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Chinas fehlende globale Vision : Über ein Vakuum, das Chancen und Herausforderungen für Europa bietet PDF

14 Pages·2022·0.615 MB·German
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. Nr. 25 August 2022 POLICY BRIEF Chinas fehlende globale Vision Über ein Vakuum, das Chancen und Herausforderungen für Europa bietet China strebt nach einer neuen globalen Ordnung. Doch während die Führung im Land nationale Souveränität und einen starken Staat als ordnungspolitische Ziele propagiert, folgt ihr Handeln nicht die- ser Rhetorik. Einige Fragen sorgen für Unklarheit: Wie stark prägt die Integration der Volksrepublik in die Weltwirtschaft ihr Handeln? Tim Rühlig Versucht sie, unter dem Diktum nationaler Souveränität imperiale Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Programm Machtansprüche durchzusetzen? Will die EU von diesem Vakuum Technologie und profitieren, muss sie verstehen, woher es kommt. Außenpolitik – Obwohl das Selbstbewusstsein der chinesischen Führung ange- sichts zunehmender Macht wächst, ist die Außenpolitik des Parteistaats von seiner innenpolitischen Verletzbarkeit geprägt. – Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) sieht sich mit einer Vielzahl an Krisen konfrontiert, die die eigene Legitimität unter- graben. Ein Defizit, das die Führung im Land mit Nationalismus und Außenwirtschaftspolitik zu minimieren versucht. – Viele parteistaatliche Institutionen prägen die Außenpolitik Chinas. Rhetorisch sprechen sie alle die Sprache des starken Staates, verfolgen aber sehr verschiedene Eigeninteressen. – Da China eine außenpolitische Vision fehlt, untergräbt es das Vertrauen in internationale Institutionen. Um dem entgegenzu- wirken, muss Europa die interne Spaltung des Landes verstehen. 2 Nr. 25 | Chinas fehlende globale Vision POLICY BRIEF Um ihren globalen Führungsanspruch zu unter- mit Akteuren des Privatsektors. Grund dafür ist die mauern, muss eine Weltmacht eine klare ordnungs- Transnationalisierung zahlreicher Herausforderun- politische Vision entwerfen, die zudem von der gen. Nicht nur Handels- und Finanzströme haben Staatengemeinschaft geteilt wird. Dies hilft, Trans- sich globalisiert, sondern auch Sicherheitsbedro- aktionskosten zu senken, da sich andere Länder hungen wurden zunehmend grenzüberschreitend. freiwillig an die Interessen und Arbeitsweisen des Klimawandel, Migration und Cyberkriminalität etwa Hegemons anpassen, die nicht mehr nur als Parti- benötigen heute globale Anstrengungen, wobei Risi- kularinteressen, sondern auch als Interessen der ken und Vorteile ungleich verteilt sind. All dies geht gesamten Gemeinschaft angesehen werden. Auf- zu Lasten der Fähigkeit einzelner Staaten, wichtige strebende Mächte müssen daher überzeugend dar- Entscheidungen selbst zu fällen und ihre Auswirkun- stellen, gute Absichten zu verfolgen. China verfügt gen umfassend zu kontrollieren. Das heißt: Staaten zwar über enorme Machtressourcen, nicht jedoch sind nicht mehr „Herrschaftsmonopolisten“, sondern über eine kohärente Vision. Stattdessen erschwert vielmehr „Herrschaftsmanager“, die den politischen die undurchsichtige Entscheidungsfindung inner- Rahmen setzen, indem eine Vielzahl an Institutionen halb des Parteistaats, die im Kontrast zur Trans- und Akteuren internationale Politik gestalten.2 parenz der demokratischen Institutionen der USA steht, potenziellen Partnern, außenpolitische Verän- derungen zu antizipieren. So erzeugt Chinas Aufstieg AUF DEM WEG ZU EINEM Unsicherheit. „CHINA-MODELL“? Die chinesische Führung hat verstanden, dass sie der Einzelne Staaten sind heute keineswegs ir- Welt ihre Ziele und Visionen erklären muss. Präsi- relevant, doch sie müssen, um globale Heraus- dent Xi Jinping hat wiederholt die Ambition einer ei- forderungen anzugehen, untereinander stärker genen Weltordnungsvision formuliert. Im Jahr 2016 zusammenarbeiten und private Akteure einbe- erklärte er: „Wir sind sehr zuversichtlich, dass Chi- ziehen. Dieser vom Westen angeführte Prozess na eine Lösung für die Suche der Menschheit nach der Staatstransformation – der für die meisten besseren Systemen sozialen Zusammenlebens anbie- Entwicklungsländer nie attraktiv war – ist in ten kann.“ Und auf dem letzten nationalen Kongress eine Krise geraten, denn geopolitische Rivali- der KPCh im Oktober 2017 verkündete er, dass Chi- täten erschweren eine wirksame internationale na „eine neue Option für andere Länder und Natio- Zusammenarbeit, die heute notwendiger ist als nen bietet, die ihre Entwicklung beschleunigen und je zuvor. Dies öffnet einem ehrgeizige China die gleichzeitig ihre Unabhängigkeit bewahren wollen“. Tür. Für viele Länder ist die Idee des „China-Mo- Der Verweis auf „Unabhängigkeit“ ist eine unausge- dells“, das die Rolle des Staates neu definiert, sprochene Bezugnahme auf staatliche Souveränität. vielversprechend. Umfassende staatliche International wird dies als Keimzelle eines möglichen Kontrolle, auch über wirtschaftliche Ressourcen „China-Modells“ angesehen, zumal es sich um den und Aktivitäten, die neben staatlicher Ein- Versuch handelt, eine Kontinuität bis in die Mao-Zeit flussnahme privates Unternehmertum zulässt, zu