Alexander Lahner Bildung und Aufklärung nach PISA Alexander Lahner Bildung und Aufklärung nach PISA Theorie und Praxis außerschulischer politischer Jugendbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Zugl. Dissertation an der Fakultät Erziehungswissenschaft und Soziologie der Technischen Universi- tät Dortmund, 2010, u.d.T.: Lahner, Alexander: Bildung und Aufklärung in der außerschulischen poli- tischen Jugendbildung nach PISA 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältig ungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn e der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18041-0 Inhalt 5 Inhalt Inhalt Einleitung ......................................................................................................................... 9 A Bildung und Aufklärung in philosophischer Tradition ............................................ 21 1. Der Anspruch der Aufklärung .................................................................................................... 21 1.1 Französische Philosophen und Wissenschaftler ............................................................... 21 1.2 Immanuel Kant ...................................................................................................................... 24 1.3 Der Anspruch der Aufklärung ............................................................................................. 27 2. Bildung als Individualität: Wilhelm von Humboldt .................................................................. 29 2.1 Anthropologie ........................................................................................................................ 29 2.1.1 Die Bestimmung des Menschen ................................................................................ 29 2.1.2 Die sittliche Uridee und Grundkraft ......................................................................... 32 2.2 Bildung als Entwicklung der Kräfte und Selbstverwirklichung ....................................... 34 2.3 Bedingungen für Bildung ...................................................................................................... 36 2.3.1 Freiheit, Mannigfaltigkeit und die Welt der Kunst ................................................. 36 2.3.2 Die „Wirksamkeit“ des Staates: Humboldts Ideal des Staates .............................. 38 2.3.3 Der bildende Charakter: Humboldts Ideal des Menschen .................................... 42 2.4 Die Realisierung von Bildung: Das Verhältnis des Menschen zur Welt ........................ 44 2.5 Öffentliche Bildung ............................................................................................................... 47 2.5.1 Bildungstheorie und die Gestaltung des Bildungswesens ...................................... 47 2.5.2 Die Organisation des Bildungswesens ...................................................................... 48 2.5.3 Bildung für alle? ........................................................................................................... 52 2.6 Bildung und Aufklärung bei Humboldt ............................................................................. 53 3. Bildung als Objektivität: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ....................................................... 55 3.1 Hegels Philosophie ................................................................................................................ 55 3.1.1 Philosophie als wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit ................................. 55 3.1.2 Wissenschaftliche Erkenntnis als Beweis der Vernünftigkeit der Wirklichkeit ... 58 3.1.3 Philosophie als System ................................................................................................ 60 3.1.4 Der objektive Geist: Hegels Apologie ...................................................................... 63 3.1.5 Der absolute Geist: Hegels Metaphysik ................................................................... 65 3.2 Hegels Bildungsbegriff .......................................................................................................... 67 3.2.1 Bildung allgemein: Philosophie als spekulative Bildung des Geistes .................... 68 3.2.2 Anthropologie und Bildung ....................................................................................... 70 3.2.3 Bildung durch Erziehung in Familie und Schule .................................................... 71 3.2.4 Erziehung (und Bildung) und Staat ........................................................................... 76 3.2.5 Bildung in bürgerlicher Gesellschaft und Staat ....................................................... 78 3.2.6 Bildung als reflektierte Anpassung ............................................................................ 84 6 Inhalt 3.2.7 Bildung als immanentes Moment des Absoluten .................................................... 85 3.3 Bildung und Aufklärung bei Hegel ....................................................................................... 87 4. Bildung als Kritik: Theodor W. Adorno ..................................................................................... 