VALERIUS CATULLUS HERAUSGEGEBEN UND ERKLÄRT VON WILHELM KROLL SIEBTE AUFLAGE B. G. TEUBNER STUTTGART 1989 CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Catullus, Gains Valerius: C. Valerius Catullus / hrsg. u. erkl. von Wilhelm Kroll. — 7.» Aufl. · Stuttgart : Teubner, 1989 (Griechisdie und lateinische Schriftsteller) ISBN 3-519-24001-7 ISBN 978-3-598-74001-5 NE: Kroll, Wilhelm [Hrsg.]; Catullus, Gaius Valerius: [Sammlung]; HST Das Werk ein schließ lidi aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungen und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1980 Printed in Germany Druck und Bindung: Präzis-Druck GmbH, Karlsruhe VORWORT Obwohl sich die vorliegende Ausgabe selbst rechtfertigen soll, halte ich es doch nicht für unnütz, einige Worte vorauszuschicken. Meine Absicht war es, das zum Verständnis des Dichters Nötige in Kürze beizubringen; denn kein Dichter verträgt Überlastung des Kom- mentars mit unzeitiger Gelehrsamkeit oder ästhetischem Geschwätz weniger als Catull. Wenn diese Aufgabe lösbar ist, so ist das ein Verdienst meiner Vorgänger, die nicht nur das Erklärungsmaterial ziemlich lückenlos zusammengetragen haben, sondern die auch die wahren wie die falschen Erklärungen so eingehend erörtert haben, daß für alle Urteilsfähigen über viele Punkte Klarheit geschaffen ist. Ich habe mich daher nicht verpflichtet gefühlt, verkehrte Ansichten zu erwähnen, außer wenn es irgendwie für das Verständnis förderlich erschien. Wer über diese Dinge mehr zu erfahren wünscht, mag Bährens, Ellis, Friedrich oder Biese zur Hand nehmen (um nur diese zu nennen). Alle diese Ausgaben haben ihre Verdienste, aber auch ihre Schwächen, und ich möchte (abgesehen von Mifigriffen der Text- kritik) àuf zwei hinweisen. Es ist in sehr vielen Fällen nutzlos, zur Erklärung Catulls Verse späterer römischer Dichter anzuführen, da diese oft direkt von ihm beeinflußt sind: ich nenne nur Martial und Statius. Es ist ferner unmöglich, die Anlässe zu allen Gedichten und die persönlichen Anspielungen restlos aufzuklären, wie eine gewisse Catulltheologie sich das einbildet: eben weil Catull oft aus der Situation heraus für sich und nicht für den Leser dichtete, bleibt die Veran- lassung des einzelnen Liedes oft ganz im Dunklen. Man kann daher auch die Lesbialieder nur relativ und auch das zum Teil nur ver- mutungsweise datieren : eine Jahreszahl zu nennen erhöht weder den Genuß noch das Verständnis. Man kommt da auch bei des Dichters einfacher Art meist mit Heranschleppen von allerlei Gelehrsamkeit nicht weiter und hat damit mehr geschadet als genützt: vor einer Belesenheit, die sich bei tria natorum (falsche Lesart) savia an das ius trium liberorum erinnert, wird sich heute hoffentlich jedermann bekreuzen. Ähnliches gilt von der Textkritik. Ich habe im Apparat das Aller- nötigste gegeben. Daß man den Text auf GO basieren kann (bei hilfsweiser Heranziehung anderer Handschriften), halte ich für aus- gemacht und glaube, daß Schwabes kritische Ausgabe noch immer genügt; für das geräuschvolle Bestreben, andere Handschriften als maßgebend in den Vordergrund zu schieben, fehlt mir das Verständnis. IV Vorwort V bedeutet den verlorenen Veronensis, der aus Gr (Sangermanenssis) and O (Oxoniensis) rekonstruiert ist, ein Stern bedeutet, daß die Hand- schrift mit der betreffenden Lesart allein steht. Die zahllosen Schreib- fehler namentlich von O anzuführen