Ronald W. Leven Bernd-Peter Koch Bernd Pompe Chaos in dissipativen System.en Ronald W. Leven Bernd-Peter Koch Bernd Pompe Chaos in dissipativen Systemen Mit 59 Abbildungen und 1 Tabelle Friedr. Vieweg & Sohn BraunschweigfWiesbaden Prof. Dr. Ronald W. Leven Dr. Bernd-Peter Koch Dr_ Bernd Pom.pe Ernst-Moritz-Arndt-Unive§<itat Greifswald Sektion PhysikfElektronik CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Leven, Ronald W.: Chaos in dissipativen Systemen I Ronald W. Leven; Bernd Peter Koch; Bernd Pompe_ - Braunschweig; 'Viesbaden : Vieweg, 1989 ISBN-13: 978-3-528-06356-6 e-ISBN-13: 978-3-322-84175-9 DOl: I0 .1 007/978-3-322-84175-9 NE: Koch, Bernd-Peter:; Pompe, Bernd: 1989 ® der deutschsprachigen Ausgabe Akademie -Verlag Berlin Lizenzausgabe mit Genehmigung des Akademie-Verlages Berlin fur Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig ISBN-13: 978-3-528-06356-6 Vorwort Dynamische Systeme konnen durch mathematische Gleichungen modelliert werden, die eine eindeutige V orschrift zur Berechnung der zeitlichen Entwicklung des Systemzustandes darstellen, so daB die Bewegung des Systems vollstandig durch den Anfangs zustand bestimmt ist. Trotz dieser Determiniertheit stellt sich bei der numerischen Berechnung der Losungskurven oder bei Beob achtungen in realen Experimenten haufig herau s, daB sich der Zustand des Systems in au Berst komplizierter und unregelmaBiger Weise mit der Zeit andert und daB eng benachbarte Startbedin gungen nach endlicher Zeit zu vollig unterschiedlichen Zustanden fiihren konnen. Man spricht dann von chaotischen Bewegungen bzw. nennt das betreffende System chaotisch. In den letzten 10 bis 15 Jahren sind betrachtliche Fortschritte im Verstandnis der Dynamik nichtlinearer deterministischer Systeme gemacht worden. Das Konzept des chaotischen (oder seltsamen) Attraktors, verbunden mit den Vorstellungen von fraktaler Dimension, Entropie und universellen Bifurkations sequenzen auf dem Wege zum Chaos, hat zu einem neuen Denken beziiglich dieser Systeme gefiihrt. Dabei ist u. a. auch klar gewor den, daB Chaos nicht einfach mit Unordnung oder Regellosigkeit gleichgesetzt werden kann. An die Stelle von Gleichformigkeit .oder Periodizitat treten andere Ordnungsbegriffe, die eng mit Selbstahnlichkeit, Skaleninvarianz und Universalitat verbunden sind. Einen wesentlichen Beitrag zu diesem neuen Verstandnis hat die moderne Rechentechnik geleistet. Da Chaos untrennbar mit Nichtlinearitat verbunden ist, deren mathematische Behandlung sich in den meisten Fallen als auBerordentlich schwierig erweist, konnten viele interessante Fragestellungen und teilweise sehr all gemeine GesetzmaBigkeiten chaotischer Bewegungen erst auf der Basis ausgedehnter numerischer Berechnungen formuliert bzw. erkannt ,verden. Damit wird auch verstandlich, warum die For- 4 Forworl sehungcll auf diesclll Gebiet erst in jiingster Zeit in groBem Um fange durehgefiihrt werden, obwohl viele niehtlineare Systeme aus Meehanik, Hydrodynamik, Elektroteehnik und anderen Wissen sehaftsgebieten schon seit langem bekannt sind. Niehtlinearitat ist fundamental flir das gesamte Naturgesehehen. Samtliehe Evolutionsgleiehungen, ob sie nun aus der LIOUVILLE Gleiehung zur Besehreibung der Vorgange in Gasen, Fltissigkeiten oder Plasmen hergeleitet wurden, ob sie die Entwieklung eines Rauber-Beute-Systems charakterisieren