88 4.1 Das Wiederbeleben der klassischen Ideen von Bildung und Aufklärung ...................... 88 4.2 Bürgerliche Gesellschaft und der Verfall der Bildung ....................................................... 90 4.3 Die Dialektik der Aufklärung ................................................................................................ 91 4.4 Das „notwendige“ Scheitern der klassischen Bildungsidee .............................................. 95 4.5 Halbbildung als Resultat des Scheiterns .............................................................................. 98 4.5.1 Die objektive Seite der Halbbildung .......................................................................... 98 4.5.1.1 Der kapitalistische Produktionsprozess ....................................................... 98 4.5.1.2 Kunst und Kultur ............................................................................................. 99 4.5.1.3 Kulturindustrie ............................................................................................... 101 4.5.1.4 Das öffentliche Bildungswesen .................................................................... 104 4.5.2 Die subjektive Seite der Halbbildung ...................................................................... 104 4.6 Das Überwinden der Halbbildung ...................................................................................... 107 4.6.1 Bildung als Selbst- und Gesellschaftskritik ............................................................. 107 4.6.2 Wissenschaft als Streben nach objektiver Erkenntnis ........................................... 109 4.7 Bildung und Aufklärung bei Adorno ................................................................................. 112 B Der politische Bildungsdiskurs .............................................................................. 117 1. Voraussetzungen des Diskurses .................................................................................................. 118 2. Das politische Bildungsverständnis ............................................................................................ 124 2.1 Bildung als Ressource für den Standort Deutschland ..................................................... 125 2.2 Bildung als Aneignung von Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen .................... 129 2.2.1 Lebenslanges Lernen .................................................................................................. 132 2.2.2 Anpassungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz ......................................... 134 2.2.3 Wissen und Werte ....................................................................................................... 135 2.3 „Lebensbewältigungskompetenz“ als nationale Ressource ............................................ 137 3. Der politische Auftrag an das Bildungswesen .......................................................................... 138 3.1 Das formelle Bildungswesen ............................................................................................... 139 3.1.1 Die Schule oder: Der „PISA-Schock“ ..................................................................... 139 3.1.2 Die Hochschule ........................................................................................................... 146 3.1.3 Exkurs: „Bildungskatastrophe“ heute und vor knapp 50 Jahren ........................ 149 3.2 Das außerschulische Bildungswesen .................................................................................. 152 3.2.1 Das Erfordernis eines umfassenden Bildungsverständnisses .............................. 152 3.2.2 Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe ................................................................... 154 3.2.3 Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe ............................................... 161 4. Der politische Bildungsdiskurs und das klassische Verständnis von Bildung und Aufklärung ..................................................................................................................................... 164 Inhalt 7 C Die Bildungsdiskurse in Jugendarbeit und außerschulischer politischer Jugendbildung ........................................................................................................ 171 1. Voraussetzungen der Diskurse ................................................................................................... 172 1.1 Anmerkungen zum erziehungswissenschaftlichen Bildungsdiskurs ............................. 172 1.2 Institutionelle Rahmenbedingungen .................................................................................. 173 1.3 Das „Eckpunktepapier“ der Träger der Kinder- und Jugendhilfe ................................ 176 2. Diskurs in der Jugendarbeit ......................................................................................................... 179 2.1 Das Selbstverständnis der Jugendarbeit: Das (wiedergewonnene) Interesse an Bildung .................................................................................................................................... 