 0.108 Pgm-1 fd) 0.722 0.958 0.904 0.969 f(s) 0.278 0.042 0.096 0.031 Aat fd) 0.889 0.927 0.993 0.992 f(s) 0.111 0.073 0.007 0.008 Acon ffl) 1.0 1.0 0.986 1.0 f(s) 0.0 0.0 0.014 0.0 Me fd) 1.0 1.0 0.986 1.0 f(s) 0.0 0.0 0.014 0.0 147 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Literaturverzeichnis KRUCKENHAUSER L, MILLER W.J., PRELEUTHNER M. & W. PINSKER (1997): Differentiation of Alpine marmot ARNOLD W. (1990): The evolution of marmot sociality: populations traced by DNA fingerprinting. — J. I. Why disperse late? — Behav. Ecol. and Socio- Zool. Syst. Evol. Research 35: 143-149. biol. 27: 229-237. LEBERG P.L. (1992): Effects of population bottlenecks BÜHL A. & P. ZÖFEL (1996): SPSS für Windows Version on genetic diversity as measured by allozyme 6.1. Praxisorientierte Einführung in die moder- electrophoresis. — Evolution 46: 477-494. ne Datenanalyse. — 3. Aufl. Addison-Wesley- Longman. MÜLLER J.P. (1996): Das Murmeltier. — Desertina-Vlg. Chur. BRUNS U. (1997): Untersuchungen zu Grad und Häu- figkeit von Inzucht beim Alpenmurmeltier NEI M. (1978): Estimation of average heterozygosity (Marmota m. marmota) mittels DNA- finger- and genetic distances from a small number of printing. — Diplomarbeit, Univ. Marburg/L., individuals. — Genetics 89: 583-590. Deutschland, 80 +25 pp. NEVO E. (1978): Genetic variation in natural popula- tions: patterns and theory. — Theor. Pop. Biol. BRUNS U., HAIDEN A. S F. SUCHENTRUNK (im Druck): Allo- zyme variability in autochthonous colonies of 13: 121-171. Swiss Alpine marmots (Marmota m. marmota): a PRELEUTHNER M. & W. PINSKER (1993): Depauperated confirmation of the „species - wide bottleneck gene pools in Marmota m. marmota are caused hypothesis"? — Folia Zool. (SuppL). by an ancient bottle neck: electrophoretic ana- GORMAN G.C. & J. RENZI (1979): Genetic distances and lysis of wild populations from Austria and Swit- heterozygosity estimates in electrophoretic stu- zerland. — Acta Theriol. 38Suppl. 2: 121-139. dies: effects of sample sizes. — Copeia 2: 242- PRELEUTHNER M., PINSKER W, KRUCKENHAUSER L, MILLER 249. W.J. & H. PROSL (1995): Alpine marmots in Aus- GOOSSENS B., COULON J., ALLAINE D., GRAZIANI L, BEL, M.- tria. The present population structure as a result C. & P. TABERLET (1996): Immigration of a preg- of the postglacial distribution history. — Acta nant female in an alpine marmot family group: Theriol. Suppl. 3: 87-100. behavioural and genetic data. — C.R. Acad. Sei. RASSMANN K, ARNOLD W. & D. TAUTZ (1994): Low gene- Paris 319: 241-246. tic variability in a natural alpine marmot popu- GOOSSENS B., GRAZIANI L, WAITS L. P., FARAND E., MAGNO- lation (Marmota marmota, Sciuridae) revealed LON S., COULON J., BEL, M.-C, TABERLET P. & D. by DNA fingerprinting. — Mol. Ecol. 3: 347-353. ALLAINE (1998): Extra-pair paternity in the mono- ROTHE G.M. (1994): Electrophoresis of Enzymes - gamous Alpine marmot revealed by nuclear Laboratory Methods. — Springer LAB Manual DNA microsatellite analysis. — Behav. Ecol. Berlin.. Sociobiol. 43: 281-288. SCHWARTZ O.A. & K.B. ARMITAGE (1980): Genetic varia- GRILLITSCH M., HARTL G.B., SUCHENTRUNK F. S R. WILLING tion in social mammals: The marmot model. — (1992): Allozyme evolution and the molecular Science 207: 665-667. clock in the Lagomorpha. — Acta Theriol. 37: 1- 13. SCHWARTZ O.A. S K.B. ARMITAGE (1981): Social structu- re and dispersion of genetic variation in the yel- HARTL G.B. & P. HELL (1994): Maintenance of high low-bellied marmot (Marmota flaviventris). — levels of allelic variation in spite of a severe In: SMITH, M.H. & JOULE, J. (eds). Mammalian bottleneck in population size: the brown bear population genetics. The University of Georgia {Ursus arctos) in the Western Carpathians. — Press, Ahtens, pp. 139-159. Biodiv. and Conserv. 3: 546-554. SWOFFORD D.L. & R.B. SELANDER (1989): BIOSYS-1. A PC HARTL G.B. & Z. PUCEK (1994): Genetic depletion in the program for the analysis of allelic variation in European Bison (Bison bonasus) and the signifi- Genetics. — University of Illinois. Anschriften der Verfasser: cance of electrophoretic heterozygosity for con- servation. — Conserv. Biol. 8: 167-174. TlEDEMANN R, HAMMER S, SUCHENTRUNK F. S G.B. HARTL (1996): Allozyme variability in medium-sized HARTL G.B. & H. HÖGER (1986): Biochemical variation Dipl.-Biol. Ute BRUNS, Anita and large mammals: determinants, estimators, in purebred and crossbred strains of domestic HAIDEN, Dr. Franz SUCHENTRUNK rabbits Oryctolagus cuniculus L. — Genet. Res. and significance for conservation. — Biodiv. Lett. 3:81-91. (Camb.) 48: 27-34. Forschungsinstitut für Wildtierkun- WRIGHT S. (1978): The genetic structure of populati- de und Ökologie der HARTL G.B., WILLING R. & F. SUCHENTRUNK (1990): On the biochemical systematics of selected mammalian ons. Vol. 4: Variability within and among natu- Veterinärmedizinischen Universität taxa: empirical comparison of qualitative and ral populations. — Univ. Chicago Press, Chicago. Wien, quantitative approaches in the evaluation of WRIGHT J., TENNANT B.C. S B. MAY (1987): Genetic protein electrophoretic data. — Z. zool. Syst. variation between woodchuck populations with Savoyenstraße 1, Evolut. Forsch. 28: 191-216. high and low prevalence rates of woodchuck A-l 160 Wien HEDRICK P.W. (1985): Genetics of Populations. — hepatitis virus infection. — J. Wildl. Diseases 23: Austria Jones & Bartlett Publ., Inc. Boston. 186-191. [email protected] KLINKICHT M. (1993): Untersuchungen zum Paarungs- WOOTEN MX. & M.H. SMITH (1985): Large mammals [email protected] system des Alpenmurmeltieres (M. m. marmota) are genetically less variable? — Evolution 39: mittels DNA-Fingerprinting. — Dissertation, 210-212. [email protected] Universität München. 148