Texte zum Nachdenken Buchstaben des Lebens Nach jüdischer Überlieferung Erzählt von Friedrich Weinreb »Texte zum Nachdenken« In den Büchern der Menschheit ist eine Fülle von Texten zu linden, die das Bewußtsein weiten und verändern, die Seele wandeln. Vorausgesetzt, man liest diese Texte wieder und wieder, läßt sie immer tiefer eindringen in Geist und Herz. Hier trennt nicht die Fremde der Zeit oder die Ferne der Kontinente, denn in tieferen Schichten der Seele sind alle Menschen einander verwandt. Gertrude und Thomas Sartory geben in einer neuen Reihe der Herderbücherei solche »Texte zum Nachdenken« heraus: Worte von Dichtern und Denkern, Heiligen und Weisen. In jedem Band (sechs pro Jahr sind geplant) kommt eine andere Gestalt oder Tradition zu Wort, jeweils unter einer Fragestellung, die uns heute bewegt. Schon die schöne Gestaltung jedes Bandes lädt zum verweilenden Lesen ein. Professor Friedrich Weinreb, geboren 1910 in Lemberg. Nach dem Studium der Nationalökonomie und Statistik in Rotterdam und Wien von 1932 bis 1942 anfangs als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Niederländischen ökonomischen Institut, später als Forschungs- leiter und Dozent in Rotterdam tätig; Lehrtätigkeit in Jakarta, Kal- kutta und Ankara, wo er u. a. als Dekan und Rektor der Universität amtierte. Experte am Internationalen Arbeitsamt und bei den Ver- einten Nationen in Genf. Bis 1961 zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der mathematischen Statistik und der Konjunkturforschung. Die schon in frühen Studienjahren einsetzende Beschäftigung mit den Quellen des jüdischen Wissens, wozu aufgrund der Chassidischen Herkunft starke persönliche Beziehungen bestanden, führten seit 1963 zu Vorlesungen und Publikationen (ca. 25 Bücher in holländi- scher und deutscher Sprache) auf diesem Gebiet. Seit 1973 lebt Friedrich Weinreb in Zürich und lehrt an der dortigen »Schweizer Akademie für Grundlagenstudien und Quellenforschung«. Die Herausgeber Gertrude Sartory, 1923 in Hamm geboren. Promotion in Kanoni- schem Recht. Freiberufliche Publizistin. Thomas Sartory, 1925 in Aachen geboren, Dr. theol. habil. Freier Schriftsteller und Mitarbeiter an verschiedenen Funkanstalten. BUCHSTABEN DES LEBENS Nach jüdischer Überlieferung Erzählt von Friedrich Weinreb Herderbücherei Originalausgabe erstmals veröffentlicht als Herder-Taschenbuch Buchumschlag: Willy Kretzer Die Buchstaben zeichnete: Margrit Haubensak-Tellenbach Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1979 Herder Freiburg · Basel · Wien Gesetzt in der Times-Antiqua (Monophoto) Gesamtherstellung: Offizin Herder in Freiburg im Breisgau 1979 ISBN 3-451-07699-3 INHALT Zu diesem Buch - Geleitwort der Herausgeber 9 Vorwort 15 I. WELT DER STILLE - Das ungeborene Wort und die Geburt des Wortes - 21 Aleph - Haupt - die Eins . . 34 II. JENSEITS IM URSPRUNG - Die Zeichen: Reihe der Einer - 43 Beth - Haus - die Zwei . . 47 Gimel - Kamel - die Drei. . 55 Daleth - Tür - die Vier 63 He - Fenster - die Fünf . . 69 Waw - Haken - die Sechs. . 73 Sajin - Waffe - die Sieben. . 76 III. ANZEICHEN EINER NEUEN GEBURT 83 Chet - Zaun - die Acht.................................... 84 Teth - Doppeltes (Gebärmutter mit Embryo) - die Neun .... 88 IV. WELT UNSERES TUNS - Die Zeichen: Reihe der Zehner - 91 Jod - Hand - die Zehn .................... 92 Kaf - Hand - die Zwanzig . . . . 100 Lamed - Ochsenstachel - die Dreißig 103 Mem - Wasser - die Vierzig . . 105 Nun - Fisch - die Fünfzig .................... 111 Samech - Wasserschlange - die Sechzig . . 114 Ajin - Auge - die Siebzig . . 118 Pe - Mund - die Achtzig . . 123 Zade - Angel - die Neunzig 129 V. DAS JENSEITS DER ZUKUNFT - Die Zeichen: Reihe der Hunderter - 135 Kof - Nadelöhr; Affe - die Hundert 136 Resch - Haupt - die Zweihundert . . 140 Schin - Zahn - die Dreihundert . . . . 