hielt ich für verwirrend und habe schon mehr davon gegeben, als anbedingt nötig ist, damit sich der Leser vom Zustande der Überlieferung ein Bild machen kann. Die sicheren Emendationen sind größtenteils längst gefunden, und ich habe nur sie in den Text gesetzt Die prurigo coniciendi, die Bährens' sonst vortrefflichen Kommentar entstellt, ist hoffentlich für immer fiberwunden; immerhin muß man vor den Leuten warnen, die eine heillos verdorbene Stelle mit Hebeln und Schrauben einzurenken glauben und nach verrichtetem Geschäft mit befriedigter Miene Ver- sichern, nun sei alles in Ordnung. Der Apparat erwähnt außer wahr- scheinlichen Konjekturen auch solche, die irgendwie zum Nachdenken über die betreffende Stelle anregen: Apparat und Kommentar er- gänzen sich wechselseitig. Die intensive Beschäftigung einiger Generationen von Philologen mit Catull enthebt mich auch der Pflicht, eine ausführliche Einleitung vorauszuschicken (die manchen die aufmerksame Lektüre des Dichters selbst ersparen würde): man findet bei Teuffei § 214 und Schanz § 102—106 alles Nötige zusammen. Über die Literatur der Jahre 1905—1920 hatK. P. Schulze im Bursian 183,1—72 berichtet; doch ist S. 47 ff. eine Abhandlung über G.s Sprache. Zu den überraschen- den Ergebnissen der tiefgreifenden Untersuchung von Marx 'Molossi- sche und bakcheische Wortformen in der Verskunst der Griechen und Römer' (Abh. Sächs. Ges. 37), die mir unmittelbar vor Beginn des Druckes zuging, habe ich noch keine Stellung nehmen können. Breslau, Mai 1922. W. Kroll. Das Register hat auf das Notwendigste beschränkt werden müssen. Bei der Korrektur haben mich meine Freunde J. Kroll und P.E. Sonnen- bur£ in aufopfernder Weise unterstützt. Die dritte Auflage ist ein fotomedianischer Nachdruck der zweiten. Jedoch sind in den „Nachträgen" von H. Herter zu c. 66 neue Er- läuterungen unter Beigabe des ganzen griechischen Textes des Plokamos und am Schluß von J. Kroymann eine Bibliographie für die Jahre 1929 bis 1957 hinzugefügt worden. Auf die „Nachträge" wird am Rande der betreffenden Textseiten durch einen Stern hingewiesen. In der fünften Auflage wurden die bibliographischen Nachträge von J. Kroymann umgearbeitet und bis zum Jahre 1967 ergänzt. Die siebte Auflage ist ein unveränderter Nachdruck der sechsten, durch neue Zu- sätze vermehrten Auflage. Stuttgart, Mai 1989 Der Verlag EINLEITUNG Die Hauptquelle für C.s Leben sind seine Gedichte. Was wir außerdem über sein Leben erfahren, ist in der Hauptsache folgende?. Hieronymus berichtet in den aus Sueton de poetis inlustribus ge- schöpften Zusätzen zu Eusebius' Chronik zum J. 87 0. Valerius Ca- tullus scriptor lyricus Veronas nascitur, und zum J. 57 Catullus XXX actatis anno JRomae moritur. Diese in sich harmonischen Angaben sind unzutreffend, da C. einige Jahre, sicher bis zum J. 54, über das d. 57 hinaus gelebt hat (c. 29. 55. 113). Entweder ist die Zahl der Lebensjahre durch Verderbnis verringert und etwa XXXIII zu schrei- ben, oder Hieronymus hat die Geburt des Dichters einige Jahre zu früh angesetzt. Daß er jung gestorben war, zeigt Ovids Äußerung (Amor. 3, 9, 62) hederá iuvenalia cindus tempora·, daß er um das J. 35 tot war, Nep. Att. 12, 4 (zu c. 1). Ferner berichtet uns Apul. apol. 10, daß der wahre Name der Lesbia Clodia gewesen sei (daß Lesbia ein Pseudonym ist, sagt uns zum Überfluß Ovid Tr. 2, 427). Daß sie die bekannte Schwester des P. Clodius war, läßt sich nicht sicher beweisen, ist aber in hohem Grade wahrscheinlich.1) Das ist alles (außer Suet. Caes. 73, s. u.): die weiteren von Schwabe vor seiner kritischen Ausgabe gesammelten Testimonia ergeben für sein Leben nichts. Der äußere Gang von Catulls Leben*) wurde dadurch bestimmt, 1) Ernsthaft bestritten ist diese Gleichsetzung von Rothstein, Philol. 