Kurt Möller Coole Hauer und brave Engelein Kurt M611er Coole Hauer und brave Engelein Gewaltakzeptanz und Gewaltdistanzierung im Verlauf des frUhen Ju gendalters Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2001 Gedruckt aur siiurefreiem und alterungsbestiindigem Papier. Die Deutsche Bibtiothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fUr diese Pubtikation ist bei Der Deutschen Bibtiothek erhiilttich. ISBN 978-3-8100-3020-7 ISBN 978-3-663-05744-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05744-4 © 2001 Springer Fachmedien Wiesbaden Urspriinglich erschienin bei Leske + Budrich, Opladen 2001 Das Werk einschtie6tich atler seiner Teite ist urheberrechtlich geschiitzL Jede Velwertung au Berhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustinunung des Verlages un zuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfliltigungen, Obersetzungen, Mikrover fitmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. INHALT A: Einleitung 7 B: Zum Stand der Forschung über Gewaltakzeptanz bei Jugendlichen 11 I Empirische Befunde 1. Quantitative Entwicklungen 11 2. Einflüsse der Sozialisationsbereiche 36 3. Personale Merkmale 47 11 Theoretische Erklärungsansätze 51 1. Fokus: Individuum 52 2. Fokus: Sozialstruktur 61 3. Fokus: Sozialisation 70 4. Fazit 80 C: Eigene Untersuchung 91 I Ziel und Anlage der Studie 91 1. Theoretisch-inhaltliche Bezugspunkte 91 1.1 Zur sozialisationstheoretischen Perspektive 92 1.2 Zur identitätstheoretischen Perspektive 113 1.3 Zur individualisierungstheoretischen Perspektive 122 2. Methodische Anlage 129 2.1 ProbandInnengruppe und Erhebungsverfahren 138 2.2 Gewaltakzeptanz -terminologische Klärungen 140 2.3 Auswertungsverfahren und Interpretationsraster 151 11 Ergebnisse der Studie 160 1. Entwicklungsverläufe der Inhalte und Strukturen von Gewaltakzeptanz 160 2. Gewaltakzeptanz im Kontext geschlechtsspezifischer Sozialisation 170 2.1 Männliche Jugendliche 170 2.1.1 Affinität(saufbau) 170 2.1.1.1 Fallbeispiel Paul 170 5 2.1.1.2 Quer-Interpretation -Der Fall Paul im Gesamtzusammenhang einschlägiger Fälle 198 2.1.2 Distanz( ierung) 233 2.1.2.1 Fallbeispiel Johannes 234 2.1.2.2 Quer-Interpretation -Der Fall Johannes im Gesamtzusammenhang einschlägiger Fälle 249 2.2 Weibliche Jugendliche 262 2.2.1 Affinität(saufbau) 262 2.2.1.1 Fallbeispiel Jutta 263 2.2.1.2 Quer-Interpretation -Der Fall Jutta im Gesamtzusammenhang einschlägiger Fälle 273 2.2.2 Distanz(ierung) 293 2.2.2.1 Fallbeispiel Iris 293 2.2.2.2 Quer-Interpretation -Der Fall Iris im Gesamtzusammenhang einschlägiger Fälle 319 3. Konsequenzen der Ergebnisse der Studie für die Weiterentwicklung theoretischer Erklärungsansätze zum Verhältnis von Jugend und Gewalt 337 3.1 Konsequenzen für die Weiterentwicklung theoretischer Erklärungsansätze zum Verhältnis von Jugend und Gewaltakzeptanz 337 3.1.1 Jugend und Gewaltakzeptanz - geschlechterübergreifende Erklärungsansätze 338 3.1.2 Jungen und Gewaltakzeptanz 359 3.1.3 Mädchen und Gewaltakzeptanz 367 3.2 Konsequenzen für die Weiterentwicklung theoretischer Erklärungsansätze zum Verhältnis von Jugend und Gewaltdistanz(ierung) 378 3.2.1 Jugend und Gewaltdistanz(ierung) - geschlechterübergreifende Erklärungsansätze 379 3.2.2 Jungen und Gewaltdistanz(ierung) 388 3.2.3 Mädchen und Gewaltdistanz(ierung) 397 D: Literaturverzeichnis 404 6 A: Einleitung "Immer mehr Kinder erpressen Kinder", "Jugendkriminalität wächst weiter an", "Neue Dimension der Gewalt", "Brutale Mädchen schlagen zu" - Mel dungen wie diese schrecken in jüngerer Zeit immer wieder eine besorgte Öffentlichkeit auf. Hinter ihnen verbirgt sich die Befürchtung breiter Teile der Gesellschaft, relativ hilf-, rat- und tatenlos eine mächtige Welle von Ge walt auflaufen sehen zu müssen, die nicht nur bislang unbekannte Ausmaße, sondern auch eine neuartige Qualität anzunehmen droht. Die öffentliche Meinung zeigt sich