Das Abkommen der Europäischen Kernenergieagentur (OECE) über die Haftpflicht auf dem Gebiet der Kernenergie Von Dr. Franz Schmid OECE (Organisation Europeenne de Cooperation Economique), Agence europeenne pour I'energie nucleaire, Paris Springer-Verlag Wien GmbH 1961 Das Abkommen der Europäischen Kernenergieagentur (OECE) über die Haftpflicht auf dem Gebiet der Kernenergie Von Dr. Franz Schmid OECE (Organisation Europeenne de Cooperation Economique), Agence europeenne pour I'energie nucIeaire, Paris Springer-Verlag Wien GmbH 1961 ISBN 978-3-211-80595-4 ISBN 978-3-7091-4490-9 {eBook} DOI lO_lO07/978- 3-7091-4490-9 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) oder sonstwie zu vervielfältigen (Sonderausgabe des in den "Juristischen Blättern", 82. Jahrgang, Heft 18/19 und Heft 20/21, veröffentlichten Beitrages) Vorwort Die Europäische Kernenergieagentur (ENEA) wurde am 17. 12. 1957 durch eine Ratsentscheidung des Europäi schen Wirtschaftsrates (OECE) gegründet. Sie hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern ist ein Spezialorgan der OE CE für Kernenergiefragen. Das leitende Organ der ENEA ist der Direktionsa usschuß für Kernenergie, der sich aus Vertretern der 18 Mitgliedstaaten der OECE zusam mensetzt. Die USA und Kanada nehmen an seinen Arbeiten als assoziierte Mitglieder der OECE ebenfalls teil. Aufgabe der ENEA ist es, die Entwicklung der Kern energie in Europa durch internationale Zusammenarbeit und internationalen Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten der OECE zu fördern. Sie dient ausschließ lich friedlichen Zwecken, was durch das Abkommen vom 20. 12. 1957 über die Einrichtung einer Sicherheitskon trolle und eines internationalen Gerichtshofes ausdrück lich sichergestellt ist. Zur Verwirklichung einer europäi schen Zusammenarbeit hat die ENEA bisher folgende in ternationale Gemeinschaftsunternehmen - an denen auch österreich beteiligt ist - gegründet: Die Europäische Ge sellschaft für die chemische Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe (EUROCHEMIC) mit dem Sitz in Mol (Belgien), errichtet auf Grund eines Abkommens vom 20. 12. 1957; den Schwerwasser-Siedereaktor in Halden (Norwegen) und das gemeinsame Projekt eines Hochtem peraturreaktors in Winfrith Heath (England) . Eine weitere wichtige Funktion der ENEA ist die Ausarbeitung internationaler Normen, vor allem auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes, des Transportes und der Beseitigung radioaktiver Stoffe, der Versicherung und Haftpflicht. Das Abkommen über die Haftpflicht auf dem Gebiet der Kernenergie ist das Ergebnis einer nahezu dreijährigen zielbewußten Arbeit auf internationaler Ebene. Unmittel bar nach der Gründung der Agentur hat der Direktions ausschuß der ENEA eine Arbeitsgruppe von Juristen und technischen Experten mit der Ausarbeitung eines inter- nationoalen Abkommens beauftragt. Nach langwierigen Ver handlungen auf Regierungsebene wurde das Abkommen am 29. 7. 1960 von allen OECE-Staaten mit Ausnahme Ir lands und Islands unterzeichnet. Es wird nach erfolgter Ratifizierung durch wenigstens 5 Signatarstaaten voraus sichtlich im Sommer 1961 in Kraft treten. Das Abkommen schafft in Europa einheitliches Recht im Bereich der Haft pflicht für Kernanlagen und bildet somit die Grundlage für die einschlägige nationale Gesetzgebung der Vertrags staaten. Es stellt überdies die erste international verbind liche Regelung dieser Probleme dar und dürfte daher einen maßgebenden Einfluß auf die Ausarbeitung anderer regio naler Abkommen sowie einer weltweiten Konvention aus üben. Der Verfasser war in der Rechtsabteilung der Euro päischen Kernenergieagentur tätig und gibt im folgenden s,eine persönliche Meinung wieder. Par i s, im Dezember 1960. Franz Schmid Inhaltsverzeichnis Seite A. Die rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Grund lagen des Abkommens I. Moderne Technik und Gefährdungshaftung 1 II. Das Risiko der Kernspaltung . . . . . . 