78, 1. Er hält zwar wegen c. 79 die Gleichung Lesbia = Clodia ebenfalls für richtig, sieht aber in Clodia die jüngere Schwester des Tribunen, die schon etwa im J. 75 den L. Lucullus geheiratet hatte, und von der sich Lucullus nàch seiner Rückkehr aus dem Osten wegen flagranter Untreue hatte scheiden lassen (J. 66). Und zwar sagte er ihr Inzest mit dem Bruder nach (die Stellen RE IV 107; ζ. Β. Cie. Mil. 73 tum, quem cum sorore germana nefarium stuprum fecisse L. Lucullus iuratus se quaestionibus habitis dixit comperisse. Plut. Cie. 29, 2 ΛβνκονΙίος ài xal &cpajtaivídag παριίχιν, ώ; ΰνγγύνοιτο tf¡ viiotàrj] των άβείφών & ΚΙώδιος, δτι Λίυχονλλω σννωκei). Was C. über den Lebenswandel der Lesbia sagt (ζ. B. c. 58), paßt also auch auf sie, und es kommt darauf an, ob man c. 70 auf P. Clodius, c. 68 auf die Liebe zu Lesbia und 83, 1 viro auf den Gatten bezieht. Wer das erstere für unwahrscheinlich, das zweite und das letzte für wahrscheinlich hält, wird Rothsteins gut be- gründete Hypothese ablehnen müssen. Ich möchte betonen, daB der Ge- nuß an den Gedichten von der (im übrigen sehr wünschenswerten* Auf- deckung solcher Beziehungen nicht abhängt: C. konnte in der Liebe zu Ciodia minor dieselben Stürme erleben wie in der zu Clodia maior. Vgl. auch zu c. 58. 2) Die gründlichste und besonnenste Untersuchung in L. Schwabes Quaestiones Catullianae. Gießen 1862. VI Einleitung daß er aus angesehener Veroneser Familie stammte und früh seinen Wohnsitz in Rom aufschlug, ohne doch die Beziehungen zur Heimat aufzugeben. Sein Vater war der Gastfreund Cäsars, der bei ihm während des Winteraufenthaltes in Oberitalien abstieg (Sueton, an- geführt zu c. 29). Er sandte den Sohn wohl bald nach Anlegung der Toga virilis zur Vollendung seiner Ausbildung nach Rom; er konnte ihm den Weg durch allerlei Empfehlungen ebnen uud hätte es vielleicht nicht ungern gesehen, wenn der Sohn politischen Ehrgeiz oder finanzielle Talente entfaltet hätte. Einen kleinen Versuch in beiden Richtungen bedeutete seine Reise nach Bithynien in der Cohors des Memmius, der im Frühjahr 57 als Proprätor nach Bithynien ging: aber die finanziellen Erwartungen, die er an die Reise knüpfte, er- füllten sich nicht, und für die weitere Laufbahn blieb sie ohne Be- lang. Er konnte auch so leben, sein Leben mit Dichten und Lieben vertändeln, ohne daß ihn die kleine Not des Lebens erreichte — vor- übergehende kleine Verlegenheiten (c. 26) gehörten zum guten Ton: der Besitz einer Villa bei Tibur und Gedichte wie 23 (V. 26) und 41 zeigen das. Er lebte in der Gesellschaft und für die Gesellschaft, und diese war die „gute", wie die Beziehungen zu Hortensius, Cicero, Manlius Torquatos, Clodia usw. zeigen; aber sie war nicht gut, denn sie war von einer grauenhaften Korruption ergriffen, unter der na- mentlich die ehelichen Verhältnisse litten, und huldigte einem mehr oder minder graziösen Müßiggang. Catull hat das alles aus Mode oder Überzeugung mitgemacht, auch für einen schönen Knaben ge- schwärmt und in dieser Schwärmerei und anderen Liebeleien abge- schwächt ungefähr dasselbe erlebt wie in der Liebe zu Clodia. Daß aber alles Schmutzige, was an ihn herantrat und den Spiegel seiner Seele trübte, doch den Kern seines Wesens unberührt ließ, zeigt seine Fähigkeit zu echter Freundschaft und Liebe, für die er Töne findet, die wir sonst aus dem Altertum nicht vernehmen (c. 9. 