ziehen, als die „Fünf Prinzipien der friedlichen erscheint attraktiv. Auch wenn ein kohärentes Koexistenz“ in Chinas bilateralem Vertrag mit Indi- „China-Modell“ bislang in der Praxis nicht (siehe en 1954 die normativen Grundzüge chinesischer Au- unten) existiert, sind sich Wissenschaftlerinnen ßenpolitik festlegten.1 und Wissenschaftler sowie politische Beobach- terinnen und Beobachter darin einig, dass wenn Eine solche staatszentrierte Vision ist für große Teile es je existieren sollte, umfassende staatliche der internationalen Gemeinschaft attraktiv. Im Ver- Kontrolle und Souveränität seine Grundlage lauf der letzten drei Jahrzehnte vertiefte sich die Zu- bilden würden.3 sammenarbeit in internationalen Institutionen und 1 Indian Treaty Series, Abkommen zwischen der Republik Indien und der Volksrepublik China über Handel und Verkehr zwischen der Region Tibet in China und Indien, 1954: http://www.commonlii.org/in/other/treaties/INTSer/1954/5.html (abgerufen am 30. Mai 2022); Botschaft der Volksrepublik China in der Republik Türkei, „Carrying Forward the Five Principles of Peaceful Coexistence in the Promotion of Peace and Development“, 28. Juni 2004: https:// www.mfa.gov.cn/ce/cetur/eng/xwdt/t140777.htm#:~:text=Diese%20Grundsätze%20sind%3A%20gegenseitiger%20Respekt,%20gegenseitiger%20 Nutzen%20und%20friedliche%20Koexistenz (abgerufen am 30. Mai 2022). 2 Philipp Genschel und Bernhard Zangl, „Metamorphosen des Staates. Vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“ Leviathan 36:3, September 2008, S. 430–454. 3 World Politics 64:4, Oktober 2012, S. 741– 776; Joshua Cooper Ramo, „The Beijing Consensus: Notes on the New Physics of Chinese Power“, The Foreign Policy Centre, 18. März 2004: https://fpc.org.uk/wp-content/uploads/2006/09/244.pdf (abgerufen am 30. Mai 2022). Nr. 25 | 3 POLICY BRIEF Chinas fehlende globale Vision DIE KLUFT ZWISCHEN CHINAS verletzen und das Land zu bombardieren.7 Im kras- RHETORIK UND CHINAS HANDELN sen Gegensatz dazu steht Chinas Haltung im syri- schen Bürgerkrieg. Seit 2012 hat China nicht weniger Zwar sehen viele Staaten Chinas rhetorisches Ein- als zwölf Mal ein Veto im UN-Sicherheitsrat gegen treten für Souveränität positiv. Doch gleichzeitig Resolutionsentwürfe eingelegt, die „R2P-Sprache“ wächst das Bewusstsein für die Kluft, die zwischen verwendeten. Keine der Resolutionsentwürfe ging so seinen Ankündigungen und seinem Handeln exis- weit wie im Falle Libyens, sondern die Texte appel- tiert. Die Volksrepublik besteht zwar darauf, dass lierten an Syrien, der eigenen Schutzverantwortung staatliche Souveränität die konstitutive Idee einer gerecht zu werden. Chinas Verhalten ist umso be- von der Volksrepublik gewünschten internationalen merkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Volks- Ordnung sei. Ihr Vorgehen weist jedoch in eine an- republik in der Geschichte des UN-Sicherheitsrates dere Richtung. Dies zeigt das Beispiel der Ukraine. insgesamt nur 16 Vetos eingelegt hat.8 Offenkundig sind Chinas Reden über die Souveräni- tät der Ukraine, ihr Recht auf Selbstverteidigung und Ähnlich widersprüchlich ist Chinas Umsetzung sei- den Grundsatz der territorialen Integrität4 nur Lip- ner Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsor- penbekenntnisse. Denn gleichzeitig erkennt China ganisation (WTO). Beobachterinnen und Beobachter Russlands krude Sicherheitsbedenken an und erklärt, bezeichnen das Land mal als in hohem Maße WTO- dass Russland durch die Ukraine und die Erweite- konform, mal als einen das globale Handelssystem rung der NATO bedroht sei.5 Diese Argumentation zersetzenden Akteur.9 Tatsächlich variiert Chinas verstößt gegen das von China so häufig gepriesene Einhaltung von Welthandelsrecht gravierend – ab- Souveränitätsprinzip, denn danach hat die Ukraine hängig von Regelungsbereich und Wirtschaftssektor. das Recht ihre militärischen und politischen Bünd- Damit einher geht auch eine schwankende Bereit- nisse frei zu wählen. schaft, staatliche Kontrolle über die Wirtschafts- entwicklung einzuschränken. Im Bankensektor Dieser Widerspruch tritt nicht erst seit Russlands beispielsweise verstößt China gegen die Verpflich- Angriffskrieg in Erscheinung. Chinas Haltung und tungen, die es bei seinem Beitritt im Jahr 2001 einge- Implementierung von internationalen Normen und gangen ist. Gleichzeitig ist Chinas Umsetzungsquote Völkerrecht weisen eine frappierende Widersprüch- von Urteilen der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit be- lichkeit auf. Ein Beispiel ist die Schutzverantwor- merkenswert gut.10 tung, die sogenannte „Responsibility to Protect“ (R2P). China stand dieser Norm, die das Prinzip hu- Ähnlich widersprüchlich war Chinas Umsetzung ei- manitärer Sicherheit zu etablieren versucht, immer nes bilateralen Vertrags, den die Volksrepublik 1984 skeptisch gegenüber. Dennoch hat es die Schutzver- mit dem Vereinigten Königreich zur Rückgabe der antwortung nie grundsätzlich abgelehnt.6 Während damaligen britischen Kronkolonie Hongkong ge- des Libyen-Kriegs 2011 stimmte die Volksrepublik da- schlossen hatte. Im Jahr 2020 brach China eindeutig für, dass sich der Internationale Strafgerichtshof auf den Vertrag, als es Hongkong ein nationales Sicher- der Grundlage der R2P mit Massenverbrechen be- heitsgesetz aufoktroyierte. Zuvor war 1997 zwar die fasst. Sie legte kein Veto gegen eine Resolution ein, volle und ungeteilte Souveränität über Hongkong an die es den USA und ihren Verbündeten erlaubte, zum China übergegangen. Aber in dem völkerrechtlich Schutz der Zivilbevölkerung Libyens Souveränität zu bindenden Vertrag mit Großbritannien garantier- 4 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Volksrepublik China, 26. Februar 2022: https://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx_662805/202202/ t20220226_10645855.html (abgerufen am 18. März 2022). 