4 III. Die Rechtsstellung des Geschädigten . . . 7 IV. Das Risiko und der Versicherungsmarkt . 10 V. Die Haftung des Inhabers einer Kernanlage 12 VI. Die Haftung der Rahmenindustrie . . . . . . 15 VII. Die Notwendigkeit einer Staatsintervention . 20 VIII. Die Notwendigkeit einer internationalen Regelung 24 B. Die Bestimmungen des Abkommens I. Ziele und Aufgaben des Abkommens . . . . . . . 26 11. Der materielle Anwendungsbereich des Abkommens 27 III. Der räumliche Geltungsbereich des Abkommens 31 IV. Art und Umfang der Haftung . . . . . . . . . . 32 V. Die haftpflichtige Person . . . . . . . . . . . . 35 VI. Das Rückgriffsrecht des Inhabers der Kernanlage -37 VII. Mehrere Haftpflichtige . . . . . . . . . . . . . 38 VIII. Die Haftung für Transportunfälle . . . . . . . . 39 IX. Transportdauer, Haftungsübergang und Haftungsein- tritt .............. . 41 X. Besondere Transportbestimmungen 44 XI. Die Rechtsstellung des Frachtführers 47 XII. Art und Umfang der Ansprüche .. 49 XIII. Betriebsunfälle und Berufskrankheiten 52 XIV. Die Verjährung der Ansprüche 53 XV. Die Deckung der Haftpflicht 56 XVI. Das zuständige Gericht . . . 58 XVII. Das anzuwendende Recht . . 60 XVIII. Die Vollstreckung der Urteile und "Oberweisung der Entschädigungsbeträge 62 XIX. Staatsintervention und Staatshaftung 63 XX. Schlußbestimmungen 64 A. Die rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Grundlagen des Abkommens 1. Moderne Technik und Gefährdungs haftung Die moderne Technik und Industrie haben unser Recht zutiefst beeinflußt. Noch um die Mitte des 19. Jh. galt nahe zu uneingeschränkt der Grundsatz, daß niemand ohne Ver schulden für die Folgen seines HandeIns oder Unterlassens hafte. Die wachsenden Gefahren, die mit dem maschinellen und industriellen Aufschwung zwangsläufig verbunden wa ren, führten jedoch in einigen europäischen Ländern zu einer geradezu radikalen Umwandlung des überkommenen Haf tungsbegriffes. Das Prinzip der Verschuldenshaftung wurde zunächst zugunsten der Arbeiter durchbrochen. Diese mußten seiner zeit ein Verschulden ihres Brotherrn nachweisen, wenn sie für einen erlittenen Arbeitsunfall Entschädigung erhalten wollten. Das war sowohl rechtlich als auch sozial unbefrie digend. Deshalb versuchte der Gesetzgeber, das Problem mit einer geteilten Schuldvermutung oder einer Verschiebung der Beweislast zu lösen. Doch auch eine Verschiebung der Beweislast bedeutete für den sozial Schwächeren keine be friedigende Regelung, da er sich kaum auf einen Gegen beweis gegen seinen Arbeitsherrn einlassen konnte. Öster reich war unter den ersten Ländern, die schon in ihren frühen Sozialgesetzgebungen auf eine Gefährdungshaf tung des Arbeitgebers hinzielten. Der Beweis eines erlit tenen Arbeitsunfalls genügte, um das Recht auf Entschädi gung durchzusetzen. Aus sozialen Gründen wurde schließlich die Idee einer Haftung vollkommen aufgegeben. Die moder nen Sozialversicherungsgesetze haben dem Arbeiter die Stellung eines Versicherten eingeräumt. Mit der fortschreitenden Entwicklung der