72. 76), zeigt vor allein sein Schmerz über den Tod des Bruders (c. 68), dessen Grab er auf der bithynischen Reise besuchte (c. 101). ^ Wie ihn dieses traurige Ereignis zu einer Reise in die Heimat veranlaßte (68, 27), so weilte er auch sonst häufig dort und nahm an dem Leben der heimischen Lebewelt regen Anteil, an den gerade dort gefeierten Schönen (c. 43. 86), deren Reize vor denen seiner Lesbia verblassen, an den hier und da geknüpften Liebesbanden (c. 35. 100. 110 f.) und dem Klatsch, der sich daran heftete (c. 17. 67): über dem allen steht doch eine heiße Liebe zur Heimat, die er nach der Rückkehr aus Asien in ergreifenden Versen ausspricht (c. 31). Mögen auch die Farben auf seiner Palette beschränkt sein, die einzelnen Töne haben 1) Übrigens begegnet ein L. Valerius Catullus als Müuzmeieter etwa m der Mitte der augusteischen Zeit (Proeop. Imp. Rom. 3, 354 Nr. 88), der von diesem Bruder abstammen könnte, und dessen Familie ist auch weiterhin nachweisbar. Übrigens erinnert C.s Trauer an die Lamiae fratrem maerentis, rapto de fratre dolentis insólabiliter (Hör. Ep. 1, 14, β). Einleitung VII eine starke Leuchtkraft, die durch die Jahrtausende kaum gelitten hat. Erlebnis und Dichtung gehören bei ihm enger zusammen als bei den meisten römischen Dichtern, und Horaz' Worte über Lucilius parodierend könnte man sagen: patet omnis votiva ν eluti descripta tabella vita adulescentis. Die Unterlagen für das Verständnis des Dichters Catull enthält der Kommentar, und ich kann mich hier auf weniges beschränken. Catull zeigt zunächst ein doppeltes Antlitz, einmal das des von schwerer Tradition belasteten Alexandriners, dann das des urwüchsigen Naturburschen. Er trat in Rom in den Kreis der neoterischen Dichter ein, wobei auch landschaftliche Beziehungen mitspielen mochten, und zählte zwei seiner hervorragendsten Vertreter, Licinius Calvus und Helvius Cinna, zu seinen nächsten Freunden (über Valerius Cato vgl. zu c. 50): hier lenite er das Technische, gewöhnte sich an die da- mals gangbaren Versmaße (s. u.) und wurde auf die alexandrinischen Vorbilder hingewiesen, unter denen Kallimachos in erster Reihe stand. Er hat das Handwerksmäßige bald bemeistert, ohne doch den Wert des Technischen zu überschätzen, und ein Kunststück wie die Uber- tragung von Kallimachos Galliamben fertig gebracht. Aber diese St>il- übungen füllten ihn nicht aus, denn er hatte ein in Haß und Liebe leidenschaftliches Herz, das ihn in allen heftigen Stimmungen zur Schreibtafel trieb: ohne Schonung gegen sich und andere gab er allen seinen Stimmungen sofort Ausdruck, leicht reizbar und leicht versöhnlich. *) Stärker als irgendein anderer antiker Dichter und als irgendein moderner vor Goethe erinnert er an die großen griechi- schen Lyriker, an Archilochos, Sappho und Alkaios: aber obwohl er sie kennt und obwohl ihr Vorbild ihm im ganzen vorschweben mag, im einzelnen ist er hier fast ganz selbständig und auch in der Technik unbefangen, so daß er Härten und Verstöße nicht scheut. Die köst- lichsten Früchte hat seine Liebe zu Clodia gezeitigt, von