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Carl Ludwig Nietzsche / Emil Julius Schenk – Briefwechsel PDF

318 Pages·2020·2.996 MB·German
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Preview Carl Ludwig Nietzsche / Emil Julius Schenk – Briefwechsel

Carl Ludwig Nietzsche Emil Julius Schenk Briefwechsel Herausgegeben von Martin Pernet Carl Ludwig Nietzsche / Emil Julius Schenk – Briefwechsel Carl Ludwig Nietzsche / Emil Julius Schenk – Briefwechsel Herausgegeben und kommentiert von Martin Pernet Martin Pernet Sent, Schweiz ISBN 978-3-476-05168-4 ISBN 978-3-476-05169-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05169-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikrov erfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © akg-images / picture alliance J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Vorwort Es war im Herbst 1982. Ich fuhr mit Reiner Bohley (1941–1988), einem der ersten Erforscher von Quellen über und Darsteller von Friedrich Nietzsches Jugendzeit, von Naumburg nach Röcken. Ich war in der damaligen DDR in verschiedenen Archiven auf Quellensuche nach Material über die Pfarrerfamilie Nietzsche. Da erwähnte Reiner Bohley mir gegenüber, dass er im Nietzschearchiv in Weimar auf eine umfangreiche Korrespondenz zwischen dem Vater des Philosophen und einem Theologenfreund mit Namen Schenk gestossen sei. Er meinte, dieser Briefwechsel sollte unbedingt publiziert werden. Doch allein sein Umfang und die Kommentierung sei Arbeit für ein ganzes Team und dies über Jahre hinweg. Daraufhin sah ich mir diese Korrespondenz in Weimar näher an und bemerkte schon bald, dass ich Reiner Bohley Recht geben musste. Allein zur Erhellung von Nietzsches Jugendzeit in Röcken, was die Atmosphäre und das damalige Leben im Röckner Pfarr- haus betrifft, ebenso der theologischen Überzeugung von Nietzsches Vater, lohnte sich eine Publikation in jedem Fall. Hinzu kam, und dies ist wohl der wesentlichste Punkt, dass dank dieser Korrespondenz die lebenslange Auseinandersetzung des Phi- losophen mit der in seinem Elternhaus als Kind erlebten und anerzogenen Richtung innerhalb des Christentums inhaltlich besser verstanden und eingeordnet werden kann. Das Leben eines Menschen beginnt bekanntlich nicht mit sich selbst, sondern mit seinen Eltern und deren Eltern und Grosseltern. Durch sie sind wir bestimmt und begrenzt, das geworden, was wir geworden sind. Damit sollte auch ein für alle Mal Klarheit geschaffen sein darüber, dass die landläufige und immer wieder kolportierte und nur selten hinterfragte Charakterisierung Nietzsches als eines Atheisten, der schon in seiner Jugendzeit mit dem Christentum (welche Form von Christentum wird dabei allermeist nicht gesagt) gebrochen habe, an den Fakten vorbeigeht. Auch wenn der christliche Glaube für Nietzsche schon bald eine Überzeugung war, die er zunächst in Frage stellte, im Laufe seines Lebens alsdann immer stärker bekämpfte, so muss seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Christentum doch auch unter dem Gesichts- punkt gesehen werden, dass an dieser Religion etwas war, was ihn nicht losließ. Hinzu kommt, dass er die im Vaterhaus erlebte Christlichkeit, nämlich in der Form der Er- VI Vorwort weckten1, uneingeschränkt gelten ließ, ja von seiner Kritik ausdrücklich ausnahm und meinte, dies sei die einzige Gestalt, in der das Christentum in seiner Gegenwart noch gelebt werden könne. Die hier vorgelegte Korrespondenz gibt darüber Rechenschaft. Obwohl Briefe zu den wichtigsten Denkmälern gehören, die ein einzelner Mensch hinterlassen kann, so darf eine Publikation derselben nicht unbedarft geschehen. Waren diese doch, wie auch in unserem Fall, nicht für die Augen der Allgemeinheit bestimmt. Doch was