mechani schen und chemischen Industrie, der Gas- und Elektrizitäts- Schmid, Kernenergieagentul' 2 Die rechtlichen Grundlagen des Abkommen" werke und insbesondere der modernen Transportmittel er weiterte sich der Kreis der gefährdeten Personen. Daher setzte sich nach und nach die Auffassung durch, daß ge fährliche Anlagen und Maschinen nur betrieben werden dür fen, wenn der Unternehmer bereit ist, nicht nur für Arbeits unfälle, sondern für alle aus seiner Tätigkeit entstehenden Schäden zu haften, und dies selbst bei unverschuldeten, ja sogar unvermeidlichen Unfällen. Die drei großen europäischen Rechtssysteme sind hier verschiedene Wege gegangen. Im anglo-sächsischen und im Rechtskreis des CC. wurde die Idee der Gefährdungshaftung von der Rechtsprechung entwickelt, während das deutsche Recht die Gefährdungshaftung an einen ausdrücklichen Gesetzesbefehl knüpfte. Die Entscheidung des Englischen Oberhauses im Prozeß Rylands v. Fletscher vom Jahre 1868 stellt fest, daß "jeder mann, der ein für Dritte gefährliches Unternehmen betreibt, für alle daraus entstehenden Schäden haftet, selbst wenn ihn kein Verschulden trifft". Diese Entscheidung wurde in der Folge der Präzedenzfall der anglo-amerikanischen Rechtsprechung 1). Die Ausübung einer gefährlichen Tätig keit oder der Besitz gefährlicher Sachen läßt eine Haftung ohne Verschulden entstehen. Dieses System könnte auch auf den Bereich der Kernenergie Anwendung finden. Doch fra gen wir uns, ob der Richter sämtliche Tätigkeiten als ge fährlich ansehen würde oder ob z. B. durch Radioisotope verursachte Schäden davon ausgenommen wären. Bevor eine richterliche Entscheidung gefallen ist, kann aber niemand mit Gewißheit sagen, besonders nicht bei neuartigen tech nischen Betrieben, ob eine bestimmte Tätigkeit oder Sache als gefährlich zu gelten habe oder nicht. Der Umstand, ob der Richter auf Verschuldens- oder Gefährdungshaftung erkennt, hat jedoch für alle Beteiligten weitreichende recht liche und wirtschaftliche Folgen. Im französischen Recht und in jenen Ländern, die den CC. übernommen haben, beruht die Gefährdungshaftung auf der richterlichen Auslegung des Art. 1384 (1) CC. Dieser sieht vor, daß man nicht nur für den Schaden, den man selbst verursacht, sondern auch für die Sachen haftet, die man in seiner Obhut hat. Auf Grund einer höchstrichter- 1) Prosser, The Law of Torts2 (1955). Moderne Technik und Gefährdungshaftung 3 lichen Entscheidung (Cour de Cassation) vom Jahre 1896 ist die französische Rechtsprechung zu einer Haftungsvermu tung (nicht Schuldvermutung !) gelangt, die in ihren Aus wirkungen praktisch der Gefährdungshaftung gleich kommt 2). Um sich von seiner Haftung zu befreien, muß der Inhaber der Sache beweisen, daß der Schaden entweder durch höhere Gewalt verursacht worden oder auf einen Umstand zurückzuführen ist, der mit der Obhut oder der Beschaf fenheit der Sache nichts zu tun hat. Die Frage, ob die In terpretation des Art. 1384 elastisch genug ist, auch Unfälle zu decken, die sich in Kernanlagen ereignen, wurde oft be jaht. In letzter Zeit werden aber Stimmen laut, die das be streiten 3). Das deutsche Recht ist einen anderen Weg gegangen. Die Gefährdungshaftung wurde in österreich, Deutschland und der Schweiz nicht durch die Rechtsprechung, sondern durch den Gesetzgeber eingeführt 4). Sie gilt jedoch nicht für alle gefährlichen Tätigkeiten, sondern ausschließlich für die im Gesetz bezeichneten Anlagen und Maschinen, wie z. B. Eisenbahnen, Kraftwagen, Flugzeuge, Hochspannungs