5 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Volksrepublik China, „Foreign Ministry Spokesperson Hua Chunying’s Regular Press Conference“, 24. Februar 2022: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/xwfw_665399/s2510_665401/202202/t20220224_10645282.html (abgerufen am 18. März 2022). 6 Internationales Forschungszentrum für Entwicklung, The Responsibility to Protect: Forschung, Bibliographie, Hintergrund: Supplementary Volume to the Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty (Ottawa, 2001); Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 1674, 28. April 2006. 7 Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 1970, Februar 26, 2011; Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 1973, März 17, 2011. 8 Global Centre for the Responsibility to Protect, „UN Security Council Resolutions and Presidential Statements Referencing R2P“, 5. April, 2022: https://www.globalr2p.org/resources/un-security-council-resolutions-and-presidential-statements-referencing-r2p/ (abgerufen am 26. Mai 2022); Dag Hamarskjöld Library, UN Security Council Quick Links, Security Council Meetings in 2022: https://research.un.org/en/docs/sc/quick/meetings/2022 (abgerufen am 26. Mai 2022);Dag Hamarskjöld Library, UN Security Council Quick Links, Veto List: https://research.un.org/en/docs/sc/quick (abgerufen am 26. Mai 2022). 9 Welthandelsorganisation, „2018 World Trade Policy Review. Bericht des Sekretariats“, November 2018: https://www.wto-ilibrary.org/content/books/9789287044051 (abgerufen am 6. Juni 2022); Anabel Gonzáles und Nicolas Veron, „EU Trade Policy amid the China-US Clash: Caught in the Cross-fire?“, Studie für die Grünen/EFA im Europäischen Parlament, 15. Juni 2019: https://reinhardbuetikofer.eu/ wp-content/uploads/2019/07/EU-trade-policy-amid-the-China-US-clash_final-version-9-July.pdf (abgerufen am 26. Mai 2022). 10 Tim Rühlig, China’s Foreign Policy Contradictions: Lessons from China‘s R2P, Hong Kong, and WTO Policy (Oxford, 2022). 4 Nr. 25 | Chinas fehlende globale Vision POLICY BRIEF te China der ehemaligen Kolonie ein „hohes Maß an lisierte Wirtschaft integriert hat, dass sich das Land Autonomie“ bis zum Jahr 2047. Ein völkerrechtlicher aus Eigeninteresse heraus bestehende internationale Vertrag schränkte damit effektiv die Anwendung von Institutionen zu eigen gemacht hat – und zwar auch Chinas Souveränität über Hongkong für 50 Jahre in den Fällen, in denen sie die Fähigkeit des Staates ein.11 Bis zum Jahr 2020 übte China darüber hinaus zur umfassenden Kontrolle der politischen und wirt- keinen nennenswerten Druck auf Hongkong aus, ein schaftlichen Entwicklung einschränken. Gesetz zur nationalen Sicherheit auszuarbeiten. Das ist bemerkenswert, da die lokale Hongkonger Regie- rung laut dem Grundgesetz dazu verpflichtet gewe- UNTERSCHIEDLICHE sen wäre. Zeitgleich verschloss sich die Führung in INTERPRETATIONEN UND Peking allen Kompromissvorschlägen für eine Wahl- HANDLUNGSOPTIONEN rechtsreform in Hongkong, obwohl die Demokrati- GEGENÜBER CHINA sierung der Wahlen von Hongkongs Stadtoberhaupt im Grundgesetz als „Endziel“ der politischen Re- Einige Beobachterinnen und Beobachter halten die formen versprochen worden war.12 Mit Blick auf die genannten Mehrdeutigkeiten und Widersprüche Wahlrechtsreform war die Volksrepublik nicht bereit, für einen Konstruktionsfehler einer auf Souveräni- eigene Kontrollmöglichkeiten einzuschränken. Doch tät basierenden globalen Ordnung. Ein US-Wissen- bezüglich eines nationalen Sicherheitsgesetzes ver- schaftler und ehemaliger Diplomat bezeichnete diese zichtete China sogar auf festgeschriebene Kontroll- Ordnung etwa als „organisierte Heuchelei“15. Obwohl möglichkeiten, bis die Volksrepublik schließlich im allen Länder dasselbe Recht auf Respekt und Gleich- Jahr 2020, an den Hongkonger Behörden vorbei und heit zustehe, neigten größere Staaten dazu, sou- im Widerspruch zu den Vereinbarungen mit den Bri- veräner zu sein als andere, so die Argumentation. ten, ein nationales Sicherheitsgesetz völkerrechts- Nach Jahrzehnten der US-Vorherrschaft verspricht widrig durchsetzte und damit Hongkongs „hohes die Volksrepublik anderen Staaten das, was sie hö- Maß an Autonomie“ faktisch beendete. ren wollen. In Wirklichkeit, so lautet die Befürchtung, arbeite China längst auf eine neue Ära chinesischer Nicht zuletzt aufgrund dieser Widersprüche rei- imperialer Herrschaft hin. Diese Interpretation des chen die wissenschaftlichen Beschreibungen der chinesischen Verhaltens hat in letzter Zeit noch chinesischen Außenpolitik von „aggressiv“ und