wüssten wir vom Vater Friedrich Nietzsches, von seinen theologi- schen, politischen Gedanken und seiner familiären Situation, wenn uns seine Briefe nicht erhalten wären? So muss Goethe Recht gegeben werden, wenn er meinte, dass Briefe „Blätter für die Nachwelt“ sind und es ein „groses Glück sei, wenn man kor- respondirt“.2 Der Briefwechsel von Carl Ludwig Nietzsche mit Emil Julius Schenk umfasst insgesamt 240 zum Teil umfangreiche Briefe.3 Nach der schweren Erkrankung ihres Mannes übernahm Franziska Nietzsche den schriftlichen Gedankenaustausch mit Schenk, intensivierte zudem ihre bereits bestehende Korrespondenz mit Schenks Frau Emma. Nach Emmas frühem Tod 1863 führten Schenk und Franziska Nietzsche den Briefaustausch zusammen weiter.4 Bis ins hohe Alter gingen Briefe, geschrieben meist anlässlich Franziskas resp. Schenks Geburtstag, von Dodendorf, wo Schenk seit 1862 amtete, nach Naumburg und umgekehrt hin und her. Sie erzählen von familiären und beruflichen Ereignissen. Die hier publizierte Briefauswahl enthält gut hundert Briefe aus der Feder der beiden Freunde. Hinzu kommen noch einige wenige Briefe aus der Korrespondenz Franziska Nietzsches und den Schenks. In diesem Band mit ausgewählten Briefen sind diejenigen Schreiben aufgenommen worden, die ein Licht werfen auf die jeweilige familiäre Situation, zudem solche, die Rückschlüsse auf die theologische Denkungsart der Briefschreiber zulassen und schließlich alle Mitteilun- gen, die das Kind, den Jungen und schließlich den Studenten und späteren Univer- sitätslehrer Friedrich Nietzsche betreffen. Auch Nietzsches geistigen Zusammenbruch hat Schenk noch erlebt, in späten Jahren, nämlich im Frühjahr 1892, Mutter und Sohn in Naumburg besucht und sich Franziska gegenüber schriftlich dazu geäussert. So kann sich der Leser ein gründliches Bild machen von der familiären Luft, die der junge Friedrich während seiner Kindheit in Röcken eingeatmet und die ihn wesentlich geprägt hat. Ebenso vom Bild, das Mutter und nahe Bekannte sich vom erwachsenen Denker gemacht haben. Noch einige wenige Hinweise zur Schreibweise der Briefschreibenden. Carl Ludwig Nietzsche schrieb dasselbe Wort oft unterschiedlich (z. B. Interesse und Intresse; blos und bloß usw.). Franziska Nietzsche hatte Schwierigkeiten mit dem Schluss-n resp. Schluss-m; ebenso schreibt sie innerhalb eines Wortes: statt „immer“ 1 Vgl. dazu: Martin Pernet: Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche. Opladen 1989. Ders: Nietzsche und das ‚Fromme Basel‘, Basel 2014, bes. Sn.289–323. 2 Zitiert nach Carla Wirz: „Der Brief ist tot – oder doch nicht?“, in: NZZ vom 21.8.2015. 3 Aufbewahrt im Goethe und Schiller Archiv in Weimar unter den Siglen GSA 100/363 und 100/396. 4 GSA 100/726; 100/835; 100/836. Vorwort VII „imner“, statt „himmlisch himnlisch“, an Stelle von „Freundin Freundinn“ usw. Im Weiteren lesen sich bei ihr manchmal „Danck“, „dencken“, auch „Aeßerung“ an Stelle von „Äußerung“. Alle diese sprachlichen Unregelmäßsigkeiten wurden beibehalten. Im Weiteren wurden Wörter, die nicht entzifferbar waren, mit […] wiedergegeben. Wenn sich der Herausgeber auch bemüht hat, allen in der ge- samten Korrespondenz genannten Namen nachzugehen und einer entsprechenden Persönlichkeit in einer Anmerkung zuzuweisen, so war dies trotz großem Bemü- hen in einzelnen Fällen nicht möglich. Insbesondere dann nicht, wenn im Brief- text Vorname und Wohnort fehlten, was nähere Angaben oft unauffindbar machte. Von Herrn Prof. Dr. Hubert Treiber (Hannover) habe ich in dankenswerter Weise die Adresse von Frau Annemarie Schleebach erhalten, die in unermüdlicher Arbeit und unzähligen Stunden einen großen Teil dieser Korrespondenz, geschrieben in der oft nur schwer lesbaren Sütterlinschrift, Zeile