Geschichte der griechischen Sprache I Bis zum Ausgang der klassischen Zeit von Prof. Dt. O. Hoffmann und Prof. D. Dr. A. Debrunner Vierte Auflage, bearbeitet von Dr. Anton Scherer o. Professor an der Universität Heidelberg Sammlung Gösdien Band 111/111 a Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969 vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer · Karl J. Trübner - Veit & Comp. © Copyright 1969 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit ic Comp., Berlin 30. — Alle Redite, einsdil. der Redite der Herstellung yon Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbe- halten. — Ardiiv-Nr.: 7990691. — Satz: Walter Pieper, Würzburg. — Drude: E. Rieder, Stilrobenhausen. — Printed in Germany. Inhalt I. Grundlagen (§ 1—25) 6 1. Die indogermanische Herkunft des Griechischen CS 1-4) 6 2. Die indogermanischen Nachbarsprachen (§ 5—12) 9 3. Vorgriediisdie Sprachen (§ 13—25) 15 II. Mykenisch (§ 26—30) 25 III. Die Dialekte (§ 31—68) 29 1. Die Gliederung der griecKisdìtìfl Dialekte (S 31—40) 29 2. Ionisdi-Attisdi (§ 41—51) 34 3. Arkadokyprisdi (§ 52—53) 42 4. Aiolisch (§ 54—59) 43 5. Westgriechisch (§ 60—67) 46 6. Pamphylisdi (§68) 51 IV. Umgangsspradie und Urkundensprache (§ 69—83) . . 53 1. Die Inschriften (§ 69—71) 53 2. Die Volkssprache (§ 72—80) 54 3. Die Staats- und Gemeinsprache (§ 81—83) . .. 58 V. Literatursprachen (§ 84—238) 60 1. Literaturgattung und Dialekt (§ 84—88) . . .. 60 2. Die Überlieferung der Literatursprachen (§ 89—95) 62 3. Homer (§ 96—105) 65 4. Hesiod (§ 106) 70 5. Die Elegie (§ 107—116) 71 6. Das Epigramm (§ 117—122) 77 7. Der Jambus und Trodiäus (§ 123—128) . . .. 81 8. Das Melos (§ 129—140) 84 9. Das Chorlied (§ 141—161) 90 10. Die attische Tragödie (§ 162—182) 102 11. Die alte Komödie (§ 183—205) 114 12. Die Prosa (§ 206—238) 126 Register 144 I. Namen- und Sadiregister 144 II. Grammatisches Register 145 III. Bemerkenswerte Wörter 147 Zur Einführung in die griechische Sprachgeschichte dienen P. Kretschmer, Sprache (Einleitung in die Altertumswis- senschaft von A. Gercke und Ed. Norden. I 6, 3. Aufl., Leipzig- Berlin 1923) 66—102. Α. M e i 11 e t, Aperçu d'une histoire de la langue grecque, 5. éd. Paris 1938 (Neudruck 1948). Deutsche Übersetzung von H. Meitzer: Geschichte des Griechischen, Heidelberg 1920. V. Ρ i s a η i, Storia della lingua greca, Turin 1959. Ed. Schwyzer, Griechische Grammatik, I (2.Α., München 1953), 45—137. Α. Thumb, Handbuch der griechischen Dialekte, 2. Aufl., 1. Teil von E. Kieckers, fleidelberg 1932; 2. Teil von A. S c h e r e r, ebd. 1959. J. Wackernagel, Die griechische Sprache (Die Kultur der Gegeftwart von P. Hinneberg, I 8, 3. Aufl., Leipzig-Berlin 1912, S. 371—397). Abkürzungen und Zitate Α, Β, Γ usw. = Bücher der Ilias; α, β, y usw. = Bücher der Odyssee; Fr. = Fragment; IG - Inscriptiones Graecae. Β e c h t e 1, Dial. = Fr. Bechtel, Die griechischen Dia- lekte, 3 Bände, Berün 1921—1924. Hoffmann, Dial. — O.Hoffmann, Die griechischen Dialekte, 3 Bände, Göttingen 1891—1898. Schwyzer, Dial. = Ed. Schwyzer, Dialectorum Grae- carum exempla epigraphica potiora, Leipzig 1923. Die Nummern der Fragmente beziehen sich, sofern nicht etwas anderes angegeben ist, auf folgende Ausgaben. Hesiod: Rzach (1912, Neudrude 1958); Elegie u. Jambus: Diehl, Anthologie lyrica, ed. tertia (1949/52); Alkaios u. Sappho: Lobel-Page, Poe- tarum Lesbiorum fragmenta (1955, Nachdruck 1963); Alkman, Anakreon, Korinna usw.: Page, Poetae melici Graeci (1962); Bakchylides: Snell (1961); Pindar: Snell (1959/64); Tragiker: Nauck, Tragicorum Graecorum fragmenta, 2. Aufl. (1889), bzw. Pearson, The Fragments of Sophokles (1917). I. Grundlagen 1. Die indogermanische Herkunft des Griechischen 1. Die griechische Sprache ist ein Glied der indogermanischen Sprachfamilie. Sie geht in ihrem Ursprung zurüdc auf deren ge- meinsame Vorstufe, das „Urindogermanische". Was sie an Wör- tern und Flexionsformen