mehr Aufmerksamkeit erfahren, da es dem aggressi- „durchsetzungsfähig“ auf der einen Seite bis hin zu ven Vorgehen Russlands ähnelt (siehe Kasten 2). Soll- „konstruktiv“ und „kooperativ“ oder gar „verantwor- te diese Interpretation zutreffen, gibt es für Europa tungsvoll“ auf der anderen Seite.13 Ähnlich kontro- und den Westen kaum Möglichkeiten mit China zu- vers ist, ob China eine „revisionistische“ oder eine sammenzuarbeiten oder das chinesische Treiben zu „Status-quo-Macht“ ist.14 Manche Beobachterinnen tolerieren. Der Westen kann jedoch die Doppelmoral und Beobachter sind sich sicher, dass China die be- Chinas ausnutzen, um potenzielle Verbündete Chi- stehende Ordnung umkehren und die internationa- nas abzuwerben. len Institutionen untergraben möchte, um die eigene Macht und Souveränität zu stärken. Andere sind der Andere Beobachterinnen und Beobachter hingegen Ansicht, dass China sich bereits soweit in die globa- meinen, dass die Widersprüche in Chinas Handeln 11 Constitutional and Mainland Affairs Bureau of the Government of the Hong Kong Special Administrative Region of the People‘s Republic of China, Joint Declaration of the Government of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the Government of the People‘s Republic of China on the Question of Hong Kong: https://www.cmab.gov.hk/en/issues/joint3.htm (abgerufen am 26. Mai 2022). 12 Tim Rühlig, China‘s Foreign Policy Contradictions (siehe Anmerkung 10); Government of the Hong Kong Special Administrative Region, The Basic Law of the Hong Kong Special Administrative Region of the People‘s Republic of China: https://www.basiclaw.gov.hk/filemanager/content/en/files/basiclawtext/basiclaw_full_text.pdf (abgerufen am 27. Mai 2022). 13 Aaron L. Friedberg, „The Sources of Chinese Conduct: Explaining Beijing‘s Assertiveness“, Washington Quarterly 37:4 (2014), S. 133–150; Alastair Iain Johnston, „How New and Assertive Is China‘s New Assertiveness?“, International Security 37:4 (2013), S. 7–48; Camilla T. N. Sorensen, „That Is Not Intervention; That is Interference with Chinese Characteristics: New Concepts, Distinctions, and Approaches Developing in Chinese Debates on Foreign and Security Policy Practice“, China Quarterly 239 (2019), S. 594–616; Feng Zhu und Peng Lu, „Be Strong and Be Good? Continuity and Change in China‘s International Strategy under Xi Jinping“, China Quarterly of International Strategic Studies 1:1 (2015), S. 19–34. 14 Giovanni B. Andornino, „China und Global Governance: Status Quo Power or Challenger to the Global Order?“, in A Handbook of China‘s International Relations, ed. Shaun Breslin (London, 2010), S. 94–105; Shaun Breslin, „China‘s Emerging Global Role: Dissatisfied Responsible Great Power“, Politik 30:S1 (2010), S. 52–62; Yong Deng, „China: The Post-Responsible Power“, The Washington Quarterly 37:4 (2015), S. 117–132; Enrico Fels, Shifting Power in Asia-Pacific? The Rise of China, Sino-US Competition, and Regional Middle Power Allegiance (New York, 2017); Xiang Gao, „China as a ‚Responsible Power‘: Altruistic, Ambitious, or Ambiguous?“, International Journal of China Studies 4:3 (2013), S. 405–438; John Ikenberry et al., America, China, and the Struggle for World Order (New York, 2015); Scott L. Kastner und Phillip C. Saunders, „Is China a Status Quo or Revisionist State? Leadership Travel as an Empirical Indicator of Foreign Policy Priorities“, International Studies Quarterly 56:1 (2012), S. 163–177. 15 Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy (Princeton, 2019). Nr. 25 | 5 POLICY BRIEF Chinas fehlende globale Vision WIE ETHNOGRAFISCHE FORSCHUNG HILFT, CHINA ZU VERSTEHEN Der erneute Einmarsch Russlands in die Ukraine unklar, ob die Partnerschaft zwischen Russland im Februar 2022 bildet gleichzeitig den Rahmen und China so eng ist wie die gemeinsame Er- für eine deutsche und europäische Analyse des klärung es vermuten lässt. Auch gibt es Zweifel chinesischen Vorgehens. Denn die russische daran, ob Russland wirklich mit dem zunehmend Aggression hat die alte Debatte in Europa übermächtigen Nachbarn aus China, dem viele in darüber verschärft, ob auch China imperia- Moskau misstrauen, umfassend zusammenarbei- listische Bestrebungen hat und inwiefern das ten will. Auch wenn die russisch-chinesische wirtschaftliche Engagement des Westens dem Partnerschaft eine neoimperialistische Agenda positiv entgegenwirken könnte. Die Gründe für enthält, bleibt offen, ob China bereit ist, für die diesen Vergleich liegen auf der Hand: Immer Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen mehr Menschen in Deutschland sehen ein, dass dauerhaft einen ebenso hohen wirtschaftlichen die Vorstellung enge Handelsbeziehungen Preis zu zahlen wie Russland. Anders formuliert: könnten Russland nachhaltig beeinflussen, naiv Wird sich China als genauso irrational erweisen war. Gegenüber China gab es die gleiche An- wie Russland? nahme. Derzeit deutet wenig darauf hin, dass der Handel mit China einen so substanziellen Diese Frage bedarf ethnografischer Forschung, Wandel hervorgerufen hat, wie von vielen pro- denn es gilt, chinesische Außenpolitik im gnostiziert oder zumindest erhofft. Doch eine Kontext ihrer eigenen spezifischen