für Zeile in eine für uns lesbare Handschrift transkribiert hat. Anschliessend wurden die unlesbaren Wörter mit den Originalen im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, dem das Nietzsche-Archiv angegliedert ist, abgeglichen und die Lücken, wenn immer möglich, gefüllt. Daran anknüpfend über- trug Gabriela Maria Pernet alle Briefe in eine elektronische Form. Ohne die unschätz- bar aufopfernde Arbeit dieser beiden Frauen hätte dieser Briefwechsel nicht erscheinen können. Ihnen sei an erstere Stelle von ganzem Herzen gedankt. Auch möchte ich einer Mäzenin, die einen namhaften finanziellen Betrag an die Realisierung dieses Projektes geleistet hat, von Herzen danken. Mein Dank geht im Weiteren an Herrn Dr. Nikolai Borchers (Überlingen), der bei der Sichtung des Briefkonvoluts behilflich war, wie auch an Herrn Prof. Dr. Manfred Koch (Sent) für die Durchsicht des Manuskripts, sowie an Frau Lena Koch, Archivarin am Landeskirchenarchiv in Magdeburg, die immer wieder mit großer Geduld alle meine Fragen nach Biogrammen gesuchter Personen beantwortet hat. Unterstützt haben mich auch Frau Annegret Jungnickel vom Stadtarchiv Naumburg, Herr Jens Hellwig vom Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg, Frau Brigitte Kunze von der Kirchgemeinde St. Johannis in Plauen, Herrn Dr. Jörg Müller, Referatsleiter im Landesarchiv Thüringen in Altenburg sowie Frau Kristin Schubert, Leiterin des ev.-luth. Landeskirchenarchiv Sachsens in Dresden. Schließlich danke ich auch Herrn Prof. Dr. Andreas Urs Sommer (Freiburg) für seinen Beistand, der Leitung des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar für die erteilte Druckerlaubnis (von GSA 100/363, 396, 726, 835, 836) und meiner Lektorin, Frau Franziska Remeika M.A., Senior Editor im Verlag Metzler, für Ihre Unterstützung und die Aufnahme dieser Korrespondenz in das Verlagsprogramm. Ende September 2019 der Herausgeber Martin Pernet Einleitung Es soll im Folgenden in gebotener Kürze die politische, insbesondere kirchenpolitische Situation in Preußen während der Jahre 1830–1850 dargestellt werden, wie sie sich zur Zeit der beiden Briefschreiber ereignet hat.1 Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die preußische Provinz Sachsen gelegt, wo die beiden Freunde beheimatet gewesen sind. Im Weiteren wird eine theologiegeschichtliche Darstellung der sogenannten Er- weckungsbewegung gegeben sowie eine Schilderung der beiden korrespondierenden Persönlichkeiten. I. Preußens Kirchenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. (1770–1840) im Jahre 1797 begann eine neue Ära der Reformpolitik. Manches wurde in die Hand genommen. Genannt sei in diesem Zusammenhang die Bildungsreform, die zur Gründung der Berliner Univer- sität führte, was eine neue Epoche der deutschen Bildungsgeschichte einleitete. Mit einigen der berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit, mit Schleiermacher, Savigny, Friedrich August Wolf, Fichte, eröffnete sie im Winterhalbjahr 1810/1811 ihren Lehrbetrieb. Weitere dringende Reformaufgaben wären u. a. eine Anpassung der zentralen Be- hördenorganisation und der königlichen Regierungsweise gewesen. Doch da in den Kommissionen vor allem Staatsbeamte der älteren Schule saßen, die sich zu tiefgrei- fenden Reformen nicht durchringen konnten und eine notorische Unentschlossenheit des Königs hinzukam, blieben viele Neuerungen im Ansatz stecken oder wurden gar auf Eis gelegt. Und so blieben letztlich für die preußische Politik Selbständigkeit und Unabhängigkeit leere Begriffe, Preußen war weiterhin ein absolutistischer, patriarcha- lischer Obrigkeitsstaat, der die Zeichen der Zeit weder erkennen konnte noch wollte. Hatte die Revolution den Franzosen neuen Schwung verliehen und schlafende Kräfte 1 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch: Martin Pernet: Eine Quelle für Nietzsches christliche Her- kunft. Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 11 (2004), S. 279–296. Einleitung IX geweckt, so wurde in Preußen durch das Festhalten am Alten und durch die strenge Verfolgung neuer, revolutionärer Ansätze ein Umsturz nicht aufgehalten, sondern geradezu gefördert. Wenngleich Friedrich Wilhelm III. ein bewusster evangelischer Christ mit Sinn für die Kirche und ihre Aufgaben war, so dachte er gleichwohl nicht daran, in Preußen, innerhalb des Deutschen Bundes die führende protestantische Macht, etwas von dem abzugeben, was das absolutistische Zeitalter dem Landesherrn an kirchenhoheitli- chen Rechten verschafft hatte. 1817 rief er das Kultusministerium ins Leben, dessen Aufgabe es war, die allgemeine Aufsicht über die Kirchen resp. deren Amtsträger auszuüben. Im Weiteren unterstanden diesem Ministerium die Besetzung der Pfarr- ämter sowie die Disziplinargewalt. Einen Teil dieser Aufgaben übernahm ab 1828 der in jeder Provinz des Landes vom König eingesetzte Generalsuperintendent, dem bischofsgleiche Macht und Autorität zufiel. Die Generalsuperintendenten hatten Sitz und Stimme in den Regierungsabteilungen und standen damit kirchlichen Stellen in unabhängiger Position gegenüber. Sie waren der eigentliche Mittelpunkt einer Kir- chenprovinz, hatten die Pfarrer zu ordinieren, neue Kirchen einzurichten und unter- nahmen Visitationsreisen zur Beaufsichtigung der Pfarrer. So erfuhr das alte, aus der Aufklärung stammende Staatskirchentum eine Fortsetzung, verblieb doch die Verant- wortung für die Kirche beim König persönlich und bei den staatskirchlichen Auto- ritäten. Der König vertrat als oberster Bischof die Kirche, dabei unterstützt von den Generalsuperintendenten und ihren Untergebenen, den Superintendenten. Kirchenpolitisch verfolgte dieser König noch weitere Pläne. Verheiratet mit Luise Herzogin von Mecklenburg-Strelitz (1776–1810), die dem lutherischen Bekenntnis verpflichtet war, habe es ihn, den König, wie er sagte, immer geschmerzt, dass er als Reformierter nicht mit seiner lutherischen Gemahlin zusammen zum Tisch des Herrn habe gehen können. Deshalb rief er im Vorfeld des dreihundertjährigen Reformations- jubiläums am 31. Oktober 1817 zur gemeinschaftlichen Feier des Abendmahls durch Reformierte und Lutheraner auf. Die Vorarbeiten für diese sog. Union leistete der Hof- bischof Rulemann Friedrich Eylert (1770–1852), seit 1806 Hofprediger in Potsdam, 1818 vom König zum evangelischen Bischof und Mitglied des Staatsrats und des Kul- tusministeriums ernannt. Eylerts geschmeidige und anpassungsfähige Natur, die keine eigenen Konturen aufwies und die Entscheidung lieber im Kompromiss suchte, machte ihn zum Hofprälaten geeignet. Der königliche „Aufruf zur freiwilligen Union, eine Bekenntnisvereinigung ohne Bekenntniszwang“2, fand schon bald große Zustimmung und auch außerhalb Preußens rege Nachahmung. Der Beitritt zur Union war freiwillig, wurde aber staatlich gefördert. Einzig in der preußischen Provinz Sachsen, vornehm- lich im Regierungsbezirk Merseburg, stellte sich innerhalb der kirchlichen Provinzial- synoden eine eher distanzierte Haltung zur Union ein. Unter dem einflussreichen Kanzelredner Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), Oberhofprediger in Dresden, hatte sich eine Wiederentdeckung Luthers angebahnt und in diesem Zusammenhang 2 Zit. nach Hans Seehase: Agende und Union. Der Weg des Preußischen Provinzialverbandes Sach- sen in Fragen der Kirchenverfassung und Kirchenordnung zwischen 1817 und 1869, in: Die Anfänge der preussischen Provinz Sachsen und ihrer Kirchenorganisation (1816–1850), S. 