besitzt, ist zum weitaus größten Teil Erbgut aus einer Zeit, die ihrem Sonderdasein vorausliegt. Jene Grundsprache kann mit Hilfe der aus ihr hervorgegangenen histo- rischen Einzelsprachen in ihren Lauten und Formen bis zu einem gewissen Grade rekonstruiert werden. Trotzdem muß man schon für die Epoche vor ihrem Zerfall mit erheblichen dialektischen Verschiedenheiten rechnen, die wohl besonders die Verbal- und Proffominalflexion sowie den Wortschatz betrafen. Eine kurzgefaßte Einführung in die Tatsachen der vergleichen- den Laut- und Formenlehre bietet Η. Κ r a h e, Indogermanische Sprachwissenschaft, 2 Bände, 3. Α. 1958/59 (Sammlung Göschen Bd. 59 u. 64). Uber die neueren Arbeiten, die die Problematik der Erschließung einer indogermanischen Grundsprache und die Frage nach den Wohnsitzen der Indogermanen betreffen, orien- tieren die Forschungsberichte von A. Scherer in Kratylos 1 (1956) und 10 (1965). Zur Geschichte der Urheimatfrage s. auch den Sammelband „Die Heimat der Indogermanen", hsg. von A. S c h e r e r , Darmstadt 1968. 2. Die charakteristischen Züge, welche dem Griechischen gegen- über dem Indoiranischen, Italischen, Keltischen, Germanischen, Baltoslavischen und anderen verwandten Sprachzweigen seine Eigenart verleihen, sind offenbar erst nach der Loslösung aus der ursprünglichen Völkergemeinschaft entstanden, wohl infolge ge- genseitiger sprachlidher Beeinflussung zwischen Einzelstämmen, aus denen schließlich die historischen griechischen Stammes- und Die indogermanische Herkunft des Griechischen 7 Dialektgruppen hervorgingen. Es ist durchaus möglich, daß diese Angleichung erst auf griechischem Boden stattgefunden hat. Jedenfalls kann nicht die Rede davon sein, daß eine Vorstufe des Griechischen als „Dialekt" innerhalb des Urindogermanischen bestanden habe. Vielmehr sind verwickelte Vorgänge der Um- gruppierung von Stämmen schon seit ältesten Zeiten anzunehmen. Auch die Vorstellung von einem einheitlichen „Urgriechisch", aus dem sich dann die einzelnen griechischen Dialekte ausgeson- dert hätten, ist fraglich geworden. Zwar ergibt sich bei einer chronologischen Betrachtung, daß von den späteren Dialektunter- schieden gerade die auffälligsten meist aus relativ junger Zeit stammen, so daß für die älteste Periode nicht mehr allzuviele nachweisbare Divergenzen übrig bleiben (so ζ. Β. -μεν : -μες in der 1. P. Pl.; τότε : τότα : τόκα; ε'ι : αϊ; αν : κε), und noch um 1200 ν. Chr. würden sich darnach die späteren großen Dialekt- gruppen nur wenig voneinander abheben. Man muß aber wohl annehmen, daß die feststellbaren alten Differenzen nur der Rest sind, der nach einer Zeit fortschreitender Ausgleichung von ur- sprünglich größerer Verschiedenheit noch übrigblieb. Zwischen dem Vorgang der Ausgleichung durch Beseitigung von Unter- schieden und dem einer neuen Differenzierung durch sprachliche Neuerungen, die nur einen Teil des gesamten Sprachgebiets er- faßten, kann es eine Periode relativer Einheitlichkeit gegeben haben; besonders wahrscheinlich ist das aber nicht. Die erwähnte „Abstrichmethode" führt natürlich nur auf das, was wenigstens in einem größeren Dialektraum erhalten geblieben ist, nicht auf das, was ganz beseitigt oder so zurückgedrängt wurde, daß es dann als Einzelzug eines Lokaldialektes erscheint. Die Charakteristika des Griechischen siehe bei Thumb- Kieckers 2ff.; W. Brandenstein, Griech. Sprachwis- senschaft I, 1954, 10—12 (Sammlung Gôschçn, Bd. 117); J. Chadwick, The Prehistory of the Greek Language (The Cambridge Ancient History II 39), Cambridge 1964. Die indogermanischen Einzelvölker sind, wie Bosch-Gim- pe r a betont (Les Indo-Européens, Paris 1961, 97 ff.), das Re- 8 Grundlagen sultat sehr verwickelter Vorgänge; sie sind Konglomerate aus ursprünglich getrennten Elementen von manchmal sehr verschie- denartiger Herkunft. Das bedeutet aber nicht, daß auch ihre Sprachen eine Mischung von heterogenen Bestandteilen