Bedingun- Änderung der Kooperationspolitik gegenüber gen zu verstehen. Wenn diese Außenpolitik China wird sich als sehr kostspielig erweisen. gemäß unseren Erwartungen womöglich nicht rational erscheint, so kann sie es nach eigener Ein weiterer Grund für die Vergleiche zwischen Logik dennoch sein. Das Verhalten Russlands Russland und China geht auf eine umfassende zeichnet somit nicht zwingend chinesisches gemeinsame Erklärung der Präsidenten beider Handeln vor. Außenpolitische Prozesse sind viel Staaten kurz vor Kriegsausbruch zurück. Darin zu komplex, um von einer Autokratie auf die vereinbaren die mächtigsten Autokratien der andere zu schließen. Welt eine umfassende Agenda für die Zu- sammenarbeit. China und Russland sprechen Wer Chinas Außenpolitik und die Auswirkungen gar von „einer neuen Ära der internationalen auf die Welt von morgen verstehen will, muss Beziehungen“. Der kurz darauf ausgebrochene das institutionelle außenpolitische Ent- Angriffskrieg legt nahe, dass beide Länder scheidungsgeflecht und die internen Debatten womöglich ein neues Zeitalter des Imperialis- im Land verstehen. Dieses Ziel verfolgt der mus eingeläutet haben, in dem das Recht des Autor des vorliegenden Policy Briefs in seinem Stärkeren gilt und internationale Institutionen kürzlich erschienenen Buch „Understanding an Bedeutung verlieren. China‘s Foreign Policy Contradictions“, das die Grundlage für den vorliegenden Beitrag bildet. Angesichts der Entschlossenheit von Russland und China zeigt man sich in Europa und den * http://en.kremlin.ru/supplement/5770 USA gleichermaßen besorgt. Dabei ist weiterhin (abgerufen am 26. Mai 2022). vielmehr ein chinesischer Selbstbetrug seien. Die Il- europäische und westliche Chinapolitik der ersten lusion, China könne das Souveränitätsprinzip stär- Interpretation diametral entgegen. Aber wenn wirt- ken, solle nur davon ablenken, dass die Volksrepublik schaftliche Rationalität handlungsleitend für China sich einer weiteren Integration in die von den USA ist, dann ist wirtschaftliche Interaktion das effektivs- geführte Weltwirtschaftsordnung kaum verschlie- te Instrument, um Chinas Außenpolitik weiterhin zu- ßen könne. Diese Sichtweise geht davon aus, dass mindest partiell zu beeinflussen. Ein Beispiel ist die China seine Handlungen rational an den eigenen aktuelle Debatte über Halbleiter. Während China mit wirtschaftlichen Interessen ausrichtet. Würde dies massiven Investitionen seine Unabhängigkeit von in- zutreffen, stünden die Handlungsempfehlungen für ternationalen Lieferketten und Innovation erhöhen 6 Nr. 25 | Chinas fehlende globale Vision POLICY BRIEF will, muss die Regierung anerkennen, dass die Halb- bündete zu gewinnen, sondern innenpolitische leiter-Wertschöpfungskette in absehbarer Zeit stark Verletzlichkeit. Zwar spielen das wachsende Selbst- transnational geprägt sein wird.16 China wird wei- vertrauen in die eigene (wirtschaftliche) Macht und terhin auf westliches Chipdesign und taiwanesische der zunehmende Stolz auf Chinas Position eine Rolle. Front-End-Fertigung angewiesen bleiben. Dies wirft Doch bedeutender ist die anhaltende Besorgnis um die Frage auf, inwieweit die fortbestehende Interde- die Verletzbarkeit der KPCh-Herrschaft und das Ge- pendenz das außenpolitische Kalkül Chinas prägt – fühl, dass das derzeitige internationale System nicht und nicht zuletzt auch das Ziel, die Kontrolle über nur eine Chance für China, sondern auch eine Be- Taiwan wiederzuerlangen. drohung für die Stabilität der Ein-Parteien-Herr- schaft darstellt. Beide dieser entgegengesetzten Interpretationen von Chinas Außenpolitik sind in den politischen Ent- Jahrzehntelang beruhten die innenpolitische Legi- scheidungsgremien Deutschlands und der Europäi- timität der KPCh und die soziale Stabilität, die das schen Union vertreten. Offiziell hat die EU einen Regime stützte, auf einem enormen Wirtschafts- Mittelweg zwischen beiden Sichtweisen gewählt. wachstum und dem daraus resultierenden Wohl- Seit die Union 2019 einen neuen „Strategischen Aus- stand. Zwar waren die Wohlstandszuwächse ungleich blick“ für China verabschiedet hat, bezeichnet sie verteilt, doch alle Teile der chinesischen Gesellschaft das Land gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und partizipierten am Aufschwung. China profitier- systemischen Rivalen.17 Zwar bildet diese Beschrei- te vor allem vom Export. Die Wettbewerbsfähigkeit bung die Ambivalenzen chinesischer Außenpoli- ging zu großen Teilen auf die niedrigen Arbeitskos- tik ab. Doch die EU äußert sich wenig darüber, wie ten zurück, die sich aus einer stetigen Urbanisie- China diese verschiedenen Rollen einnimmt, was das rung ergaben. Millionen von Wanderarbeiterinnen chinesische außenpolitische Handeln bestimmt und und Wanderarbeitern im erwerbstätigen Alter zog wie sie selbst wirksam darauf reagieren kann. Doch es in die Ballungszentren des Landes, wo sie in der genau dies ist notwendig. Die EU muss verstehen, exportorientierten Industrie zu niedrigen, wenn- und wenn möglich antizipieren, welche Rolle China gleich wachsenden Löhnen arbeiteten. Doch das Ur- in entscheidenden Politikfeldern spielen wird – von banisierungspotenzial ist weitgehend ausgeschöpft, der digitalen