Alice Pechriggl Castoriadis: Denker der Revolution – Revolution des Denkens Edition Moderne Postmoderne Alice Pechriggl ist seit 2003 Professorin für Philosophie an der Alpen-Adria-Uni- versität Klagenfurt und eine der profundesten Castoriadis-Kenner*innen. Von 1988 bis zu seinem Tod 1997 studierte sie bei ihm an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris, wo er ihre Arbeit zum Geschlechterimaginären betreute. Alice Pechriggl Castoriadis: Denker der Revolution – Revolution des Denkens Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften und des Forschungsrats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. 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Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau- download Inhalt Vorbemerkungen................................................................... 7 Einführung ......................................................................... 9 I SeinalsVeränderung DieEntdeckungdesImaginärenzwischenOntologieundErkenntnistheorie .... 35 1 DerEinfallderEinbildungalsontologischerAufbruch. Vom Novumzur Veränderung ................................................. 40 2 PhilosophierenalsEröffnungneuerGültigkeit................................. 63 3 InstituierendesImaginäres–DialektischesBild. Wo Walter BenjaminundCornelius Castoriadiseinander kreuzen............... 92 II Psyche-Soma ZurVerknüpfungvonPhilosophieund Psychoanalyse..........................113 1 PsychischeMonadeundKultur................................................ 117 2 SchwierigeFreiheitzwischenPsyche-Somaund kultureller Verkörperung ..... 125 III KollektiveAutonomie Demokratie–Freiheit–Revolution............................................157 1 GeschlechterwandelimKontextdes »instituierenden Imaginären«............ 163 2 DiepolitischeVerwirklichungderFreiheitals»kollektive Autonomie«: zur Untrennbarkeitvon Ethikund Politik...................................... 186 3 WelcheRevolution?SubjektundPolitik....................................... 201 Literatur ......................................................................... 231 WerkevonCastoriadis............................................................. 231 SonstigeLiteraturundVorträge(inkl.Weblinks)....................................234 Vorbemerkungen DieinderPhilosophiegängigengriechischenTerminiwerdeneingedeutscht verwendetunddahernichtkursivgesetzt.EinHinweiszudenSchriftenvon Castoriadis und zur Zitationsweise: Der Großteil der hier verwendeten Ar- tikel von Castoriadis wird nach den sechs Bänden der Carrefours du labyrin- the (CL, 1978-1999) zitiert; die meisten wurden Jahre zuvor in verschiedenen ZeitschriftenoderTagungsdokumentationenveröffentlichtunddanachnoch- mals von ihm überarbeitet.Band 6 der CL ist posthum erschienen,war von CastoriadisjedochschonfürdiePublikationvorbereitetworden.AlleBände sind Sammlungen von Aufsätzen und keine Monographien (die einzige Mo- nographie von Castoriadis ist GesellschaftalsimaginäreInstitution, wenn man vondemkleinenBuchDevantlaguerreabsieht,daskeinephilosophische,son- derneinepolitologisch-zeitgeschichtlicheSchriftist).ZahlreicheArtikelsind posthuminweiterenAufsatzsammlungenerschienen,etwaFenêtresurlechaos 2007,Histoireetcréation2009unddie8BändederÉcritspolitiques.Mittlerweile sindnebenGesellschaftalsimaginäreInstitutionzahlreiche,daruntersehrlange, Aufsätze ins Deutsche übersetzt; von den 6 Bänden der CL ist es nur der 1. Band,DurchsLabyrinth,er erschien bei Suhrkamp.Bei Verlag Edition AV ist eineumfangreicheTextsammlungunterdemTitel»AusgewähltenSchriften« erschienen,derenHerausgebersichnichtandieZusammenstellungderTex- tedurchCastoriadishielten,sonderndieAufsätzegemäßihreneigenenthe- matischen Kriterien zusammenfügten.Diejenigen Seminare an der EHESS, die posthum bei Seuil erschienen sind,gibt es vorerst nur im französischen Original;dienochnichterschienenenSeminare,dieichverwende,zitiereich nach den Transkripten, die mittlerweile in den Fonds Castoriadis im IMEC in Caen archiviert und konsultierbar sind. Die Bibliographie am Ende gibt genauerAufschlussüberdieAufsatzsammlungenunddiesiebezeichnenden Siglen.VondenveröffentlichtenTextenvonCastoriadisverwendeundzitiere ich meist die französischen Originaltexte in der je letzten von ihm bearbei- 8 Castoriadis:DenkerderRevolution–RevolutiondesDenkens teten Version. Die wenigen wörtlichen Zitate übersetze ich selbst, oder ich verwende eine zumeist von mir abgeänderte Übersetzung ins Deutsche. In denFußnotenfindensichdannauchdieVerweiseaufdiedeutscheÜberset- zung,wenneinesolcheexistiert.FürbloßeVerweisegebeich–sovorhanden –diedeutscheÜbersetzungan;diejenigen,dieCastoriadisimOriginallesen können,werdendenfranzösischenTextleichtfinden,insbesonderewennsie die Bibliographien von agorainternational verwenden.Eine Werkausgabe auf Deutsch, die den noch nicht abgeschlossenen französischen Werkausgaben (bei Seuil für die philosophischen Schriften, bei Sandre für die politischen Schriften) folgt, wird wohl noch länger auf sich warten lassen, geschweige denn eine, welche alle auf Tonband aufgenommenen Seminare enthält, von denenzumheutigenTagdreiJahrgängeimfranzösischenOriginalveröffent- lichtwurden. 