179 2.2 Jugendarbeit und Schule ....................................................................................................... 184 2.3 Standards und Evaluation .................................................................................................... 186 2.4 Kritik am „verkürzten Bildungsverständnis“ der Bildungsdebatte ............................... 187 2.5 Das subjektorientierte Bildungsverständnis der Jugendarbeit ........................................ 189 2.6 Bedingungen, Aufgaben und Chancen bildender Jugendarbeit ..................................... 193 2.6.1 Die Lebensphase Jugend: Lebenswelten und Bildungsthemen ........................... 193 2.6.2 Konzeptionelle Grundmuster der Jugendarbeit ..................................................... 197 2.7 Der Reduktionismus der Subjektorientierung .................................................................. 204 2.8 Bildung und Aufklärung im Diskurs der Jugendarbeit .................................................... 208 3. Diskurs in der außerschulischen politischen Jugendbildung .................................................. 214 3.1 Erste Annäherungen ............................................................................................................. 215 3.1.1 Politische Bildung – ein heterogen verwendeter Begriff ...................................... 215 3.1.2 Außerschulische politische Jugendbildung und Jugendarbeit .............................. 218 3.1.3 Der bildungspolitische Stellenwert außerschulischer politischer Jugendbildung .............................................................................................................. 220 3.2 Das traditionelle Selbstverständnis ..................................................................................... 221 3.2.1 Politische Bildungsarbeit als Aufklärungsarbeit ..................................................... 222 3.2.2 Politische Bildungsarbeit als Belehrungskultur ...................................................... 224 3.3 Kontroversen ......................................................................................................................... 228 3.3.1 „Traditionalisten“ und „Modernisierer“ ................................................................. 229 3.3.2 Bildungspolitik ............................................................................................................. 230 3.3.2.1 Bildung und Qualifizierung .......................................................................... 230 3.3.2.2 Selbstgesteuertes Lernen ............................................................................... 231 3.3.2.3 Ökonomisierung der Bildung ....................................................................... 232 3.3.2.4 Evaluation ....................................................................................................... 234 3.3.3 Ziele .............................................................................................................................. 236 3.3.4 Ziele und Teilnehmerorientierung ........................................................................... 240 3.3.4.1 Neue Lernkulturen und Aufklärung ........................................................... 240 3.3.4.2 Zur Frage der Belehrungskultur .................................................................. 242 3.3.4.3 Die „affirmative Wende“: Zur Wertfreiheit politischer Bildung ............ 245 3.3.5 Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage ..................................... 250 3.3.6 Lernort .......................................................................................................................... 254 8 Inhalt D Überlegungen zu einer aufklärenden außerschulischen politischen Jugendbildung ........................................................................................................ 259 1. Reflexion auf Lebenslage und Alltagsbewusstsein ................................................................... 260 2. Exkurs: Beispiele für eine Thematisierung von Lebenseinstellungen ................................... 265 2.1 „Jeder ist seines Glückes Schmied“ .................................................................................... 265 2.2 Wissensgesellschaft ............................................................................................................... 268 2.3 Globalisierung oder die Unabänderlichkeit der Verhältnisse ......................................... 272 3. Ziele und Aufgaben politischer Bildungsarbeit ........................................................................ 276 4. Didaktisch-methodische Handlungsmuster und Vorgehensweisen .................................... 279 4.1 Reflexion auf Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen ......................................... 280 4.2 Mobile Angebote ................................................................................................................... 283 4.3 Sport und Spiel ...................................................................................................................... 288 4.4 Kommunikation .................................................................................................................... 