über die grüne Transformation bis hin nicht zuletzt aufgrund einer ungünstigen demogra- zu klassischen Handelsthemen. Nur so kann Europa fischen Entwicklung. Die ineffiziente Allokation von eine zielgerichtete Außenpolitik betreiben und dem finanziellen Ressourcen über das staatlich kontrol- chinesischen Bestreben eigene Visionen einer künf- lierte Finanzwesen und die mittlerweile aufgehobene tigen globalen Ordnung effektiv entgegensetzen. Ein-Kind-Politik, die jedoch noch immer gravierende Auswirkungen zeigt, sind Hinterlassenschaften von Chinas Geschichte als Planwirtschaft. Die bestehen- CHINAS WIDERSPRÜCHLICHE de Immobilienblase, die durch die fiskalischen Eng- AUSSENPOLITIK ERKLÄREN pässe des lokalen Parteistaats angeheizt wird, hat ein systemgefährdendes Ausmaß angenommen. Um Chinas Ansatz besser zu verstehen, hat der Au- tor dieses Policy Briefs kürzlich eine umfassende China benötigt – einmal mehr – weitreichende Wirt- ethnografische Studie veröffentlicht. Sie beschäf- schaftsreformen, um höherwertige Produkte in der tigt sich mit der Vielzahl und Vielfalt der an außen- globalen Wertschöpfungskette beizusteuern, inno- politischen Entscheidungen beteiligten Akteure in vativer zu werden, den Binnenkonsum zu stärken China. Mehr als 150 ausführliche Interviews mit chi- und die Abhängigkeit von ausländischen Liefer- und nesischen Parteistaatsfunktionärinnen und -funk- Absatzmärkten zu verringern. Die zwei zentralen tionären (hauptsächlich letzteres) zeigen, dass die Transformationen unserer Zeit, die digitale und die Widersprüchlichkeiten in Chinas Verhältnis zu einer grüne Transformation, eröffnen China die Möglich- auf Souveränität basierender internationaler Ord- keit ein neues, erfolgreiches Wachstumsmodell zu nung wenig mit internationalen Ambitionen zu tun entwickeln. Doch kurzfristig geht mit grundlegen- hat. Handlungsleitend und entscheidend ist nicht den Transformationen Unsicherheit und die Gefahr die Notwendigkeit, internationale Partner und Ver- sozialer Instabilität einher. Der Parteistaat versucht 16 Jan-Peter Kleinhans und John Lee, „China‘s Rise in Semiconductors and Europe“, Stiftung Neue Verantwortung, Dezember, 8, 2021: https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/chinas-rise-semiconductors-and-europe (abgerufen am 26. Mai 2022). 17 Europäische Kommission, „EU-China – Eine strategische Perspektive“, 12. März 2019: https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/communication-eu-china-a-strategic-outlook.pdf (abgerufen am 26. Mai 2022). Nr. 25 | 7 POLICY BRIEF Chinas fehlende globale Vision CHINAS INNENPOLITISCHE VERLETZBARKEITEN IN ZAHLEN CHINAS WACHSTUMSRATE IST HANDEL IST NICHT MEHR DER MOTOR KONTINUIERLICH RÜCKLÄUFIG DES WIRTSCHAFTSWACHSTUMS Chinas BIP-Wachstum (jährlich, in %) Anteil des Handels am BIP-Wachstum Chinas (in %) 80 15 70 12 60 9 50 6 40 3 0 30 2004 2008 2012 2016 2020 2004 2008 2012 2016 2020 Chinas BIP-Wachstum ist seit einem Jahrzehnt rückläufig. Das, was in Der Beitrag des internationalen Handels zum BIP-Wachstum Chinas ist fast China als „neue Normalität“ bezeichnet wird, macht die derzeitige wirt- halb so hoch wie 2006. Chinas Arbeitskosten sind international weniger schaftliche Transformation erforderlich. | Quelle: Weltbank wettbewerbsfähig und China konzentriert sich stärker auf inländische In- vestitionen und inländischen Konsum als Motor für Wachstum und Wohl- stand. | Quelle: Weltbank DAS WIRTSCHAFTLICHE POTENZIAL DER URBANISIERUNG IN CHINA IST FAST VOLLSTÄNDIG AUSGESCHÖPFT Städtische Bevölkerung in % der Gesamtbevölkerung in China, den USA und der EU 100 USA 80 EU 60 CHINA 40 20 0 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Die billigen Arbeitskräfte, die sich aus der Urbanisierung ergeben, sind ein wichtiger Faktor für Chinas wirtschaftlichen Wohlstand und seine Wettbewerbs- fähigkeit. Allerdings schrumpft das Urbanisierungspotenzial Chinas. Heute werden große Teile der ländlichen Gebiete von Kindern und älteren Menschen be- wohnt. | Quelle: Weltbank 8 Nr. 25 | Chinas fehlende globale Vision POLICY BRIEF daher das Wirtschaftswachstum durch eine Kombi- gitimation der KPCh-Herrschaft sowie die Stabilität nation aus fortgesetzter wirtschaftlicher Integrati- des Regimes unerlässlich sind. Doch wie genau Wirt- on in globale Märkte bei gleichzeitiger Stärkung des schaftswachstum (wirtschaftliche Integration vs. Binnenkonsums zu erhalten. Wie genau wirtschaftli- wirtschaftliche Isolation) und Nationalstolz (Reputa- che Offenheit und globale Integration auf der einen tion vs. chauvinistischer Nationalismus) erzeugt wer- Seite mit Eigenständigkeit, Isolation und Protekti- den sollen, bleibt umstritten. onismus auf der anderen Seite kombiniert werden können, ist innerhalb des Parteistaates umstritten. Diese unterschiedlichen Ansätze spiegeln sich auch in den bei außenpolitischen Entscheidungen zent- ralen Institutionen wider, die weitaus fragmentier- DAS MODELL DES STARKEN ter und vielfältiger sind als es von außen erscheinen STAATES ALS PRODUKT DER mag. Zwar hat China unter Xi Jinping eine Rezentra- FRAGMENTIERUNG CHINAS lisierung der Macht vorgenommen. Doch die Frag- mentierung besteht fort. Eine Vielzahl an Ministerien Im Moment