Jens Birkmeyer Bilder des Schreckens Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss' Roman "Die Ästhetik des Widerstands" r[)fl r:\n DeutscherUniversitätsVerlag ~ GABLER·VIEWEG·WESTDEUTSCHERVERLAG Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Birkmeyer, Jens: Bilder des Schreckens: Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss' Roman "Die Ästhetik des Widerstands" / Jens Birkmeyer. - Wiesbaden: DUV, Dt. Univ.-Verl., 1994 (DUV : literaturwissenschaft) Zugi.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1992 D 30 Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. © Deutscher Universitäts-Verlag GmbH, Wiesbaden 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Ur heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorarm gebleichtem und säurefreiem Papier ISBN 978-3-8244-4162-4 ISBN 978-3-322-89626-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-89626-1 Dantes Spuren und die Bilder des Schreckens. Zur Erzählweise und Poetik in Peter Weiss' Roman "Die Ästhetik des Widerstands" Inauguraldissertation zur Erlangun'g des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Neuere Philologien der Johann Wolfg ang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main vorgelegt von Jens Birkmeyer aus Wiesbaden 1992 (Einreichungsjahr) 1994 (Erscheinungsjahr) 1. Gutachter: Prof. Dr. Burkhardt Lindner (FrankfurtIM.) 2. Gutachter: Prof. Dr. Gisbert Lepper (FrankfurtIM.) 3. Gutachter: Prof. Dr. Martin Rector (Hannover) Tag der Promotion: 26.11.1992 Jens Birkmeyer Bilder des Schreckens Für Renate Inhalt Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9 Erster Teil: Schreibmotive der Widerstandsprosa I. Voraussetzungen der "Ästhetik des Widerstands". 17 1. Neubeginn der Erzählprosa: Das Divina Commedia-Fragment . 17 2. "Rekonvaleszenz": Die Todeskrise als Wendepunkt. . . . 42 11. Das Experiment personalen Erzählens . 57 1. Der Standort des Erzählers . . . . . . . . 57 2. Der narrative Diskurs: Das Erzählverfahren der "Ästhetik des Widerstands" . 68 3. Mnemosyne im Konjunktiv: Erzählgestus und Selbstreflexivität der Schlußkonstruktion . 88 Exkurs: Texttheorie als Kritik des politischen Erzählens. . 97 111. Erfahrung der Kunst - Kunst der Erfahrung 105 1. Ästhetik des erweiterten Realismus . . . . . 105 2. Schreiben und Erinnern als ästhetischer Widerstand 115 Zweiter Teil: "Divina Commedia" als intertextueIIes Modell I. Die Impulse der Danterezeption. . . . . 127 1. Dantes "Divina Commedia" als poetisches Paradigma 127 2. Revision der epischen Struktur. . . . . . . . 134 3. Stationen der Dantelektüre: Tod -Erinnerung -Anästhesie -Traum 147 7 11. Leitmotive der Intertextualität . 161 1. Die Anrufung der Musen und die Stimmen 161 2. Stadterfahrung I: Paris als Medusenmetropole 171 3. Stadterfahrung 11: Stockholm als Vorhölle . 184 4. Max Hodann: Vergil in der Arbeiterbewegung. 194 5. Charlotte Bischof!: Beatrice als Mitsoldat 203 6. Stadterfahrung III: Die Höllenstadt Berlin 216 Dritter Teil: Mythos und Mimesis I. Arbeit am Herakles-Mythos. 223 1. Fahndung: Die Suche nach Herakles 223 2. Gegenlektüre: Säkularisierung des Herakles-Mythos . 231 3. Mythos als Alptraum: Herakles in Heilmanns Briefen 240 4. Kontroverse: Der Streit um Herakles. . . . . . 250 11. Der Schrecken, das Erhabene, die Bilder. 255 l. Die Sprachlosigkeit des Schreckens und das Erhabene 255 2. Der fehlende Pegasus. "Guernica" als Ästhetik des Abwesenden. 266 3. Medusas Schrecken. Die Todesnähe der Kunst in Gericaults "Floß der Medusa". . . . . . . . 270 4. Mimesis und das Schweigen der Mutter. 275 5. Laokoon und die stummen Bilder. . . 282 Schlußbetrachtung: Schreiben nach Plötzensee . 290 Li teraturverzeichnis 295 8 Einleitung Wohl kein zweiter Roman hat gerade die linke Intelligenz dieses Landes in den letzten Jahren so nachhaltig beschäftigt wie "Die Ästhetik des Wider stands"l von Peter Weiss, deren drei Bände jeweils im Abstand von drei Jah ren 1975, 1978 und 1981 erschienen sind. Zusammen mit den "Notizbüchern 1971-1980"2, die 1981 gemeinsam mit dem abschließenden dritten Band der Trilogie publiziert wurden, nimmt dieser Text zumindest in den 70er und 80er Jahren in der deutschsprachigen Literatur eine markante Sonderstellung ein. Von der nachhaltigen Wirkung, die Weiss' Text bisher ausgeübt hat, zeugen neben den zahlreichen Rezensionen3, die die sperrige Prosa kommentiert haben, sowohl die rege Seminartätigkeit an den Hochschulen als auch zahlrei che private Lesegruppen.4 Wenn die Anzeichen nicht trügen, scheinen diese Aktivitäten nicht zuletzt angesichts der nachhaltigen postsozialistischen Er nüchterung heute jedoch rückläufig zu sein. Damit wäre allerdings noch nicht das Urteil besiegelt, die "Ästhetik des Widerstands" habe möglicherweise nach dem Untergang des Sozialismus ihre politische Bedeutung und kulturelle Be rechtigung