142 Taw - Zeichen - die Vierhundert 149 6 Das Hebräische Alphabet und seine Bilder ZU DIESEM BUCH In der Reihe »Texte zum Nachdenken« ist dies das erste Buch, das eigens für diese Reihe geschrieben worden ist. Doch darin erschöpft sich seine Originalität nicht. Es führt uns in Neuland, wo auf eine uns ungewohnte Weise gedacht, argumentiert und darum auch formuliert wird. Hin und wieder mag man denken: das ist wohl die Ausdrucksweise eines Autors, für den Deutsch nicht die Muttersprache ist, eines »Hebräers« zudem, der keine Variation der Ausdrücke anstrebt, dem vielmehr die Wiederver- Wendung derselben Worte bewußtes Stilmittel ist. Auch die oft schwebende Ausdrucksweise, wo der Leser sich nicht selten mehr Konkretheit und Präzision wünschen mag, entstammt nicht sprachlicher Ungeschicklichkeit. Größere Genauigkeit würde Eingrenzung bedeuten, während das, was in diesem Buch immer wieder neu umschrieben und umkreist wird, gerade eben nicht ein-deutig, sondern höchst viel-deutig ist, alles mit allem zusammenhängt, alles immer wiederkehrt, wenn auch auf einer jeweils anderen Ebene. Diese verschiedenen Ebenen er-klären sich gegenseitig, erst vom Gesamtzusammenhang her läßt sich das Einzelne tiefer verstehen. Darum muß der Leser zunächst einmal vieles einfach hinnehmen, wie es ihm dargereicht wird - in dem ahnenden Vertrauen, daß ihm schon noch ein Licht aufgehen wird zu dem, was im Augenblick noch dunkel ist. Und dieses Vertrauen wird niemandem schwerfallen, der ein Gespür für geistige Atmosphäre, für spirituelles Fluidum hat. Denn daß in diesen »Gesprächen der Weisen« nicht Willkür und Erfindung waltet, sondern Weisheit, die die Seele hell und heiter macht, auch wenn der Verstand noch nicht »versteht« - das wird der Leser schon bald herausfühlen. 9 Es wäre ein Mißverständnis, aus dem bisher Gesagten zu folgern, dieses Buch sei »schwer verständlich«. Man muß nur den Mut haben, sich auf seinen Denkstil einzulassen. So kommt man in ein weites Land, ein Land ohne Grenzen, an dessen Horizont man Himmel und Erde sich berühren sieht. Aber um dorthin zu gelangen, muß man einen Abgrund überwinden. Das ist nicht schwer - eine Brücke existiert, so man nur den Mut hat, sich an die Hand nehmen und hinübergeleiten zu lassen, ohne Denkschritt für Denkschritt die Richtigkeit des Weges neu zu überprüfen. Das hat nichts mit unkritischem Geist zu tun; es geht darum, nicht durch voreilige Kritik von der Brücke herunterzufallen. Der uns gewohnte Denkstil würde uns in jenem Neuland wenig nutzen, würde uns nicht helfen, uns dort zu orientieren und zurechtzufinden. Wir sind an einlinig-kausales, an lineares Denken gewöhnt. Haben wir einmal den richtigen Ansatz gefunden, läßt sich ein Gedankenfaden abspulen, bei dem sich eins aus dem andern ergibt. Der betreffende Sachverhalt läßt sich in seinem folgerich- tigen Zusammenhang eben kausal-logisch (und nur kausal- logisch) erfassen. Präzise Schlußfolgerung führt zum Ziel: das gibt der Wissenschaft die in ihrem Zuständigkeitsbereich not- wendige Exaktheit. Auf Kosten freilich eines umfassenden tieferen Verstehens - denn dazu gehört die Einsicht in den Sinn der Dinge und Vorgänge, Einsicht in Ursprung und Ziel, Einsicht in den Zusammenhang des Ganzen. Man hat eben die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling noch nicht »verstanden«, nur weil es gelungen ist, das Hormon präzise zu bestimmen, das der Vermittler einer solchen Verwandlung ist. Was in diesem Buch erzählt wird, läßt sich nicht linear nacheinanderreihen; hier haben wir es nicht bloß mit einem Faden zu tun, sondern mit einem höchst kunstvollen Gewebe von Fäden, die, auf immer wieder neue Weise miteinander verknüpft, je neue wunderbare Konfigurationen bilden. Es nutzt nichts, ein solches Muster »analysieren« zu wollen, die Fäden, die es bilden, herauszuziehen und - je nach Länge, Dicke und Farbe sortiert - nebeneinanderzulegen. Wie könnte man auf 10