deren Per- sönlichkeit man sich weder nach seinen Gedichten noch nach Ciceros Angriffen ein verzerrtes Bild machen darf. Leicht aufbrausend, wie er war, würde er in jedem Verhältnis ähnliche Aufregungen erlebt haben, und Anzeichen für solche fehlen nicht (c. 110); selbst seine Freundschaftsverhältnisse machten ähnliche Stürme wie seine Lieb- schaften durch Im Augenblick sah er dann nur Schwarz oder Weiß und gab seiner Seligkeit wie seinem Haß unverblümten Ausdruck: so ist er fast zum Klassiker der Invektive geworden und hat auf dem Wege über Martial eine starke Nachwirkung geübt; schon Vergile 1) Daher geht es im aligemeinen nicht aii, die Gedichte nach den darin ausgesprochenen Stimmungen zu datieren; das wird namentlich für die übliche „Chronologie" seiner Liebe zu Lesbia verhängnisvoll. Wo sich über die Zeit eines Gedichtes mit eiDer gewissen Wahrschein- lichkeit urteilen liißt, hahe ich es im Kommentar bemerkt. Wo wir übrigens sicher datieren können, kommen wir in die Zeit nach der bithy- nischen Reise, und Rothstein mag recht haben, wenn er fast die ganze Produktion in diese Zeit verlegt. Vili Einleitung Gatalepton stehen ganz unter seinem Einfluß, und Horaz' Iambi werden auch durch ihn angeregt sein: nur daß Horaz, dem sitnius iste nil praeter Oalvum et docius cantare Catullum zuwider ist, das Saloppe, Manierierte und einseitig Persönliche der Catullischen Dichtung ab- sichtlich meidet. Denn darin liegt seine Stärke und seine Schwäche, daß alles aus dem Persönlichen quillt: die hochgehenden Wogen einer politisch erregten Zeit spielen zwar in kleinen Wellen auch in seine Dichtung herein, aber nicht die Not Borns drückt ihm das Herz (am ehesten noch in c. 52), sondern kleiner Ärger und Enttäuschungen, die er und seine Freunde durchmachten. Darin ist er ganz ein Kind der Gesellschaft, in die er durch seine yon Hause mitgebrachten Be- ziehungen eintrat, der arg verderbten senatorischen Gesellschaft Roms, deren Vorbild auch für die „besseren" Kreise der Provinz maßgebend wurde (c. 67): für sie stand der Vorteil des einzelnen und allenfalls der Familie durchaus im Vordergrund, das Vaterland bedeutete im Grunde nichts. Bei näherem Zusehen wird man die Einheit der dichterischen Persönlichkeit in den großen und kleinen Gedichten nicht ver- kennen: so verschieden die Themen sind, die angewendeten Mittel gleichen sich sehr.1) Wir kennen leider fast nirgends Catulls Vor- bilder: in dem einzigen Falle, wo wir es können (c. 51), sehen wir ihn den Sinn des Originals völlig umbiegen. Bei den Übersetzungen aus Kallimachos und anderen Alexandrinern hatte er dazu weder innere noch äußere Veranlassung, aber man hat den Eindruck, daß er — oft vielleicht unbewußt — den Ton in eine gemütlichere Sphäre verschiebt, mehr anheimelnd zu wirken sucht. Es liegt teilweise schon daran, daß er die Glossenjägerei seiner gelehrten Vorbilder nicht mit- macht und trotz der Anlehnung an Ennius, die durch das epische Versmaß gegeben war, immer verständlich bleibt. Aber er hat die kleinen, ansprechenden Züge, wie sie sich bei Kallimachos fanden, verstärkt und hat die bei ihm diskret angewendete Wiederholung zu einem Mittel ausgebaut, das viele seiner kleinen Gedichte allein trägt. Überhaupt hat er eine ganze Reihe stereotyper Mittel ausgebildet, die er in allen Gedichten anwendet, auch wo sie zum Stil nicht recht passen: die Deminutiva, die synkopierten Formen, die