verloren, weil ihr Autor hartnäckig von der notwendigen und auch Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. Roman, (dreibändige Ausgabe in einem Band, 1975, 1978, 1981), Frankfurt/M. 1983. - Zitatbelege im Text werden mit der Sigle (ÄdW) in Klammem, der Bandnummer in römischer und der Seitenzahl in arabi scher Ziffer abgekürzt. -Auf die verspätete Ausgabe des Henschelverlages in der DDR (Berlin 1983), die zahlreiche Textabweichungen enthält, werde ich in dieser Arbeit nicht zurückgreifen. Daß Weiss mit der Suhrkamp-Fassung nicht zufiieden war, ist den Briefen an Manfred Haiduk zu entnehmen. Hierzu: Jens-F. Dwars u.a. (Hg.), Wider stand wahrnehmen. Dokumente eines Dialogs mit Peter Weiss, Köln 1993, S. 256 ff. Zu den Hintergründen der Editionsgeschichte siehe auch: Manfred Haiduk, Der dritte Band. Kompilation zur Editionsgeschichte des dritten Bandes der "Ästhetik des Wider stands", in: Ästhetik, Revolte, Widerstand. Zum literarischen Werk von Peter Weiss, hrsg. von Jürgen Garbers u.a., Lüneburg 1990, S. 294-310. 2 Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980. Zwei Bände, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1982. - Zitatbelege im Text werden mit der Sigle (NB, 1971-1980) in Klammem und der Seitenzahl in arabischer Ziffer abgekürzt. Für die frühen Notizbücher: Peter Weiss, Notizbücher 1960-1971. Zwei Bände, Frankfurt/M. 1982 gilt die gleiche Zitierweise. 3 Vgl. Volker Lilienthal, Literaturkritik als politische Lektüre. Am Beispiel der Rezeption der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss, Berlin 1988. -In der DDR setzte die Rezeption des Romanes aufg rund der verzögerten Veröffentlichung erst verspätet ein. Siehe hierzu: Uta Kösser, Literatur im Umgang mit Geschichte. Zur Rezeption der "Ästhetik des Widerstands" in der DDR, in: Michael Hofmann (Hg.), Literatur, Ästhe tik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss, St. Ingbert 1992, S. 115-132. 4 Siehe hierzu: G. Dunz-Wolff, H. Goebel, 1. Stüsser (Hg.), Lesergespräche. Erfahrungen mit Peter Weiss' Roman Die Ästhetik des Widerstands, Hamburg 1988. 9 möglichen Refonnierung des Staatssozialismus überzeugt war. Gegen diesen Verdacht spricht zunächst, daß in der "Ästhetik des Widerstands" mithin keine leichtfertige Apologie sozialistischer Politik betrieben wird, sondern deren ständige Befragung, Irritation und Kritik. Doch hierin erschöpft sich nicht die politische Relevanz der groß angelegten Prosa. Sie besteht vielmehr in der epi schen Anlage des hochartifiziellen Textes und in dessen zentralem ästheti schen Konzept selbst: der Verarbeitung verschiedener politischer, psychologi scher und kultureller Formen des Widerstands und Widerstehens gegen die Schrecknisse der faschistischen und stalinistischen Epoche, aber auch dem fiktiven Entwurf widerständigen Verhaltens gegen die subjektiven Grenzen des Ertragbaren. Hiennit ist jene spezifisch ästhetische Verfassung gemeint, die es erlaubt, das Erlebte überhaupt erst zu artikulieren und mitzuteilen. Immer kreist hierbei Weiss' Verständnis von Widerstand auch um das antiresi gnative Projekt einer stets zu intensivierenden Wahrnehmungsfähigkeit. Mit ihrer Hilfe sollen selbst vom sprachlos machenden Grauen noch möglichst prä zise Vorstellungen gewonnen werden können, um den einzelnen vor jener Ver nichtungskraft des Schrecklichen zu schützen. In diesem hermetischen Erzähl modell, das um die zahlreichen Bilder und Imaginationen des Schreckens herum angelegt ist, gehören für die Erinnerungsarbeit des Ich-Erzählers inten sivste Einbildungskraft und anästhetischer Selbstschutz vor dem halluzinierten Furchtbaren zusammen: Ästhetik des Widerstands. Bereits die in dem reichlich theoretisch anmutenden und zweideutigen Ro mantitel enthaltene doppelte Aussageform des genitivus objectivus und sub jectivus verweist auf die beabsichtigte Komplexität und Vielfalt der angespro chenen Themenkreise. Je nachdem, welcher Aspekt des zweifachen Genitivs befragt wird - ist nun die Art gemeint, wie über den Widerstand geschrieben wird, d.h. inwieweit Kunst eine formgebende Widerstandsfunktion besitzt, oder die Frage nach der Rolle der Ästhetik für den Widerstand -, rücken ande re Aspekte ins Blickfeld, obgleich die jeweiligen Konnotationen immer auch auf beide Hauptstränge des Romanes verweisen: "Es geht um den Widerstand gegen Unterdrückungsmechanismen, wie sie in ihrer brutalsten, faschistischen Form zum Ausdruck kommen, und um den Versuch zur Überwindung einer klassenbedingten Aussperrung von den ästhetischen Gütern" (NB, 1971-1980, 419). In beiden Fällen ist eine "kämpfende Ästhetik" (ebd., 420) anvisiert, die künstlerische mit politischen Aspekten zu verbinden sucht. Hinsichtlich der Kunst kommt es Weiss letztlich darauf an, ihren Eigenwert gegen alle heteronomen Fremdansprüche durchzusetzen, ohne jedoch das 10