CULTURGESCHICHTE DES O R I E N T S UNTER DEN CHALIFEN. ALFRED VON KREMER. ERSTER BAND. WIEN, 1876. WILHELM BRAUMtJLLER K. K. 1IOF- UMD UNIVKRSITITSBUCHHImDLKR. Alle' Autorsrechte vorbehalten. VORWORT. Es schien mir keine ganz iiberfliissige Arbeit zu sein, eine Culturgeschichte des Orients unter den Chalifen zu schreiben. Die Vorarbeiten hiefur zu machen und die ganze Masse des gesammelten Stoffes nach allgemeinen Gesichts- punkten zu ordnen, fehlte es mir nicht an Gelegenheit w&hrend eines langjahrigen Aufenthaltes in yerschiedenen Gegenden der Levante. Eine gliickliche Fiigung gestattete es mir auch, meine Lern- und Wanderjahre eben auf jenem klassischen Boden besehliessen zu konnen, wo ich sie vor funfundzwanzig Jahren begonnen hatte: in Syrien, an dem herrlichen phonicischen. Gestade. Ich konnte noch einmal die unvergleichliche cole- syrische Ebene durchstreifen und von der Chalifenstadt am Chrysorroas, von Damascus Abschied nehmen, wo so vieles an die Glanzepoche der arabischen Cultur erinnert. Dort begann ich Hand an diese Arbeit zu legen, die sich enge anschliesst an meine Geschichte der herrschenden Ideen des Islams. Die Lehre des Propheten von Mekka und das aus ihr emporgewachsene politische und sociale System ist eine That- sache von so grosser, selbst noch in unsere Zeiten eingrei- fender Wichtigkeit, dass es sich wohl der Miihe lohnt, deren IV Vorwort. culturgeschichtliche Bedeutung ausfiihrlicher und sachgemasser darzustellen als dies bisher geschehen ist. Nur zu oft lasst man sich bei der Beurtheilung orientalischer Zustande durch die Eindrticke der Gegenwart in*e leiten und vergisst hier- iiber jener Zeiten, wo eben dieselben mohammedanischen Vftlker, liber deren Zukunft jetzt so viel beunruhigende Be- trachtungen angestellt werden , die Triiger der Aufklarung, des Fortschrittes und einer bewundernswerthen geistigen Arbeitskraft waren. Es hatte die Civilisation damals ihren Sitz im Osten genommen. Bagdad war nicht bios die politische Hauptstadt des weiten Reichs, sondern auch der Brennpunkt aller wissen- 8chaftlichen Bestrebungen. Dort las man mit dem hinge- bendsten Eifer und der feurigsten Begeisterung Aristoteles und Plato, rief, auf Euklid und Ptolemaus gestiitzt, das wissen- schaftliche Studium der Mathematik und Astronomie ins Leben. Mit Hippokrates und Galenus an der Hand oblag man der Heilkunde und erforschte man die Geheimnisse der Natur. Auf den Schriften der Alten fussend ward riistig weiter gearbeitet und die Menschheit durch neue Ent- deckungen bereichert. Aber nicht bios auf dcm Gebiete der exacten Wissen- schaften machte sich eine so grosse Riihrigkeit bemerklich: auch die philosophischen und juridisch-politischen Studieu fanden die eifrigste Pflege. Man sann iiber dasWesenund die Lebensbedingungen des Staates, erdachte politische Systeme und juridische Theorien, die an Bedeutung alles ubertrafen, was die andern Volker des Mittelaltcrs geleistet haben. Ge- waltige Gedanken, die in Europa erst seit dem letzten Jalir- hunderte sich Bahn brachen, wurden dort schou acht Jahr- hunderte frtther ausgesprochen. Es geniigt hier an die Worte des Rationalisten Nazzam (lebte um 835 Chr.) zu erinnern: „Die erste Vorbedingung des Wisseus ist der Zweifela. — Liegt nicht in diesem Satze der Keim fur alle freie wissen- schaftliche Forschung, im Gegensatze zu dem jede unabh&n- y Vorwort. gige Verstandesthatigkeit erdriickenden, absoluten Autoritats- glauben des Islams? Die Rechtssehule von Bagdad stellte Grundsatze auf wie folgende: dass kein gerichtliches Eingestandniss giltig sei? welches durch Anwendung von Gewaltmaassregeln er- zwungen worden war; dass niemand lediglich auf den Ver- dacht einer strafbaren Handlung hin seiner Freiheit beraubt werden diirfe; dass das Leben eines Nichtmohammedaners oder eines Sklaven ebensoviel werth sei als das eines Reeht- glaubigen oder eines Freien. Man erftrterte in jener Schule Fragen wie die: ob ein Weib das Richteramt bekleiden konne oder nicht; ob Nichtmohammedaner zu Staatsanstel- lungen zuzulassen seien — und es fehlte nicht an Stimmen, welche die Antwort hierauf im bejahenden Sinne abgaben. Ein iiberraschend humaner Geist zeigt sich in allem, was aus jenen Gelehrtenkreisen iiberliefert wird. Kein mo- derner Menschenfreund konnte mit grosserer Entriistung den schmachvollen