Chancengleichheit im Bildungswesen Marita Kampshoff Beatrix Lumer (Hrsg.) Chancengleichheit im Bildungswesen Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2002 Gedruckt auf săurefreiem und alterungsbestăndigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ISBN 978-3-8100-3566-0 ISBN 978-3-663-09485-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-09485-2 © 2002 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2002 Das Werk einschlieJ31ich aHer seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung au Berhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un zulăssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervie1faltigungen, Obersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Dieser Band ist Elke Nyssen zum 60. Geburtstag gewidmet. lnhalt Marita KampshojJ Einleitung ...................................................................................................... 11 I. Instanzen des Bildungswesens Klaus Klemm & Hans-Giinter RoljJ Chancengleichheit - eine unabgegoltene Forderung zur Schulrefonn .......................................................................... 21 . Wilma Aden-Grossmann "Pădagogische Erfolge brauchen einen langen Atem" - neue Anforderungen an den Kindergarten ................................................................................................. 35 Marlies Hempel Chancengleichheit in der Grundschule ........................................................ .45· Doris Lemmermăhle Passagen und Passantinnen: Chancengleichheit auf dem Weg von der Schule in die Berufsausbildung? ........................................................................................ 63 . Anne Schliiter Weiterbildung und soziale Ungleichheit - oder: Beratung als Weg zum Abbau von Chancenungleichheit? ................................................................................... 81 Verena Bruchhagen Lebenslănglich! - Chancengleichheit als ideales Ziei feministischer wissenschaftlicher Weiterbildung. Eine Polemik ohne happy end ............................................. 91 8 lnhalt Sigrid Metz-Gockel "Ein bisschen Gră3enwahn steht jeder Frau" Zur Normalisierung einer Elitebildung von Frauen .................................... 109 II. Zielgruppen von Chancengleichheit Monika Boedecker & Annemarie Fritz Begabter Harry - strebsame Hermine? Subjektive Theorien von Lehrern zur Hochbegabung und Ma3nahmen der Begabungsfărderung in NRW .................................................................... 133 Ditmar Schmetz Wege zur Verbesserung schulischer und beruflicher Sozialisation fUr Jugendliche in erschwerten Lern- und Lebenssituationen .................................................. 153 Anke Thierack Wissenschaftstheoretische Betrachtungsweisen und Professionalisierungskonzepte fUr den Lehrberuf - als Beitrag zur Chancengleichheit im Bildungswesen?! ................................................................................... 165 lrmhild Kettschau Berufswahl und Berufschancen von Frauen in Frauenberufen ............................................................................................. 183 Heidrun Hoppe Und da dachte ich: Promovieren - das wăr's! Erfahrungen von Frauen mit der Promotion ................................................ 197 III. Themengebiete der Chancengleichheit Anke Liegmann & Daniela Dreier Physik fUr Mădchen, Sprachen fUr Jungs? Fallstudie liber die Fachvorlieben von Gymnasiastinnen ........................................................................................ 219 . Hannelore Faulstich-Wieland Welche Rolle spielen Lehrende und ihr Unterricht bei der Fărderung von Schiilerinnen in Mathematik? ........................................................................................... 233 lnhalt 9 Renate Sehulz-Zander Geschlecht und neue Medien im Bildungsbereich Schule -Empirische Befunde zur Computemutzung, zu Interessen, Selbstkonzept, Interaktionen und Fardermal3nahmen ......................................................... 251 lrmgard Merkt Madchen und Musikdidaktik. Momente musikalischer Sozialisation ........................................................................ 273 IV. Losungsansătze aur dem Weg zu mehr Chancengleichheit Biirbel SeMn Leistet schulische Gewaltpravention einen Beitrag zur Chancengleichheit? .................................................................. 289 lngeborg Stahr & Renate Klees-Moller Mentoring - ein Instrument zur Verbesserung der Chancengleichheit in Kommunalverwaltung und Hochschule .......................................................................................... 303 Beatrix Lumer Chancengleichheit als Managementaufgabe an Hochschulen ............................................................................................... 321 V. Bilanz und europăischer Vergleich Marita KampshojJ Chancengleichheit im europaischen Vergleich ........................................... 