verunsichert: Wird die Gewalt immer brutaler? Werden die Täter immer jünger? Schleift sich das weibliche Gewalttabu ab? Bilden vielleicht gar gesellschaftliche Entwicklungen, die der modemen Gesellschaft als Struktureigentümlichkeiten inhärent sind, energiespendende und dynami sierende Tiefenströmungen für die anschwellende Woge politischer und un politischer Gewalt? Die politische Hilflosigkeit im Umgang mit den Problemen ruft längst nicht mehr allein nach Repression durch Justizapparat und Polizei. Sie fordert auch pädagogische Bearbeitung heraus. Insofern ist es nur logisch, wenn auch fachöffentlich die Debatte um die sog. "Jugendgewalt" längst losgetre ten ist. Allerdings: Fast will es scheinen, als sei sie nach einem vorüberge henden Aufflackern in den frühen 90er Jahren innerhalb der Erziehungswis senschaft und der pädagogischen Praxis gegenwärtig schon dabei, allmählich an Selbstermüdung dahinzusiechen. Zwar lodert sie anlässlich von in Presse und Rundfunk verbreiteter Berichte über spektakuläre Einzelfcille immer mal wieder auf, eben dies zeigt aber, dass sie sich allzu willfährig zum Opfer der medial gesteuerten Themenkonjunkturen machen lässt, an die sie sich ankop pelt. Zu langweilig und langwierig erscheint manchen Professionellen inzwi schen die Problemanalyse, zu mühsam und zermürbend der alltägliche Klein krieg mit wenig pflegeleichten 'Härtegruppen' Jugendlicher, zu nachrangig die eigene gesellschaftspolitische Rolle, zu bescheiden der absehbare oder erhoffte pädagogische Erfolg. Ist der Arm der Pädagogik womöglich zu kurz, um ursachenbezogene Weichenstellungen für eine gewaltfreie und demokra- 7 tische Sozialisation der nachwachsenden Generationen vornehmen zu kön nen? Wie immer auch die Antwort auf diese Frage ausfällt: Will Pädagogik im Hinblick auf Gewalt-Bekämpfung nicht den Offenbarungseid schwören, kann sie nicht den Dingen ihre Lauf lassen. Obwohl die strukturelle Verankerung der Problematik von Gewalt daftir spricht, Ansatzpunkte ftir effektive Prob lern lösungen eher in den Sphären von Politik und Ökonomie suchen zu müs sen, bleiben ihr wichtige Aufgaben der Problembearbeitung. Schon weil sie in ihrem Alltag mehr oder minder regelmäßig mit Tätern und Opfern zu tun hat - im übrigen häufig in einer Person - kann sie sich der Entwicklung adä quater Herangehensweisen nicht entziehen. Über einen bloß defensiven Reaktionismus und die vielbeklagte Flickschusterei am System hinaus kommt sie nicht umhin, ihre Arbeitsfelder daraufhin zu prüfen, welche Chan cen sie offensiv und aktiv nutzen kann, um zu Gewaltfreiheit und demokrati schen Verhältnissen beizutragen. Grundvoraussetzung dafür ist eine genaue Analyse der Symptomatik und ihrer Ursachen bei den TrägerInnen. Soweit es sich um Pädagogik handelt, die auf jugendliche Adressaten gemünzt ist, hat sie gezieltes Augenmerk auf die Analyse des Prozesses des Aufwachsens der jungen Generation zu legen. Schließlich fällt der sog. ,Jugendliche Gewalttäter" nicht urplötzlich vom Himmel. Hinter leichtfertig verteilten Etiketten wie diesem verbergen sich Jugendliche, die selbstverständlich nicht als Schläger geboren wurden. Ganz offensichtlich handelt es sich um Subjekte, die im Verlaufe ihres Aufwach sens Erfahrungen gemacht haben müssen, die sie dazu verleiten, die Gewalt option zu wählen und sie anderen Medien individueller und sozialer Durch setzung vorzuziehen. Insofern ist die erziehungswissenschaft liehe Sozialisa tionsforschung herausgefordert. Sie jedoch weist - wie im weiteren Verlauf dieser Studie noch im einzel nen nachgewiesen wird - erhebliche Lücken bzw. Mängel in ihrem einschlä gigen Kenntnisstand auf. Sie treten in erster Linie an vier Punkten zutage: Zum ersten hat sich die Forschung bislang zu wenig der Untersuchung von Anfälligkeiten jüngerer Jugendlicher für Gewalt gewidmet. Dies ist um so bedauerlicher als zum einen eine