odeI' die des Universums, enthalten notwelllligerweise nichtlineare Terme. Schon einfache Oszillatoren miissen durch nichtlineare Differentialgleichungen beschrieben werden, wenn die Auslenkung aus del' Ruhelage groB genug ist. In der YOIl den linearen .M:AxwELL-Gleichungen regier ten Elektrod~-namik kommt die Niehtlinearitat iiber die Materid gleiehungen ZUlU Tragen. Nichtlinearitat. ist notwendig, aber nicht hinreichend fiir daB Auftreten \-on Chaos. Oh ein llichtlineares System chaotisches Vel'halten zeigt, hangt weitgehend VOl! den Pa~ametern nnd den Anfangsbedingungen abo NichtsdeRtmreniger hat man t"haotische Bewegungsformen nicht nUl" in den ven;chie<lellsten physikalischen Systemen (inklusive ElektrotechnikJElektronik) gefunden, sondel'll aueh in der Chemie (Reaktionskinetik), in Biologie und Medizin (Biooszillatoren, Populationsdynamik, Nervenzellen, Gehil'll funktionen u. a.). 1m yorIiegenden Bneh wird del' Versuch unternommen, dem Leser einen Zugang zu wichtigen Bereichen der modernen Chaos forsclmng zu ,-ersehaffen. Dahei "'inl neben der DarstclIllllg e1n81' Reihe "on Phanomenen und GeRetzll1ii Bigkeiten be sonde reI" \Vert a uf die V orRtellung einigel' GriiJ3en und Methoden gelegt, die eine quantitatiyc Beschreibung chaotischer Prozesse sowohl im Com puter- als auch im realen Experiment ermoglichen. In den naehfolgenden Kapiteln konzentrieren \Vir llns auf dissi pative Systeme. Sie sind fiir die meisten Prozesse ill ~atUI'wissen sehaft und Technik rele\"ant. Die aus rnathematischer Sicht weiter entwit"kelte Thcol'ie del' kOllservativell Systcme kann wegcn des geringen umfanges dieses Buehes ni<.:ht berueksiehtigt werden. Aus dernselben Grundc \yerden, auch wenn exakte Resultate vor liegen, die rnathematischen Beweise in der Regel nicht vorgetra gen. Die interessante Frage, ob es in der Quantenphysik ein Ana logon Zllm chaotischen Verhalten klassiseher Systerne giht, ist Gegenstand aktueller :b'orschung. Sie wil'd abel' hier ehenfalls nieht hehandelt. Wir hoffen trotzdem, daB es nns gelingt, einen Vorwort 5 Einblick in die faszinierende Welt chaotischer Erscheinungen zu geben. Das vorliegende Bandchen verdankt seine Entstehung nicht zuletzt der Anregung und Ermutigung durch Prof. W. EBELING, dem die Autoren dafiil' ihrell besonderen Dank aussprechen. Dar iiber hinaus danken wir Dr. C. BANDT, Dr. B. BRUHN, Prof. S. GROSSMANN, Dr. H.-P. HERZEL, Dr. J. KRUSCHA, Dr. J. KURTHS, Prof. W. LAUTERBORN und Dr. K. R. SCHNEIDER fijr zahlreiche interessante Diskussionen sowie Dr. W. VAN DE WATER, unter dessen aktiver Mitarbeit die Abb. 5.11 entstand. Greifswald, Juli 1987 Die Verfasser Inhaltsverzeichnis 1. Einfiihrung. . . . . . 9 1.1. Die logistische Abbildung . . . . . 13 1.2. Das parametrisch erregte Pendel. . 21 1.3. Das RAYLEIGH-BENARD-Experiment 26 2. GrundbegrHfe . . . . . . . . . . 32 2.1. Dynamisches System, Phasenraum, PhasenfluB 32 2.2. Dissipation und Attraktoren 35 2.3. MaBe auf Attraktoren . . . . . . . . . . . 43 3. Quantitative Charakterisierung chaotischer Bewegungen. 49 3.1. LJAPUNOV-Exponenten . . . . . . . . . . . . . . . .. 50 LJAPUNOV-Exponent eindimensionaler zeitdiskreter Systeme 50 Spektrum der LJAPUNOV-Exponenten .......... 54 Spektraltypen von Attraktoren . . . . . . . . . . 