Handel mit Eunuchen brandmarken, als dies ein arabischer Schriftsteller des IX. Jahrhunderts Chr. thut Ja selbst gegen die Thierqualerei wollten die da- . l) maligen Rechtsgelehrten von Seite der Obrigkeit Fursorge getroflFen wissen. Auf dem Gebiete des Rechts, der Verwaltungslehre, des Finanzwesens lassen sich merkwurdige Spuren einer hochgehenden Culturbewegung nachweisen. Eine Steuerge- setzgebung? welche sich durch ihre fur die damaligen Ver- haltnisse uniibertroffene Vollkommenheit auszeichnete, ward fiir das ganze Reich aufgestellt, ein gut eingerichtetes Post- wesen verband die entferntesten Provinzen, Zwischenzolle waren auf das strengste untersagt und durch die Errichtung localer UnterstUtzungskassen in jeder Stadt, woraus nicht l) Die hierauf beziigliehe Stelle habe ich in meiner Schrift: Cultur- geschichtliche Streifziige auf dem Gebiete des Islams, Leipzig 1873, S. 27 und 68, bekannt gemacht. VI Vorwort. nur die einheimischen Armen, sondern auch mittellose Fremd- linge betheilt wurden und sogar Sklaven freigekauft werden sollten, war eine die ganze mohammedanische Welt umfas- sende Wohlthatigkeitsanstalt von unvergleichlicher Gross- artigkeit geschaffen worden. Freilich wurde dieselbe bald zu selbstsuehtigen Zwecken der Machthaber verwendet, aber ein solches System erdacht und, wenn auch nur zum Theil und fur nicht allzulange Dauer, durchgefiihrt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst des Islams. Die vollste Freiziigig- keit herrschte zwischen den verscliiedenen mohammedani- schen Landern. Die Pilgerfahrt nach Mekka, der Verfolg der gelehrten Studien an den bald aller Orten emporblii- henden Hochschulen und Akademien beibrderten den Ge- dankenaustausch und erleichterten die gegenseitige geistige Anregung. Allein man darf sich durch ein so glanzendes Bild nicht tauschen lassen: diese intellectuelle Stromung durch- drang die Mittolklassen, vorzuglich der stadtischen Bevol- kerung, machte sich aber weder am Hofe selbst noch in den Regierungskreisen geltend. Der orientalische Despo- tismus Hess dort seine ganze Wucht empfinden und im Chalifenpalaste gab es nur ein Gesetz: die Laune des all- machtigen Gebieters oder seiner Favoritinnen. Einzelne Herrscher ibrderten zwar die gelehrten Bestrebungen und huldigten bewusst oder unbewusst dem Zeitgeiste, aber unter den Abbasiden hatten einige entschieden neronische Anlagen. Der Druck des Absolutismus war nur desshalb weniger fuhl- bar, weildemselbenkein byzantinischerVerwaltungsapparat zur Verfugung stand. Die Administration beruhte fast ausschliess- lich auf dem Selfgovernment der Gemeinden, welchen in ihren Angelegenheiten der grosste Spielraum gewahrt blieb. Die Organisation der wenig zaklreichen Regierungsamter war sorgfaltig geregelt und besonders die Pflichten sowie die Rechte des Richteramts wurden von der juridischen Schule, die in Bagdad bliihte, auf das genaueste festgestellt Vorwort. VII und die Competenz der verschiedenen Beh5rden, namentlich der richterlichen und administrativen, ward strenge ab- gegrenzt. In den Regierungs&mtern wurden liber die Hilfs- quellen der Provinzen, die Zahl der Einwohner nach ihren verschiedenen Bekenntnissen7 tiber die Ertragfhhigkeit und Ausdehnung des Culturlandes, der Bergwerke u. 8. w. genaue statistische Verzeichnisse gefuhrt, die, wie wir aus den er- haltenen Bruchstiicken alter Steuerrollen ersehen konnen, durch grosse Genauigkeit sich auszeichneten. Ich glaube, dass diese Zusammenstellung einiger fliichtig herausgegriffenen Thatsachen, welche bisher theils gar nicht bekannt gemacht waren, theils unbeachtet geblieben sind, geniigen durfte, um einen richtigen Einblick zu gewinnen in die Bedeutung der damaligen Civilisation des mohamme- danisehen Orients, die zu schildern der Zweck dieses Buches ist. Aus diesem Grunde halte ich es fur uberfliissig hier noch weitere Belege anzufuhren und gehe statt dem gleich daran, den Plan darzulegen, nach welchem diese Arbeit unternommen ward, sowie den Standpunkt zu bezeichnen, von dem ich die Culturgeschichte aufgefasst habe. Der Staat, als Vereinigung eines ganzen Volkes zu einem gemeinsamen Zwecke, lebt eben so gut fur sich, als in alien seinen Theilen; Staaten treten in der Geschichte mit ganz bestimmter Individualist auf und diese ist nichts anderes als der Gesammtausdruck