Verjüngung der Gewaltszene absehbar ist und im wachsendem Maße auch bereits etwa 13-, 14jährige Kids gewaltauf fällig werden. Zum anderen dürfte die Wahrscheinlichkeit von erfolgreichen pädagogischen Interventionen bei dieser Altersgruppierung weitaus höher sein als bei älteren Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Deshalb konzent riert sich die hier vorgestellte Studie auf die 13-bis 15jährigen Jugendlichen. Zum zweiten existiert ein deutlich registrierbares Manko an Untersu chungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg auf die Problematik fo- 8 kussieren. Insofern Sozialisation per definitionem einen Prozess darstellt, muss geradezu verwundern, wie wenig noch diesem Umstand durch entspre chende methodische Anlagen von Studien im Sinne eines Erfassens einer gesamten biographischen Spanne von Sozialisandlnnen Rechnung getragen wird. Methodisch kontrolliert durchgeführte Längsschnitte gibt es kaum. Zum dritten ist es der Gewaltforschung bisher nicht gelungen, sich ent scheidend von ihrem problemzentrierten Blick zu lösen. Im Vordergrund steht für sie fast immer die Frage, welche Ursachen zu Gewaltakzeptanzen führen, nicht aber was dazu führt, sich von ihnen wieder abzuwenden bzw. sich von vornherein gegenüber Verlockungen zu Gewalt resistent zu zeigen. Aus dem Blickwinkel des allgemeinen, insbesondere aber des politischen und pädagogischen Interesses an Gewaltverhinderung und -bekämpfung erscheint diese Frage indes weitaus wichtiger, lässt sich doch aus Antworten auf sie nicht allein schließen, was - gleichsam defensiv-reaktiv - im Sozialisations prozess junger Leute vermieden werden muss, sondern auch, welche Konstel lationen und Erfahrungsressourcen aktiv-offensiv bereitzustellen sind, um gewaltfreie bzw. gewaltreduzierende Entwicklungen zu befördern. Eine längsschnittlieh angelegte Studie wie sie unsrige bietet gute methodische Voraussetzungen dafür, ausdrücklich auch auf Distanzbedingungen und Dis tanzierungsprozesse einzugehen. Zum vierten registriert die Forschung seit längerem eine erhebliche Geschlechtsspezifik der Anfälligkeit für Gewalt. Insbesondere wird immer einmal wieder auf die weit überproportionale Dominanz von Jungen und Männern unter Gewaltbereiten und Gewalttätern hingewiesen. Gleichzeitig allerdings wird gemeinhin eingeräumt, dass auch die Gewaltakzeptanzen des weiblichen Geschlechts nicht zu vernachlässigen seien. Über die qualitativen Unterschiede der geschlechts spezifisch registrierbaren Phänomene und deren Ursachen wird hingegen - leider auch fachöffentlich - mehr spekuliert als konkret gewusst. Dabei stellt sich dringlich die Frage, wie die Gewaltphäno mene und ihre Hintergründe im Kontext geschlechtsspezifischer Sozialisation zu begreifen sind. Diesen - und einigen weiteren, weiter unten beschriebenen - Mängella gen der Forschung soll anhand dieser Publikation mit einem Bericht über eine qualitative Längsschnittstudie abgeholfen werden, die weibliche und männliche Jugendliche zwischen ihrem 13ten und 15ten Lebensjahr bei ih rem Versuch begleitete, der zentralen gesellschaftlichen Erwartung an diese Lebensphase Genüge zu tun, nämlich Identität aufzubauen. Dabei wurde zentral auf Prozesse des Auf- und Abbaus von Gewaltakzeptanz fokussiert und der geschlechtsspezifische Erfahrungszusammenhang beachtet. Dem Wissenschafts- und dem Sozialministerium des Landes Baden Württemberg gebührt Dank für die Finanzierung dieses Forschungsprojekts. 9 Im Anschluss an diese kurze Einleitung (A) wird in einem ersten Haupt teil (Teil B) der Stand der einschlägigen Forschung resümiert. Dabei werden zunächst mehr phänomenographisch die empirischen Befunde (B.I) referiert, dann die wichtigsten theoretischen Erklärungsansätze (B.II) dargelegt. Teil C stellt die eigene empirische Untersuchung in ihrem Ziel, in ihrer inhaltlichen und methodischen Anlage (C.I) sowie in ihren Ergebnissen (C.II) vor. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem geschlechtsspezifischen So zialisationskontext als sozialem und individuellen Hintergrund von Gewalt entstehung, -konsolidierung und -reduktion gezollt. Diese Schwerpunktset zung setzt sich dadurch um, dass nach einem phänomenographisch gehalte nen Überblick über die von den ProbandInnen vertretenen Gewaltinhalte und -strukturen (11.1) die im Ergebnisteil präsentierten Daten-Auswertungen konsequent zunächst für männliche (II.2.1) und weibliche (11.2.2) Jugendli che getrennt vorgenommen und erst anschließend unter vergleichenden Ge sichtspunkten durchmustert werden. Dabei werden jeweils einerseits Affinität bzw. Prozesse des Affinitätsaufbaus, andererseits Distanz bzw. Prozesse der Distanzierung betrachtet und auf dem Hintergrund des sozialen Erfahrungs zusammenhangs und des jeweiligen Entwicklungsstands individuell repräsen tierter Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung inter pretiert. Im dritten Kapitel des Teils C.Il werden -jeweils differenziert nach Ge sichtspunkten der Akzeptanz bzw. des Affinitätsaufbaus sowie nach solchen der Distanz bzw. der Distanzierung -Schlussfolgerungen aus den dargelegten empirischen Ergebnissen der Untersuchung für die Weiterentwicklung theo retischer Erklärungsansätze gezogen (11.3). Die Diskussion entsprechender geschlechterübergreifender und geschlechtsspezifischer Aspekte führt zu theoretischen Weiterentwicklungen, die über den bisherigen Stand der For schung hinausreichen. Innerhalb diese Bandes können nicht alle Einzelfall-Auswertungen Platz finden, auf die hier bezug genommen werden kann. Die über die hier präsen tierten Beispielfalle hinausgehenden Einzelinterpretationen und Fallskizzen können deshalb unter der Adresse www.hfs-esslingen.de/wischaft/forschunglveroeff-wis/coole-hauer aus dem Internet heruntergeladen werden. 10 B: Zum Stand der Forschung über Gewaltakzeptanz bei Jugendlichen Nicht erst in der neueren Gewaltdebatte scheint der Gewaltbegriff die Funk tion eines vernebelnden catch-all-tenn einzunehmen. Er ist vielfach inflatio när und undifferenziert in Gebrauch, so dass nicht immer hinreichend klar ist, was eigentlich gemeint ist, wenn von Gewalt, Gewaltbereitschaft o.ä.m. die Rede ist. Die Spannbreite unterstellter und unterstellbarer Bedeutungen reicht von der Propagierung oder gar nur Billigung bzw. stillschweigenden Tole ranz gewalthaitiger gedanklicher Konstruktionen über verbale und nur psy chisch wirksame Attacken bis hin zu körperlichen Angriffen oder institutio nell-systemisch verantworteter bzw. ,struktureller Gewalt' (vgl. Galtung 1975). Umstritten ist auch, ob das subjektive Leid von Betroffenen bestimm ter Handlungen ausreicht, um letzteren Gewaltförmigkeit zu attestieren oder ob eine objektiv erkennbare Schädigung vorliegen muss, um den Tatbestand der Gewalt zu erfüllen. Ohne an dieser Stelle diese (und weitere) Schwierig keiten bei der Verwendung des , Gewalt' begriffs und seiner Komposita ein gehend diskutieren zu können (siehe dazu z.B.: Neidhardt 1986; Alb rechtiBackes 1990 und vor allem Kapitel C: I, 2.2 dieses Buches), wird schon durch die Andeutung der Problematik offenbar, dass sowohl der Blick auf die Ursachen als auch selbstverständlich die Überlegungen zu Reaktionen von den Definitionsbestandteilen des jeweils zugrundeliegenden Gewaltbegriffs abhängen. Dessen ungeachtet ist eine grobe Rasterung des Problemfelds vonnöten. Sie sollte allerdings zumindest -wie dies im folgenden getan wird -zwischen Gewalttätigkeit und gewaltbefürwortenden Einstellungen trennen und dabei auch Positionierungen zu fremdausgeübter Gewalt einbeziehen. I. Empirische Befunde 1. Quantitative Entwicklungen Ein erstes Interesse bezieht sich auf Verbreitungsdaten, insbesondere solche, die Resultate von Zeitreihenqualität beinhalten. Aus ihnen lassen sich noch 11