1 Einführung Wer war Cornelius Castoriadis? Was war er? Revolutionär und Philosoph. Ökonom. Psychoanalytiker. Politischer Denker und Aktivist, der Parrhesia verpflichtet.Lehrer.AnderKreuzungdesChiasmas»DenkerderRevolution – Revolution des Denkens« steht der Philosoph des 20. Jahrhunderts, der die Revolution, die er doch nicht selbst erlebte, am gründlichsten und am beständigsten durchdachte. Von der gescheiterten oder verpassten antika- pitalistischen Revolution herkommend, machte er mit der Psychoanalyse die Revolution des Denkers selbst durch und revolutionierte das Denken als solches, nicht nur durch seine geniale Ontologie. Er verband all die genannten Tätigkeiten unablässig zu einem Lebenswerk, dessen Tragweite 2 erstallmählichauchimdeutschsprachigenRaumermessenwird. 1 IchdankeCristinaBeretta,NinavonKorff,EvaLaquièze-WaniekundMartinWeißfür wichtigeAnmerkungen. 2 DaslangeRadiointerview,dasKatharinavonBulow1996inderSendungLebonplai- sir mit Castoriadis führte, ist ein guter Einstieg in diesen außergewöhnlichen Le- benslauf eines Zeitgenossen, der das 20. Jahrhundert diagnostizierte, synthetisier- te und zu verändern suchte: https://www.youtube.com/watch?v=sI5xlrQDC9g. Wei- tersdieSendung»Castoriadis:untitandanslelabyrinthe,1922-1997«vonClémence Mary: https://www.franceculture.fr/emissions/une-vie-une-oeuvre/cornelius-castoriadi s-un-titan-dans-le-labyrinthe-1922-1997. Etwas spezieller ist das Interview, das Chris MarkermitdemPhilosopheninderSerieL’héritagedelachouette1989überdieDe- mokratieführte:Uneleçondedémocratie:https://vimeo.com/128666476.Seineeigenen DarstellungenüberseinenintellektuellenWerdegangfindensichinderEinleitungzu Lasociétébureaucratique,EPV,SB,Paris2015,sowieindemlangenText»Faitetàfaire«, in:M.Busino(Hg.),Autonomieetautoorganisation.LaphilosophiemilitantedeCornelius Castoriadis,Genf1989,S. 457-511,dt.»Getanundzutun«,in:AS4,S. 183-269.Dieser TextisteinebündigeAntwortaufdieindemBandversammeltenkritischenBeiträge seinerdamaligenKolleg_innen. 10 Castoriadis:DenkerderRevolution–RevolutiondesDenkens Castoriadis war auch Sohn einer früh verstorbenen Mutter, eines stren- gen und zugleich liebevollen Vaters, selbst Vater zweier Töchter, Ehemann, Freund,GeliebterundLiebhaber–nichtnurvonMusik,obwohlerdasgerne betonte;erwarmehrmalsaufderFlucht,underwarFreundderFlüchtlinge (sanspapiers),denenernochinhohemAlterbeistand,alsdieBehördensieaus ihrenZufluchtsunterkünftenin Pariszujagen suchten.Vertreibung,Flucht, ZufluchtundAngstvorneuerlicherAbschiebung(inden1950erund60erJah- renausFrankreichzurückindasvondenMilitärsbeherrschteGriechenland) prägen sein Leben seit seiner Geburt. Er wohnte zuletzt 1, rue de l’Alboni in 3 derWohnung,inderBernardoBertolucciDerletzteTangoinParis drehte. In dieserWohnung,diezumTeilseineArbeitsstättewar,empfingerauchseine Analysand_innenundunsStudent_innen,derenArbeitenerbetreute. Sein tragischer Tod nach langem Todeskampf Ende 1997 versetzte uns nicht nur in Angst, Trauer und Wut, sondern auch in tiefe Zweifel, was die AnerkennungdesTodes anlangt.Der Philosoph hatte diese von einer halbwegs aufgeklärten Kultur immer eingefordert, und er hatte mit der kollektiv ver- breiteten Verdrängung des Todes die Hybris in der von Technobürokratie und Gewinnsucht beherrschten Gesellschaft verbunden. Zugleich hat er immer auch auf die psychische Unmöglichkeit einer solchen Anerkennung verwie- sen (die Psyche im radikalen Sinn von Castoriadis – und im Anschluss an Freud – kann sich ihren Tod nicht vorstellen, sie kann ihn auch nicht träu- men, geschweige denn anerkennen). Der todkranke Patient wollte weiterle- ben, riskierte eine hochriskante Operation und verfiel nach postoperativen KomplikationenineinemehrmonatigeAgonie,ausdereram26.Dezember 1997erlöstwurde. Ich kannte Castoriadis zwischen 1988 und 1997 vor allem als Lehrer und Betreuer.Weilichihnkannte,kannmeinBuchüberihnnichtnicht miteiner Frage nach dem Menschen, seinem Leben und seinem Tod beginnen, auch wenn,odergeradeauchweileseinphilosophischesBuchist,dasalssolches immerschonvordemHintergrunderfahrungsbezogenerundnichtbloßabs- trakterFragenentstand. Castoriadis hat uns gelehrt,dass Kohärenz das Wichtigste und zugleich Schwierigsteist,egalobwirPhilosoph_innenoderpolitischeAktivist_innen, Dienstleister_innen,Handwerker_innen,undTechniker_innen,Geistes-,Ge- sundheits-,Hilfs-oderSexarbeiter_innenbzw.BauernundBäuerinnensind. 3 Italien/Frankreich1972mitMariaSchneiderundMarlonBrandoindenHauptrollen.