verschränkte Stellung der Adjektiva und Substantiva, die nachschleppende α Parti- zipia. Hier wie dort zeigt sich neben Manier und Raffinement Pri- mitives und Archaisches, nicht nur in dem schweren Versbau und lästigen Hiaten und Elisionen, sondern auch in schwerfälligen Perioden und der Verwendung prosaischer Ausdrucksweisen. Stilgefühl ist vor- handen, wie die Verschiedenheit in der Technik der großen und kleinen Gedichte beweist, aber es kann sich nicht ungehindert ent- 1) Daß ee nicht angeht, die großen Gedichte wegen der gereifteren Technik ohne weiteres in C.s spätere Zeit zu setzen, liegt auf der Hand. Denn bei den kleinen gestattete teile das genu« eine saloppere Behand- lung, teils nahm eich C. in seiner Erregung nicht die Zeit zur Feile. Einleitung IX falten, wie eben die Übereinstimmungen zeigen. Das liegt zum Teil daran, daß die volle Beherrschung der Form noch nicht erreicht war — das blieb der nächsten Generation vorbehalten — es liegt aber namentlich an dem Temperament des Dichters, das ihm nicht die Ruhe zur letzten Feile ließ, wo sein Herz beteiligt war. Aus ihm fließt auch die ungemeine Derbheit seiner Invektive, die sich nicht selten bis zur TJnflätigkeit steigert und dann unkünstlerisch wirkt. Die Alten waren in Eroticis nicht zimperlich, und wir wollen es ihnen danken: aber Widerliches, wie es ζ. B. c. 97 auspackt, widerstrebt der künstlerischen Gestaltung und sollte nicht mit Liedern wie 61. 62. 76 in derselben Sammlung stehen. Eine unbefangene Kritik wird diese Mängel nicht beschönigen, um so weniger, als sie durch einen Vorzug aufgewogen werden: die unbedingte Ehrlichkeit der meisten und gerade dieser Gedichte. An- empfundenes findet sich in den kleinen Gedichten (c. 99), aber ganz vereinzelt; Anlehnung an hellenistischeVorbilder wäre wohl noch einige Male öfter zu erweisen, wenn wir die hellenistische Dichtung besser kennten, aber sie bedeutet nicht viel gegenüber dem, was Catull aus Eigenem dazutut und was wegen dieser Originalität heute noch frisch wirkt wie am ersten Tage. Ardoris nostri mafjne poeta taces werden wir dem Dichter mit ehrlicherer Dankbarkeit nachrufen als demProperz. Die Frage, ob Catull die uns überlieferte Sammlung selbst zusam- mengestellt hat, läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden. Sie ist weder durch das vorgesetzte Widmungsgedicht bejahend, noch durch das Auffällige der Anordnung und die Erwägung, daß er jung gestorben ist, verneinend beantwortet. Denn das Widmungsgedicht kann zu einer kleineren, die ersten 60 Gedichte umfassenden Sammlung gehört haben (diese von Bruner begründete Ansicht hat viele Anhänger gefunden). Anderseits gibt es wenigstens eine sichere Spur davon, daß Ge- dichte Catulls außerhalb unserer Sammlung umliefen (fr. 1. 2), die Catull nach deren Abschluß gedichtet haben könnte. Am meisten Ein- druck hat immer das aus der eigentümlichen Anordnung geschöpfte Argument gemacht. Die Sammlung zerfällt nach dem ersten Eindruck in drei Teile: 1. die Gedichte in verschiedenen Maßen c. 1—60, unter denen die fiendekasyllaben überwiegen, 2. c. 61—68 die großen Ge- dichte, 3. c. 69—116 die Epigramme in elegischem Maß.1) In der Tat kennen wir keine in derselben Art angeordnete Sammlung: bei- spiellos ist die Polymetrie im ersten und zweiten Teile gegenüber der Einförmigkeit im dritten, die Gruppierung der großen Gedichte, von denen c. 64 ein selbständiges Buch bilden könnte, als eine Art von Omphalos, und der Umfang des Ganzen bei einem vermischten Gedichtbuch. Aber das genügt nicht, das Zusammenwachsen aus drei ursprünglich selbständigen Teilen zu erweisen. Es läßt sich nicht ver- kennen, daß der Sammler (ob es nun C. war oder ein anderer) ge- X) Siehe S. X Anm. 1. χ Einleitung wissen, damals beliebten Gesichtspunkten folgte. Im ersten Teile dem Prinzip der variatio, das auch für Horaz bestimmend war (IIb. Jahrb. 