291 4.5 Diskussion .............................................................................................................................. 294 4.5.1 Anlässe und Rahmenbedingungen ........................................................................... 294 4.5.2 Seminarangebote ......................................................................................................... 297 4.6 Die „Moby Dick-Arbeitsgruppe“ ....................................................................................... 298 5. Das Thema Rechtsextremismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit als Beispiel einer inhaltlichen Konzeptionierung .......................................................................................... 305 5.1 Erste Annäherungen ............................................................................................................. 307 5.2 Ausländer(-feindlichkeit) und Politik ................................................................................. 309 5.2.1 Die politische Neubewertung der Ausländerfeindlichkeit .................................... 309 5.2.2 Ausländerpolitik: Die politische Scheidung der Ausländer .................................. 311 5.2.3 Gründe der politischen Neubewertung ................................................................... 314 5.3 Nationalismus, Patriotismus und Nationalstolz ............................................................... 316 5.3.1 Das „Sommermärchen“: Das Verhältnis der Politik zum Nationalismus ......... 316 5.3.2 Nationalismus vs. Patriotismus? ............................................................................... 318 5.4 Ausländer(-feindlichkeit) und Gesellschaft ....................................................................... 321 5.5 Alternative Erklärungsansätze ............................................................................................. 325 5.6 Argumente gegen rechtsextreme Politik und Parolen ..................................................... 328 6. Aufklärung und alltagspraktische Lebenshilfen ....................................................................... 334 Schluss ......................................................................................................................... 337 Literatur ....................................................................................................................... 343 Einleitung 9 Einleitung Einleitung Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Feststellung, dass an der Schwelle zum 21. Jahrhundert das Thema Bildung aus seinem relativen Schattendasein, das es in den letzten gut zwei Jahrzehnten in der öffentlichen Debatte führte, herausgetreten ist. Bereits der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat in seiner viel beachteten „Bildungsrede“ am 05. Novem- ber 1997 in Berlin dem Thema Bildung wieder zu einem Rang hoher politischer Aufmerksam- keit in Deutschland verholfen. Auch die von der Öffentlichkeit wenig beachtete, aber sehr bedeutsame, weil für Europa und Deutschland zukunftsweisende „Lissabon-Strategie“ des Jahres 2000 hat Bildung auf die politische Tagesordnung gesetzt. Spätestens aber seit der Ver- öffentlichung der Empfehlungen des von der rot-grünen Bundesregierung initiierten Gremi- ums „Forum Bildung“ Ende des Jahres 2001 und zur selben Zeit der Ergebnisse der ersten PISA-Studie der OECD, die im Jahr 2000 ihre erste Erhebungsrunde hatte, ist in der Politik wie in der Öffentlichkeit, der Fachwelt und der Bildungspraxis eine intensive Debatte über die Bildungssituation und Bildungsqualität in Deutschland entstanden: Politische Entscheidungs- träger1, das BMFSFJ, Kultusministerien, Wirtschaftsvertreter, (Erziehungs-)Wissenschaftler, Schul- und Hochschulpersonal, Träger und Professionelle der außerschulischen (Jugend-)Bil- dungsarbeit melden einen praktischen Handlungsbedarf an, initiieren „round-table“-Gespräche über (neue) Ziele, Zwecke, Themen, Inhalte, Methoden oder Finanzierungsformen von Bil- dung, modellieren neue Grundsatzreflexionen über Bildung und klagen Kooperation und Ver- netzung aller am Bildungsdiskurs und der Bildungspraxis Beteiligten ein. Allenthalben und allerorten wird gegenwärtig ein Bildungsdefizit oder gar ein Bildungsnotstand reklamiert, und es werden Maßnahmen und Reformen gefordert, die die proklamierte Bildungskrise beheben sollen (vgl. Rauschenbach/Otto 2008, S. 9f.). Wie es scheint, bewegt sich etwas in der oftmals gerügten und offensichtlich über längere Zeit vernachlässigten Bildungslandschaft in Deutsch- land. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, welche Interessen, Gründe und Be- gründungen die Bildungsdiskurse leiten. Und sie geht der Frage nach, wo bei alledem das steht, was einmal als Bildung und Aufklärung galt, welchen Stellenwert also das traditionelle Ver- ständnis von Bildung und Aufklärung in gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Bildungsdiskursen hat. Hat es überhaupt noch einen Stellenwert im Bildungsdiskurs des 21. Jahrhunderts, der über den milde belächelten eines heute anachronistischen Idealismus in der „Wissensgesellschaft“ maßgeblich hinausreicht? Diese Fragen möchte die Untersuchung be- antworten und dabei aufzeigen, dass gegenwärtig in Deutschland den klassischen Intentionen von Bildung und Aufklärung weder im politischen Diskurs noch im Mainstream des wissen- schaftlichen Verständnisses und der Bildungspraxis eine besondere Bedeutung mehr zukommt, dass sie vielmehr nicht nur als anachronistischer Idealismus, sondern auch als kontraprodukti- ve, störende Ideologien gelten – auch wenn Kategorien wie Aufklärung, Emanzipation oder Mündigkeit als Bildungsziel und Bildungstitel benannt werden. Denn diese werden in der Regel 1 Der Kürze und Übersichtlichkeit halber wird in der vorliegenden Arbeit sprachlich nur dann zwischen männli- chen und weiblichen Formen explizit unterschieden, wenn dies der Inhalt einer Aussage erforderlich macht. An- sonsten sind bei den männlichen Formen die weiblichen mitgedacht. A. Lahner, Bildung und Aufklärung nach PISA, DOI 10.1007/978-3-531-93072-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 10 Einleitung mit einer anderen Intention versehen als ehedem. Und es soll erläutert werden, weshalb klassi- sche Intentionen mit dieser (Nicht-)Beachtung belegt werden oder ihnen eine allenfalls nur herablassende Würdigung erteilt wird. Eine gewisse Ausnahme bildet die außerschulische politische Bildungsarbeit mit Jugendli- chen und Erwachsenen. Obwohl es inzwischen eine Reihe von kritischen, an Aufklärung fest- haltenden Stimmen zum gegenwärtigen Bildungsverständnis und zur aktuellen Bildungspraxis gibt, zum Beispiel von Ingrid Lohmann, Andreas Gruschka, Jörg Ruhloff oder Agnieszka Dzierbicka, um nur einige wenige prominente Vertreter zu nennen, fühlt sich die Profession der außerschulischen politischen Bildungsarbeit ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis nach stärker einer Aufklärung ihrer Adressaten verpflichtet als andere Felder des außerschuli- schen Bildungswesens und das gesamte formelle Bildungswesen. In ihr wird auch gegenwärtig der Anspruch erhoben, dass „echte“ Bildungsarbeit Aufklärungsarbeit zu sein und dem zu folgen hat, was Bildung und Aufklärung einmal geheißen haben:2 „Mut zur Erkenntnis, Aufklärung des Individuums über sich selbst, über seine individuelle und kol- lektive Geschichte, über die Realitäten der Gegenwart und die Erwartungen der Zukunft, Mut zur Selbsterkenntnis und Mut zugleich, eigene Interessen im doppelten Sinne wahrzunehmen, so könn- te man die Grobziele politischer Erwachsenenbildung beschreiben: Erkenntnis, Wissen, Aufklärung als Voraussetzung für autonomes Handeln.“ (Ahlheim 2008, S. 25)3 Unter Bezugnahme auf klassische Intentionen übt die außerschulische politische Bildung Kri- tik an der gegenwärtig in Deutschland geführten Bildungsdebatte und an ihren viel diskutierten und realisierten Maßnahmen und Reformen. Folgt man diesen Vertretern der politischen Bil- dung, dann liegen in diesen Intentionen Gedanken und Argumente, die es wert sind, dass man sie einer genaueren Betrachtung unterzieht – sollen sie doch aufzeigen, dass das gegenwärtige Bildungsverständnis problematisch ist. Die Aufarbeitung der philosophischen Tradition von Bildung und Aufklärung dient auch in der vorliegenden Untersuchung als „kritische Folie“ für gegenwärtig geführte Bildungsdis- kurse: Der klassische Bildungs- und Aufklärungsbegriff fungiert als normatives Element der Kritik aktueller Bildungsverständnisse und -realitäten. Damit folgt die Arbeit den an Aufklä- rung festhaltenden Vertretern der außerschulischen politischen Bildung und schließt sich der Auffassung der Autoren des Werkes „Einführung in die Theorie der Bildung“ an, „dass zwischen Problemlagen von heute und solchen in der Vergangenheit gedankliche Zusam- menhänge bestehen. In diesem Sinne sind auch historische Auslegungen [...] nicht historisierender Selbstzweck, sondern sie werden zu Rate gezogen, weil sie möglicherweise Antworten bereithalten, die sinnvolle Alternativen zu den heutigen Antworten auf gleiche oder ähnliche Fragen sein kön- nen.“ (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006, S. 9) Ausführlich auseinandergesetzt mit der Bedeutung klassischer Bildungstheorien für Bildungs- verständnis und Bildungspraxis der Gegenwart hat sich zum Beispiel Wolfgang Klafki in sei- nem Werk „Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“. Darin entwickelt er eine kritisch- konstruktive Didaktik und folgt dabei der Prämisse, dass für ein zeitgemäßes Bildungskonzept eine „produktive Vergegenwärtigung“ klassischer Bildungstheoretiker erforderlich ist, da diese „in überraschend hohem Maße [...] nach wie vor bedeutsam und richtungsweisend“ (Klafki 2 Vgl. den Sammelband „Emanzipation in der politischen Bildung. Theorien – Konzepte – Möglichkeiten“ (Men- de/Müller 2009), in dem die Herausgeber einleitend festhalten: „Aufklärung, nach Kant der Ausgang der Men- schen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, wäre somit nach wie vor der zentrale Dreh- und Angelpunkt jeglicher Diskussion oder Versuche, Bildung nachdrücklich nicht nur zu thematisieren, sondern im umfassenden Sinne zur Geltung zu bringen.“ (ebd., S. 6) 3 Es wird zu zeigen sein, dass und warum dieser Anspruch für politische Bildungsarbeit mit Erwachsenen und Jugendlichen gleichermaßen Gültigkeit hat.