enthalten müssen, denn vielfach wird sich das Idiom einer überlegenen Gruppe innerhalb der Zusammenballung von Stämmen durchge- setzt haben, wobei von der Sprache der anderen nur verhältnis- mäßig geringe Reste übrig blieben (vgl. A. Scherer, Kratylos 10, 1965, 14f.). — Zur Frage des „Urgriechischen" vgl. V. Pi- sani, Rhein. Mus. 98 (1955), 10—14 und Storia 20—28; F. R. A d r a d o s , La toponimia y el problema de las „Ur- sprachen", Vllth Intern. Congr. of Topon. and Anthropon., Salamanca 1955, I 93 ff. — Zur relativ späten Entstehung der meisten Dialektunterschiede: E. R i s c h , Mus. Helv. 12 (1955), 61 fi. und in: Le Protolingue, Atti del IV Convegno Intern, di Linguisti 1963 (1965), 91 fi. — Äußerungen verschiedener For- scher zu den hier besprochenen Problemen s. in: Studia Mycenaea, hrsg. von Α. Β a r t ο η ë k , Brünn 1968, S. 159 ff. 3. In vielen Einzelzügen stimmt das Griechische jeweils nur mit einem Teil der verwandten Sprachen zusammen und steht in einem Gegensatz zu anderen. Die Übereinstimmungen deuten auf alte Nachbarschaft und man kann versuchen mit ihrer Hilfe zu bestimmen, aus welchen Teilen des ursprünglichen indoger- manischen Sprachgebiets jene Dialekte herkamen, die dann zum Griechischen verschmolzen. Zur Beantwortung dieser Frage trägt es ziemlich wenig bei, daß das Griechische zusammen mit dem Italischen, Keltischen und Germanischen sowie mit dem Hethiti- sehen und Tocharischen der Gruppe der „Kentumsprachen" ange- hört, die hinsichtlich der Behandlung der alten ¿-Laute zu den „Satemsprachen" in Gegensatz stehen (Indoiranisch, Armenisch, Albanisch, Baltoslavisch). Die entscheidenden Neuerungen, auf die es für die Feststellung einer näheren Verwandtschaft an- kommt, liegen hier auf Seiten der Satemsprachen. Dagegen hat die weitergehende Bewahrung des Alten in den Kentumsprachen keine Beweiskraft für eine engere Zusammengehörigkeit zwischen diesen, zumal eine etwaige alte Dialektgrenze gegenüber den Satemsprachen nicht nur bei den ¿-Lauten, sondern auch sonst in Die indogermanischen Nachbarsprachen 9 der Lautentwicklung, in den Formen und im Wortschatz deut- liche Spuren hinterlassen haben müßte. Andererseits gibt es eine beträchtliche Zahl von Neuerungen, die entweder nur in den westlichen Sprachen (Italisch, Keltisch, Germanisch, Illyrisch) oder nur in den östlichen auftreten, und zwar hier ohne Rücksicht auf die Kentum-Satem-Sdieide. Das Griechische gehört zu der östlichen Gruppe, zusammen mit Indo- iranisch, Armenisch, Phrygisch, Albanisch, Baltoslavisdi, mög- licherweise auch Hethitisdi und Tocharisch. Vgl. W. Ρ o r ζ i g, Die Gliederung des indogerm. Sprachge- biets, Heidelberg 1954; Schwyzer, Gramm. 1, 53—58. 4. Demgegenüber können die wenigen speziellen Übereinstim- mungen des Griechischen mit dem Oskisch-Umbrischen und dem Lateinischen nicht ins Gewicht fallen. Sie deuten nicht, wie man früher glaubte, auf besonders enge vorgeschichtliche Beziehungen, sondern beruhen meist auf unabhängiger Parallelentwicklung. So erhielt der Gen. PI. der ¿-Stämme nach dem Vorbild der Pro- nominalform *täsöm (hom. ταων, lat. (is)tärum) den Ausgang -αων, -ων, osk. -äzum, lat. -ärum, und die 3. P. PI. des Impera- tivs nach dem Indikativ auf -onti (dor. -οντι, lat. -uní) den Aus- gang -όντω(ν), lat. -untö. Über die Gründe gegen die „gräko-italische" Hypothese s. ζ. B. Schwyzer, Gramm. 1, 57f. 2. Die indogermanischen Nachbarsprachen 5. Bevor die griechischen Stämme in ihre späteren Sitze ein- wanderten, standen sie, weiter im Norden der Balkanhalbinsel, wohl längere Zeit in Berührung mit einem Teil der Völker indo- germanischer Sprache, die dann in historischer Zeit im Norden und Osten ihre Nadibarn waren. Vielleicht wurden manche sprachlichen Veränderungen, die einzelnen griechischen Dialekten mit diesen Nachbarsprachen gemeinsam sind, schon damals voll- zogen. Aber auch nach der Besetzung Griechenlands und der