leitungen, Gaswerke und Gasleitungen. Der Haftpflichtige kann sich im allgemeinen nur dann von seiner Haftung be freien, wenn höhere Gewalt eingewirkt hat oder wenn er ein Verschulden des Opfers nachweist. Im Gegensatz zum anglo sächsischen und französischen Rechtssystem ist jedoch die vom Gesetzgeber auferlegte Gefährdungshaftung in ihrem Ausmaß beschränkt, unter der Voraussetzung, daß weder Vorsatz noch grobes Verschulden vorliegt. Diese Bestimmung ist nicht nur ein Ausgleich für die Strenge der Gefährdungs. haftung, sondern hat außerdem eine nicht zu unter schätzende wirtschaftliche Bedeutung: der Unternehmer eines solchen Betriebes kann sich für das Ausmaß seiner Haftpflicht versichern und deshalb das Risiko in seine Ko stenrechnung einbeziehen. Eine Zwangsversicherung ist je doch in der Regel nur für Automobile und Flugzeuge vor gesehen. Die allfälligen Opfer erlangen damit gewissermaßen 2) Maz e a u d et Tun c, Responsabilite civile 5 (1958). 3) Rod i er e, Respons'abilite civile et risque atomique. Revue internationale de droit compare (Vol. 3, 1959). 4) E s s er, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungs haftung (1941). 1" 4 Die rechtlichen Grundlagen des Abkommens eine Garantie für die Erfüllung ihrer Ansprüche. Schließlich ist der Umstand, daß grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz die Haftungsbeschränkung aufhebt, ein Ansporn für den Unter nehmer, alle nur mögliche Sorgfalt anzuwenden, um Un fälle zu verhüten. 11. Das R i s i k 0 der K ern s p alt u n g Wir fragen uns an der Schwelle des Kernzeitalters, ob und inwieweit es nötig sein wird, das Recht den durch die Kernspaltung bedingten Gegebenheiten anzupassen. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst das mit der Kernspaltung verbundene Risiko untersuchen. Die mit der Kernspaltung verbundenen Gefahren wurden häufig maß los übertrieben. Die Gefahr einer spontanen Kettenreaktion beschäftigte nicht nur die Wissenschaft, sondern vor allem die breite öffentlichkeit. Lange Zeit war es ungewiß, ob es gelingen werde, die bei der Kernspaltung freiwerdenden Neu tronen einer absoluten Kontrolle zu unterwerfen. Inzwischen haben wir aber nicht nur gelernt, die unzähligen Einzelvor gänge zu kontrollieren, die sich anläßlich der Kernspaltung in Sekundenbruchteilen abspielen, sondern wir verstehen es jetzt auch, diesen geregelten Ablauf der Kernspaltung für die Energieerzeugung und die dabei anfallenden radioaktiven Isotope für friedliche Zwecke in der Industrie, Landwirt schaft und Medizin zu verwenden. Der Betrieb eines Atommeilers stellt eine solche kon trollierte Kettenreaktion dar, die nur dann gefährlich wer den könnte, wenn sie außer Kontrolle gerät. Das Risiko einer spontanen Kettenreaktion besteht nur noch in jenen An lagen, in denen spaltbare Stoffe hergestellt, aufbewahrt, be arbeitet, verarbeitet oder sonstwie benützt werden. Eine spontane Kettenreaktion könnte jedoch nur dann eintreten, wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sind, sei es, daß die sog. kritische Masse erreicht wird, sei es, daß sonstige physikalische Voraussetzungen zutreffen. Da jedoch die Ge fahrenbedingungen bekannt sind und die Anlagen diesen Umständen Rechnung tragen, ist die Wahrscheinlichkeit dieses Risikos sehr gering. Schließlich muß berücksichtigt werden, daß gewisse reine spaltbare Stoffe, wie z. B. Pluto nium, die Träger der in einer Atombombe freigesetzten Kräfte sind, nach dem gegenwärtigen Stand der Technik