37,95); dieses greift auch in den zweiten Teil über, da inc. 61—64 die- selbe Abwechslung herrscht; daß diese erste Hälfte in einem epischen Gedichte kulminiert, ist offenbar auch berechnet. Mit c. 65 beginnt die metrische Einförmigkeit; denn von da an bis zum Schlüsse herrscht das elegische Maß 1) Daneben wirkt die Bücksicht auf den Inhalt, indem verwandte Gedichte entweder nebeneinander gestellt oder durch ein anderes getrennt sind; jenes ist der Fall c. 2. 15. 61. 75. 88—91. 95. 97. 110. 114, dieses c. 5. 16—21—23. 37. 41. 69. 70. 85. 107 (ζ. T. im Kommentar bemerkt). Alles das beweist nicht völlig, daß Catull selbst die Sammlung so angeordnet hat, wie sie uns vorliegt; aber das Widmungsgedicht zeigt es. Auffällig sind bei diesem Sach- verhalt nicht manche Lücken und Umstellungen, da wir sie leicht auf Kosten der Uberlieferung setzen können, wohl aber das Vorhandensein von Entwürfen (vgl. bes. 58 a). Vielleicht kann man sich hier mit der Annahme helfen, daß eine vom Dichter kurz vor seinem Tode veranstaltete Sammlung sehr bald von den Freunden durch alles er- gänzt worden ist, was sich als halbwegs publikationsfähig im Nach- laß vorfand. So erklärt sich vielleicht auch die Aufnahme eines Zettels wie c. 60. Dabei müßte ihnen das Priapeum entgangen sein oder die Priapea, die die Grammatiker wohl in einer der erhaltenen verwandten Sammlung gelesen haben mögen. Soviel ist in jedem Falle sicher, daß abgesehen von diesem Falle die Späteren nur die Sammlung der 116 Gedichte kennen. Catulls Nachwirkung war in der Zeit nach seinem Tode sehr stark (o. S. III), beschränkte sich aber mehr und mehr auf das Gebiet der Invektive, so daß er für Martial das wichtigste Vorbild ist. Da er für die Schullektüre aus begreiflichen Gründen nicht in Betracht kam, so geriet er allmählich in Vergessenheit, und seine Texte wurden eine Rarität. Ein eigentümlicher Zufall hat es gefügt, daß seine Er- haltung einer in seiner Vaterstadt befindlichen Handschrift verdankt »-» wird — abgesehen von c. 62, das im 9. Jahrh. in ein Florilegium aufgenommen wurde —, die Bischof Rather von Verona im J. 965 ** gelesen zu haben scheint; sie schlummerte dann unbenutzt, bis sie zu Anfang des 14. Jahrh. von einem Humanisten ans Licht gezogen und eifrig abgeschrieben wurde. Da sie selbst bald darauf verloren ging, so müssen wir sie aus den Abschriften herstellen, was in den meisten Fällen möglich ist. Von besonderer Wichtigkeit sind der 1) Reitzeneteins Annahme (Epigr. und Skolion 103), C. habe die in elegiechem Maße gehaltenen c. 69—il6 als Epigramme angesehen und deshalb zusammengeordnet, die Polymetra des ersten Teiles nicht, er- scheint mir daher nicht als stichhaltig; wir wollen den EinfluS solcher Theorien nicht überschätzen. Was er im übrigen über die Frage sagt (RE β, 110), mache ich mir ganz zu eigen und widerlege nicht nochmals Annahmen, die er schon widerlegt hat. Vgl. übrigens Teuffei § 214, 7 und Schanz § 103.