333 Marita Kampshoff Einleitung "Die vollstandige Kunst, alle Menschen alles zu lehren oder sichere und vorziigliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Stadten und Diirfem ei nes jeden christlichen Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme rasch, angenehm und griindlich in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geftihrt, mit Frommigkeit erftillt und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allen, was ftir dieses und das kiinftige Leben notig ist, angeleitet werden kann" (Comenius 1954, zit. n. Lemmermohle 1995, S. 267). Das Thema ,Chancengleichheit im Bildungswesen' wird bereits seit langem diskutiert. Das Ideal einer Bildung fUr alle vertrat der Bischofund Didaktiker Comenius bereits 1657. Chancengleichheit im Sinne des Anspruches ,alle alles zu lehren' ist heute jedoch nach wie vor nicht eingelost. Hinsichtlich Geschlecht, sozialer, regionaler und kultureller Herkunft, Migrationshinter grund sowie individueller Beeintrachtigungen bestehen unterschiedliche Chancen fUr Lemende und Auszubildende an einer den heutigen Erfordemis sen angemessenen Bildung und Ausbildung teilzuhaben. In Anbetracht der rasanten Entwicklung einer , Wissensgesellschaft' (Beck) erscheint der An spruch, ,alle alles zu lehren' allerdings auch immer weniger ein16sbar. Gleichzeitig sind die Folgen einer nicht einge16sten Chancengleichheit heut zutage wesentlich gravierender als friiher. Bildung und Ausbildung werden immer wichtiger fUr eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe. Fur gering qualifizierte Personen werden die Beschaftigungsmoglichkeiten immer rarer. Auf all diese Entwicklungen muss bei der Bildung der ,gesamten Jugend bei derlei Geschlechtes' eine zeitgemaBe Antwort gefunden werden. Am Anfang des 21. Jahrhunderts lesen sich die Anspriiche an unsere Bildungseinrichtun gen wie folgt: "Das Bildungswesen hat die Voraussetzungen dafUr zu schaffen, dass alle Menschen, un abhangig von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, ihrer ethnischen und kul turellen Herkunft und ihren individuellen Voraussetzungen, Bildungsangebote wahmeh men konnen, die ihren Interessen und Fahigkeiten entsprechen. Fiirderung von Chancen gleichheit bcdeutet insbesondere die Uberwindung von Barrieren, die einer gleichberech tigten Teilnahme an Bildung und einer optimalen Fiirderung entgegenstehen. Die Verwirk lichung von Chancengleichheit muss sich gleichermaJ3en auf Personlichkeitsbildung, auf Teilhabe an der Gesellschaft sowie auf den Zugang zum Arbeitsmarkt beziehen. Sie er schlieJ3t Potentiale fUr die Gesellschaft und ist ein konstitutives Element der Demokratie." (Arbeitsstab Forum Bildung 2001, S. 4) Nachdem seit geraumer Zeit Madchen und Jungen gleichermaBen an hOherer Bildung profitieren und die meisten Zugangsbarrieren fUr das weibliche Ge schlecht bezuglich Bildung und Ausbildung aufgehoben sind, konnte davon ausgegangen werden, dass zumindestens die geschlechterbezogene Chancen- 12 Marita KampshojJ gleichheit im Bildungswesen erreicht ist. Bei einem năheren Blick in die ver schiedenen Bildungsinstitutionen oder Bereiche, in denen Bildung und Aus bildung stattfindet, zeigt sich aber schnell, dass von einer Chancengleichheit nicht die Rede sein kann: Mădchen und Jungen sind in den verschiedenen Schulformen in der BRD unterschiedlich stark vertreten, Jungen sind an Haupt- und Sonderschulen sowie im dualen System der beruflichen Bildung iiberreprăsentiert, Mădchen hingegen iiberwiegen in allgemeinbildenden Gymnasien und an beruflichen Vollzeitfachschulen. Zudem sind die Bil dungschancen in Bezug auf die Făcherwahl in den Schulen und hinsichtlich der Fachrichtungswahlen in beruflicher oder hoherer Bildung nach wie vor deutlich von Geschlechterdifferenzen geprăgt: Nur eine Minderheit findet sich in den jeweils fur das Gegengeschlecht typischen Bereichen wieder. Die Lehrenden im Bildungswesen haben ebenfalls nicht gleichberechtigt an den verschiedenen Hierarchiestufen und Schulformen teil. So sind Frauen in den Grundschulen und im vorschulischen Bereich iiber-, in den oberen Hierar chieebenen -etwa als Schulleiterin, Professorin etc. - unterreprăsentiert (vgl. Faulstich-WielandINyssen 1998, Arbeitsstab Forum Bildung 2001). Noch drastischer sieht die ungleiche Bildungsbeteiligung bzw. der un gleiche Bildungserfolg hinsichtlich der sozialen Herkunft aus. Hier ist nicht einmal eine quantitativ gleiche Verteilung im Bildungswesen erreicht. "Dem Anspruch des demokratischen Rechtsstaates, jedem Menschen unabhiingig von sei ner Herkunft gleiche Lebenschancen zu bieten, steht auch heute noch ein nach sozialen Schichten unterschiedlicher Zugang zu Bildung und damit zu Lebenschancen entgegen. Beispielsweise besuchcn in einem Stadtteil von Essen, in dem 48% der unter 18-Jiihrigen aus Familien stammen, die Sozialhilfe erhalten, nur knapp 8% eines Jahrgangs ein Gymna sium. DemgegenUber gehen in Stadtteilen, in denen nur 5% der unter l8-Jahrigen aus Fa milien kommen, die Sozialhilfe empfangen, zwci Drittel aller SchUler zum Gymnasium. Diese Diskrepanzen beim Zugang zu Bildung setzen sich bcim Schulabschluss, bei der EinmUndung in Berufsbildung, beim Berufsabschluss sowie beim Zugang zur Hochschule fort." (Arbeitsstab Forum Bildung 2001, S. 5) Formell stehen zwar allen Lemenden alle Bildungswege offen, dennoch sind bislang nicht die Voraussetzungen fur die EinlOsung des Gleichheitsanspru ches im Bildungswesen geschaffen worden. Im vorliegenden Band beschăftigen wir uns deshalb mit den Bedingungen, die hergestellt werden miissen, um die tatsăchliche Chancengleichheit zu er reichen: Das meint, nicht die Zugangsbedingungen fur alle an Bildung parti zipierenden Personen sind das entscheidende Kriterium fur eine formale und inhaltliche GleichheitI, sondem die Umsetzung der Gleichheit stellt dieses Kriterium dar. Wird die Umsetzung der Gleichheit mitgedacht, geht es nicht so sehr lediglich darum aufzuzeigen, welche Aspekte auf eine immer noch bestehende Ungleichheit hinsichtlich Geschlecht, sozialer Herkunft, Behin derung etc. hinweisen, sondem es sind sowohl die Ursachen fur die nicht ein- Wir verstehen Gleichheit in einem umfassenden Sinn, die auch ei ne Wertschatzung der Dif ferenz miteinbezieht (s.u.).