von Verunsicherung und Verwundbar- konkurriert mit der Volksbefreiungsarmee und ei- keit hat die KPCh ein altes nationalistisches Narrativ ner ganzen Reihe an parteistaatlichen Agenturen um wiederbelebt. Nationalstolz als Legitimationsquel- Einfluss. Partei und Staat haben darüber hinaus fast le der Ein-Parteien-Herrschaft ist nicht neu. Zu- überall institutionelle Parallelstrukturen aufgebaut. letzt nimmt der Nationalismus allerdings wieder zu Zunehmend entfalten darüber hinaus wirtschaftli- – nicht aufgrund von Selbstvertrauen, sondern aus che Interessen staatlicher Unternehmen und pri- Sorge um den Fortbestand sozialer Stabilität. Die vater Firmen, die sich im Besitz von Unternehmern Kommunistische Partei argumentiert, sie habe ein mit engen Verbindungen zum Parteistaat befinden Jahrhundert der Demütigung beendet, das von in- und oft als „rote Kapitalisten“ bezeichnet werden, nenpolitischen Unruhen, Krieg und Kolonialismus Einfluss auf die chinesische Außenpolitik. Der hohe geprägt war und das bis zur ersten Hälfte des 20. Grad an Fragmentierung wird durch den weiterhin Jahrhunderts andauerte. Mao sei der Vorsitzende, starken Einfluss subnationaler parteistaatlicher Ins- der das Land geeint habe, Deng habe den Wohlstand titutionen komplettiert. gebracht und Xi vollende diese Reise, indem er Chi- na den ihm zustehenden historischen Platz an der Institutionelle Fragmentierung führt zu drei Spitze der Welt zurückgebe. Doch ähnlich wie bei Handlungslogiken außenpolitischer Bürokratien: der Frage, wie Wirtschaftswachstum generiert wird, gibt es auch mit Blick auf den Nationalstolz als Le- Erstens haben die parteistaatlichen Institutionen gitimationsquelle unterschiedliche Vorstellungen in- unterschiedliche institutionelle Mandate und ver- nerhalb des Parteistaats. Während die einen Chinas treten daher oft gegensätzliche Ziele. So setzen Nationalstolz durch wachsende Reputation als ver- sich beispielsweise einflussreiche lokale Behörden antwortungsvolle und friedliche Großmacht stärken für den Erhalt des bestehenden Finanzsystems ein, wollen, die die breite Unterstützung der internatio- das der lokalen Industrie zugutekommt. Sie wehren nalen Gemeinschaft genießt, befürworten andere ei- sich damit nicht nur gegen internationale Verpflich- nen chauvinistischen Nationalismus. tungen, sondern auch gegen die chinesische Zen- tralbank und die Finanzaufsichtsbehörden Chinas, In diesen widersprüchlichen Vorstellungen davon, die für eine stärkere Integration in die globalen Fi- wie die KPCh ihre Legitimität erneuern kann, zeigt nanzinstitutionen eintreten und eine Liberalisierung sich eine Spaltung in zwei Lager. Dem wachsenden befürworten. Selbstbewusstsein des Landes als einer konstituie- renden Kraft neuer Ordnung stehen Skeptikerinnen Zweitens sind die Beamtinnen und Beamten des und Skeptiker gegenüber, die angesichts der Ver- Parteistaats je nach beruflichem Werdegang unter- letzbarkeiten für eine Integration plädieren. Die- schiedlich sozialisiert. Das außenpolitische Estab- se unterschiedlichen Agenden zeigen sich sowohl lishment, das im Ausland im Einsatz war, neigt mehr hinsichtlich der Generierung von Legitimität aus dazu, auf den internationalen Ruf Chinas bedacht zu Wirtschaftswachstum als auch aus Nationalstolz. sein als Parteikader, die nicht oder nur kaum mit in- Interessanterweise reagieren aber beide Lager auf ternationalen Angelegenheiten in Berührung gekom- den gleichen Befund: die Verletzbarkeit der KPCh- men sind. Herrschaft. Chinas Funktionäre sind sich einig, dass Wirtschaftswachstum und Nationalstolz für die Le- Nr. 25 | 9 POLICY BRIEF Chinas fehlende globale Vision EINE VIELZAHL AN AKTEUREN PRÄGEN CHINAS AUSSENPOLITIK DAS FRAGMENTIERTE INSTITUTIONENGEFÜGE DER VOLKRSREPUBLIK KANN ZUR SCHWACHSTELLE WERDEN ZUGEHÖRIGKEIT EBENE PARTEI STAAT PRIVAT ZENTRAL NATIONAL LOKAL Think-Tanks* Kommission Politbüro zur Kontrolle und Verwaltung Andere von Staats- Ministerien** vermögen Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform Handels- Privat- ministerium Zentrale unternehmen Lokal- Kommission für regierungen Auswärtige Angelegenheiten Lokale Partei- sekretäre Ständiger Zentralbank Staats- Regionale Ausschuss des unternehmen Partei- Politbüros sekretäre Zentrale Militär- kommission Volks- befreiungs- Regional- armee regierungen Zentrale Institutionen*** Außen- ministerium Hier sind einige der einflussreichsten Akteure genannt, die die chinesische Außenpolitik gestalten – wenn auch nicht alle in gleichem Maße und auf allen Politikfeldern. | * Zu den einflussreichsten Denkfabriken gehören das China Institute of International Studies, die China Academy of Social Sciences und die China Institutes of Con- temporary International Relations. | ** Zu den wichtigsten Ministerien mit außenpolitischem Einfluss zählen das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie, das Umweltministerium, das Ministerium für Staatssicher- heit, das Verteidigungsministerium und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie. | *** Beispiele für sol- che Behörden sind die China Banking and Insurance Regulatory Commission, die China Securities Regulatory Commission und das Hong Kong Macao Affairs