51 Zur experimentellen Bestimmung der LJAPUNOV-Exponenten 59 Bestimmung der LJAPUNOV-Exponenten im Computer-Experi- ment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 LJAPUNOV-Exponenten aus experimenteller Zeitreihe 65 3.2. Fraktale Dimensionen . . . . . . . . . . . . 71 Kapazitat und HAUSDORFF-Dimension . . . . 74 Zur experimentellen Bestimmung der Kapazitat 77 Dimensionen des natiirlichen MaBes . . . . . 78 RENYI-Dimensionen . . . . . . . . . . . . 79 Experimentelle Bestimmung der RENYI-Dimensionen . 83 LJAPUNov-Dimension 87 3.3. Entropien. . . . . . . . . . 88 Transinformation. . . . . . 90 KOLMOGOROV-SINAJ-Entropie 93 Beziehungen zwischen Entropie, LJAPUNOV-Exponenten und Dimensionen. . . . . . . 97 Verallgemeinerte Entropien . . . . . . . . . . . . . . . 99 8 I nhaltsverzeiehnis 4. Universalitat auf dem Wege zum Chaos. 101 4.1. "Ober Periodenverdopplungen zum Chao,s 103 Einige numerische Resultate. . . . . 105 SelbstahnIichkeit und Renormierung . 106 Bestimmung der FEIGENBAuM·Konstanten 108 Periodenverdopplungen und UniversaIitat in hoherdimen- sionalen Systemen . . . . . . . . . . . 111 4.2. "Obergang von Quasiperiodizitat zum Chaos . 113 Periodisch angestollener Rotator und Standardabbildung . 113 Die Kreisabbildung. . . . . . . . . . . 114 Periodische und quasiperiodische Losungen . • . . .. 115 Irrationale Windungszahlen . . . . . . . . . • . .. . 117 Der "Obergang Quasiperiodizitat Chaos aus experimenteller -? Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5. Vbergangsphlinomene im chaotischen Regime 123 5.1. Die logistische Gleichung fiir r > roo 123 Verschmelzen chaotischer Bander 124 Periodische Fenster . . . . . 125 5.2. Intermittenz ..... . . . . 128 Lange der laminaren Abschnitte 130 SelbstahnIichkeitsbeziehungen . 131 5.3. Krisen . . . . . . . . . . . . 132 Krisen bei der logistischen Abbildung 132 Attraktorentwicklung bei der dissipativen Standardabbildung 134 Transientes Chaos . . . . . 138 A,. im Krisenbereich 140 5.4. Fraktale Einzugsgebietsgrenzen 143 6. Chaos und homokline Orbits. . 148 6.1. SMALEsches Hufeisen und SMALE-BIRKHoFF-Theorem 154 6.2. Die MELNIKOv-Methode ....... . 161 6.3. Homokline Orbits von Fixpunkten im lR. 3 • 169 7. SchluBbemerkungen 173 Literaturverzeichnis 175 Quellenverzeichnis 186 Sachverzeichnis . 187 1. Einfiihrung Eine wiehtige Aufgabe naturwissensehaftlieher Forsehung ist es, Vo raussagen tiber die zeitliehe Entwieklung konkreter Systeme zu treffen. Diese Aufgabe wird in Abhangigkeit vom untersuchten System mit unterschiedliehem Erfolg gemeistert. Bekannt ist die ,Tahrhunderte wahrende Tradition der Astronomie bei der prazisen Berechnung der Bewegung von Himmelskorpern. Wir wissen aber aueh, daB es Erseheinungen gibt, bei denen zumindest langfristige Prognosen nieht gelingen. Die Wettervorhersagen demonstrieren das offenkundig. Aber aueh wesentlieh einfaehere Systeme ver schlieBen sieh unserem Bestreben um genaue Voraussagen. Denken wir an Gltieksspiele wie Wtirfel und Roulette, so haben wir uns daran gewohnt, die UngewiBheit des Ausgangs von Versuehen zu akzeptieren. Diesen Systemen ist gemeinsam, daB sie eine empfind liehe Abhangigkeit von den Anfangsbedingungen besitzen, d. h., sehr kleine Anderungen in den Anfangsbedingungen bewirken groBe Untersehiede im Endzustancl, und da Zustande nur mit endlieher Genauigkeit gemessen werden konnen, sind somit cler Voraussagbarkeit Grenzen gesetzt. Solche