77. X Einleitung auch eine Stärkung der lutherischen Kirche vollzogen. Die Folge war, dass ihr, Jahre später, ein Verbleib in der evangelischen Unionskirche auf Grund der Betonung und des Alleinstellungsmerkmals der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften nicht mehr möglich erschien und sie sich daher der 1830 gebildeten Evangelisch-lutheri- schen (altlutherischen) Kirche anschloss. Der König war den Lutheranern insgesamt mit der Deutung der Union so weit wie nur denkbar entgegengekommen in der Ab- sicht, möglichst viele Glieder unter den Altlutheranern wieder in die Kirche der Union zurückführen zu können. Die Konstituierung einer selbstständigen Kirche neben der Union hingegen wurde ausdrücklich untersagt und mit dem Erlass einer Kabinetts- order auch sanktioniert, altlutherische Pfarrer wurden inhaftiert und, wenn sie ge- flohen waren, steckbrieflich gesucht. Die Folge war, dass in den Jahren 1837 und 1838 über 2000 Lutheraner Preußen verließen und teilweise nach Amerika auswanderten. Des Öftern erwähnen unsere Briefpartner in diesem Zusammenhang den in Halle lehrenden Theologieprofessor Ferdinand Guericke (1803–1878), der 1833 seinen Aus- tritt aus der unierten Kirche erklärte, worauf er von der staatlich-kirchlichen Behörde seines Professorenamtes enthoben wurde. Guericke ließ sich daraufhin zum Pfarrer der altlutherischen Gemeinde ordinieren und gründete in Halle und später auch in Naumburg weitere Gemeinden, deren Pfarrer er selber war. Der damalige Leiter des Kultusministeriums Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) belegte ihn daraufhin mit einer hohen Geldstrafe und drohte ihn unter Arrest zu stellen, was bei Guericke Wirkung zeigte. Er bat um Wiederanstellung als Professor und löste sich von der altlutherischen Gemeinde. Die Zeit der Verfolgungen endete für die Altluthe- raner erst mit dem Tod des Kultusministers vom Altenstein 1840 und des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. im gleichen Jahr. Sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. brach mit der restaurativen Politik seines Vaters und anerkannte in Folge die Altlutheraner als eigenständige Kirche. Friedrich Wilhelms III. ausgesprochener Sinn für eine feierliche Form des Gottes- dienstes hatte ihn immer wieder bewogen, über den kirchlichen Kult und die Li- turgie nachzudenken und angesichts deren Verflachung unter den Einwirkungen der Aufklärung eine neue, einheitliche Kirchenordnung zu schaffen. Eingehende eigene Studien alter Kirchenordnungen hatten den Monarchen in der Absicht bestärkt, in ganz Preußen eine einheitliche Gottesdienstordnung in Anwendung bringen zu lassen, um so den Gottesdienst neu zu beleben und auch die Union zu befördern. Damit rief er freilich schon bald heftigen Widerstand hervor, wurde dem König doch u. a. das Recht, das ius liturgicum positivum wahrzunehmen, bestritten. Nur wenige preußische Pfarrer waren anfänglich bereit, dieser neuen Kirchenordnung Folge zu leisten. Was den Monarchen bewog, die Einführung der Agende nicht per Kirchengesetz zu erzwingen, vielmehr gewisse Freiheiten in der Anwendung zu- zulassen, womit sich der Streit entschärfen und der Widerspruch mildern liessen. Entschiedener Widerstand kam auch hier von den Altlutheranern. Sie opponierten heftig gegen diese staatliche Einmischung in kirchliche Angelegenheiten. Was für viele Lutheraner ein weiterer Grund war, der Union nicht beizutreten, was letztlich ein Erstarken des lutherischen Konfessionalismus zur Folge hatte. Vergeblich bat man um Erhalt des lutherischen Gottesdienstes nach überliefertem Ritus und wies dabei auf die Unantastbarkeit und Eigenständigkeit der lutherischen Kirche in Lehre

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