Office. | Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors 10 Nr. 25 | Chinas fehlende globale Vision POLICY BRIEF Drittens konkurrieren die Kader des Parteistaates internationalen Institutionen, die Kooperation und nicht nur um Einfluss, sondern sie haben auch unter- Verlässlichkeit generieren, gewinnen nun wieder schiedliche materielle Interessen. Die weit verbreite- Machtunterschiede zwischen Staaten und die Macht te Korruption in China hat daher Auswirkungen auf des Stärkeren an Bedeutung. Zwar wird es der Part- die Außenpolitik der Volksrepublik. nerschaft zwischen China und Russland kaum ge- lingen, eine neue Ordnung zu etablieren und neue Jede der parteistaatlichen Institutionen bringt nicht Grundsätze aufzustellen, die an die Stelle der beste- nur ihre eigene Interpretation der Rolle Chinas in henden Normen treten. Doch beide haben enormes der Welt ein. Vielmehr sind viele geschickt darin, die Potenzial, die bestehende internationale Ordnung oben beschriebenen Brüche in der Legitimierung der auszuhöhlen. KPCh-Herrschaft zur Untermauerung der eigenen Sichtweisen ins Feld zu führen. Begriffe wie „Souve- Um nicht als zerstörerische Kraft zu wirken, ver- ränität“, „Fortschritt“ und „antiwestlich“ bieten ih- sucht China, die Widersprüchlichkeit des eigenen nen eine ausreichend vage Terminologie, um ihre Handelns auf zweierlei Weise zu kaschieren. Erstens eigenen ideologischen Interpretationen und Interes- stellt es die universelle Gültigkeit von Normen glo- sen zu befeuern. Auf den ersten Blick scheinen alle baler Ordnung infrage. So sollen eigene abweichen- Institutionen Chinas die gleiche Sprache zu spre- de Praktiken legitimiert werden. Zweitens versucht chen. Sie sind sich darin einig, dass soziale Stabili- die Volksrepublik, die Ungereimtheiten ihrer Poli- tät, die Autorität und Legitimität der KPCh erhalten tik durch vage und unverbindliche internationale In- werden müssen. Da jedoch keine Einigkeit darüber stitutionen zu verbergen. So untergräbt China das besteht, wie dies zu erreichen ist, und die Institu- bestehende Verständnis von zentralen Begrifflich- tionen des Parteistaats fragmentierter sind als dies keiten der internationalen Politik. Es argumentiert von außen erscheint, ergibt sich eine widersprüch- etwa, dass Begriffe wie „Freihandel“, „Menschen- liche außenpolitische Praxis. Unterschiedliche Ge- rechte“, „Rechtsstaatlichkeit“ oder „Demokratie“ kei- wichtungen und Auffassungen von Nationalstolz und ne universell gültige Definition hätten. Stattdessen Wirtschaftswachstum in unterschiedlichen Instituti- könnten sie nur kontextabhängig richtig verstan- onen führen zu einer widersprüchlichen Außenpoli- den werden. Dies ermöglicht der Volksrepublik bei tik. Chinas Rhetorik mag den Wert der Souveränität der Interpretation ein Höchstmaß an Flexibilität und betonen, doch seine außenpolitischen Praktiken sind kommt einer Entwertung politischer Absprachen inkohärent. und Verträge gleich. Internationales Recht und in- ternationale Institutionen können so bei Kooperatio- nen nicht verlässlich zum Einsatz kommen. In jedem DIE EROSION DER BESTEHENDEN Fall kann China auf einen anderen Kontext hinwei- ORDNUNG – OHNE NEUE VISION sen und damit abweichendes Handeln rechtferti- gen. Das Völkerrecht verliert seine Möglichkeit, auch Die institutionelle Fragmentierung und die Uneinig- das Handeln mächtiger Staaten einzuschränken. keit, wie die Legitimität der KPCh Herrschaft erhal- Das führt wiederum dazu, dass China als De-fac- ten werden soll, haben konkrete Auswirkungen auf to-Weltmacht seine widersprüchliche Außenpolitik Chinas ordnungspolitische Ambitionen: Entgegen rechtfertigen kann, die aus innerer Verwundbarkeit, der weit verbreiteten Meinung hat China kein kla- divergierenden Visionen und Interessen sowie der res „China-Modell“ zu bieten – geschweige denn fragmentierten institutionellen Entscheidungsstruk- eine Ideologie, die die Welt symbolisch neu ord- tur des außenpolitischen Apparats resultiert. nen könnte. Doch damit ist der Westen noch lange nicht fein raus. Zum einen orientieren sich zahlrei- Wie also sollte der Westen darauf reagieren? Der An- che Länder an China. Was China rhetorisch vertritt, satz der EU, China gleichzeitig als Partner, Wettbe- ist in ihrem Sinne. Zum anderen, und das ist womög- werber und systemischen Rivalen zu beschreiben, lich noch problematischer, versucht China, seine ei- erfasst zwar die Vielfalt chinesischer Außenpolitik. genen Schwächen und seine innere Zersplitterung Ein konkretes Verständnis der chinesischen Vorge- zu kaschieren. Dazu bemüht sich die Volksrepublik, hensweise und eine wirksame Reaktionsmöglichkeit neue Praktiken einzuführen, die dem Land Flexibili- bietet er jedoch nicht. China ist weder eine imperi- tät einräumen und Inkonsistenzen verstecken. Dies alistische, revisionistische Macht wie Wladimir Pu- untergräbt jedoch die bestehenden internationa- tins Russland, das seine wirtschaftlichen Interessen len Institutionen und erhöht die Transaktionskosten und sein internationales Ansehen vernachlässigt, für die USA und die Europäische Union. Gegenüber noch eine Status-quo-Macht, die ausschließlich da-

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