Systeme werden heute ehaotisch genannt. Bereits POINCARE (1914) besehreibt derartige Erseheinungen in seinem Bueh ,,\Vissensehaft und Methode" in einem Kapitel tiber den Zufall: "Eine sehr kleine Ursache, die fiir uns unbemerkbar bleibt, bewirkt einen betrachtlichen Effekt, den wir unbedingt bemerken miissen, und dann sagen wir, daB dieser Effekt vom Zufall abhange. Wiirden wir die Gesetze der Natur und den Zustand des Universums fiir einen gewissen Zeitpunkt genau kennen, so k6nnten wir den Zustand dieses Universums fiir irgendeinen spateren Zeitpunkt gep.au vcraussagen. Aber selbst wenn die Naturgesetze fiir uns kein Geheimnis mehr enthielten, k6nnen wir doeh den Anfangszustand immer nur naherungsweise kennen. Wenn wir dadurch in den Stand gesetzt werden, den spateren Zustand mit demselben Naherungsgrade vorauszusagen, so ist das alles, was man verlangen kann; 10 1. Einfuhrung wir sagen dann: die Erscheinung wurde vorausgesagt, sie wird durch Ge setze bestimmt. Aber so ist es nicht immer; es kann der Fall eintreten, daB kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen groBe Unterschiede in den sp1iteren Erscheinungen bedingen; ein kleiner Irrtum in den ersteren kann einen auBerordentlich groBen Irrtum fur die letzteren nach sich ziehen. Die Vorhersage wird unmoglich und wir haben eine ,zuf1illige Erscheinung'. " Die intensiven Untersuchungen der letzten Jahre an nichtlinearen dynamischen Systemen in den verschiedenen naturwissenschaft lichen Bereichen ergaben, daB chaotisches Verhalten keine Aus nahme darstellt, sondern eher die Regel ist. Es gibt keine natur wissenschaftliche Disziplin, in der nicht chaotisches Verhalten beobachtet worden ware. Eine reprasentative Auswahl von Pionier arbeiten zur Chaos-Problematik findet man bei HAO (1984) (vgI. z. B. auch ABRAHAM et aI., 1984). Neben den Untersuchungen an konkreten Systemen wird der Weg der mathematischen Modellierung beschritten, urn Prognosen zu erhalten. Die in diesem Buch beschriebenen Systeme werden als Differentialgleichungen oder Differenzengleichungen modelliert. AIle verwendeten Modellgleichungen (Bewegungsgleichungen) be sitzen die Eigenschaft, daB zu einer vorgegebenen Anfangsbedin gung eine eindeutige Lasung existiert. Diese V orausbestimmtheit bedeutet jedoch nicht in jedem Fall Voraussagbarkeit. Bei chaoti schen Systemen kommt es zum Verstarken von MeBfehlern. Weil auch im chaotischen Fall die zeitliche Entwicklung durch feste Vorschriften bestimmt wird, sprechen wir vom deterministischen Chaos. Wenn schon eine prazise langfristige Voraussage tiber den zuktinftigen Zustand nicht maglich ist, so erwarten wir doch, daB durch die Modellgleichung wesentliche Eigenschaften des konkreten Systems wiedergegeben werden. Unter wesentlich solI verstanden werden, daB die Modellgleichung die gleichen quali tativen Eigenschaften wie das konkrete System besitzt, d. h., bestimmte Bewegungsformen (Fixpunkte, periodische Lasungen, chaotische Lasungen) existieren fUr beide in gleichen Parameter bereichen. Dariiber hinaus sollten die im Kap. 3. eingefUhrten charakteristischen GraBen (LJAPUNOV-Exponenten, Dimensionen, Entropien), die besonders zur Beschreibung chaotischer Systeme wichtig sind, bei der Modellgleichung etwa die gleichen Werte annehmen wie beim realen System. Dabei muB man aber bedenken, daB die Beschreibung eines