ihrer Cultur. Die Aufgabe der Culturgeschichte besteht daher nicht bios in der Beschreibung der Sitten und Denkweise, der Angewohnheiten, der geistigen und materiellen Leistungen eines Volkes, sondern eben so sehr des Fortschrittes oder Verfalles des staatlichen Organismus. Nur fiir jene Epoche, die auf eine Zeit zuruckreicht, wo die staatliche Gesellschaft noch nicht bestand, wo die einzelnen Volkerschaften jene hohere Stufe der Cultur noch nicht erreicht hatten, aus welcher der Staat hervorgeht, wo sie noch in dem niedrigeren Entwicklungszustande der Stammesbildung und des Clan- VIII Vorwort. wesens sich befanden, oder wo dieselben gar noch im ein- fachen Urzustande der Familie verharrten, entfallt auch die letztgenannte Aufgabe als gegenstandlos. Da wir den Staat als selbststandigen Organismus be- trachten, der als solcher sein eigenes Leben und seine eigenen Gesetze der Entwicklung hat, so muss die Cultur- geschichte nach zwei Riclitungen hin ihre Aufgabe zu losen suchen. Zuerst hat sic die Entstehung und Ausbildung des staatlichen Gemeinwescns zu verfolgen, dann aber die inner- halb dieses grossen Rahmens zur Thatigkeit kommenden Krafte der einzelnen, die Gesammtheit der Nation bildenden Volksklassen zu erforschen und darzustellen. Der Staat fur sich betrachtet, ist im Volkerleben ein Individuum, wie jeder einzelne Mensch im Privatleben. Gerade so sind zwei Heere, deren jedes zwar aus Hunderttausenden yon mensch- lichen Monaden zusammengesetzt ist, wenn sie auf dem Schlachtfelde sich gegeniiber stehen, doch nur zwei com- pacte, wie aus einem Gusse hervorgegangene Massen, yon welchen jede fur sich ihr eigenes Leben, ihre eigenen Ge setze der Erhaltung oder Auflosung in sich tragt. Und diese Gesetze entsprechen genau der Summe der Anlagen und Krafte all der unzahligen einzelnen Individuen, die staatlich oder militarisch vereinigt, einen Staat oder ein Heer bilden. So ist fur uns der Charakter des Staates der Ausdruck der Summe von individuellen Charaktertypen der den Staat zusammensetzenden Menschen. Die vorherrschend uberein- stimmenden Anlagen eines Volkes bestimmen dessen Rassen- charakter. Dieser ist das differenzirende Element unter den Volkern und trennt sie von einander, vereinigt aber um so fester die einzelnen Mitglieder einer und derselben Rasse. Fur die Culturgeschichte muss desshalb der erste und wichtigste Gegenstand ihrer Forschung der Rassentypus sein und sie hat ihn nach seinen mannigfaltigen Aeusserungen zu erfassen. Soli dies aber mit einiger Sicherheit geschehen, so lasst sich dies nicht anders bewerkstelligen als durch „ Vorwort. IX eine streng objective Darlegung seiner Wirkungen, welche sich am deutlichsten in der politischen Organisation eines Volkes, in seiner Staatsverfassung, in seinen administrativen und politischen Einrichtungen, in seinen Gesetzen erkennen lassen. Hit dem Staatswesen sind im Alterthume wie in der Gegenwart die religiose Anschauung, der Cultus und Glauben unlosbar verbunden, welche den zweitwichtigsten Gegenstand des culturhistorischen Gemiildes zu bilden haben. Daran reiht sich die Besprechung des Lebens und der Verfassung der Familie, sowohl fur sich selbst betrachtet, als im Zu- sammenhange mit anderen, also die Darstellung der burger- lichen Gesellschaft in ihren verschiedenen Richtungen und Bestrebungen auf dem Gebiete des materiellen und geistigen Lebens. Die letzte und hochste, aber zugleich die schwierigste Aufgabe der Culturgeschichte ist die: aus dem Ueberblicke des gesammten Civilisationsverlaufes einer Nation im Ver- gleiche mit dem Entwicklungsgange anderer Culturvolker jene allgemeinen Gesetze erfassen zu suchen, welche den Lauf der Volkergeschicke bestimmen und ihn ebenso un wand elbar beherrschen, wie die Naturkrafte das Reich der Materie. Hiemit ist aber auch die Grenzscheide erreicht, wo das Gebiet der Geschichte mit jenem der Philosophic sich beriihrt. Keinesfalls diirfen wir uns der optimistischen Erwar- tung hingeben, dass es schon bei dem gegenwartigen Stande der Wissenschaft moglich sei, diese schweren Probleme vollstandig zu losen. Viel wird noch gesainmelt, gesichtet und verglichen werden miissen. Diesem Plane entsprechend bildet die Schilderung der staatlichen Einrichtungen den vorwiegenden Inhalt des ersten Bandes, wahrend der zweite, falls mir Zeit und Kraft