BEWUSSTWERDUNG Und G.I. Gurdjieff Von Solange Claustres Editions Eureka Inhalt Vorwort 1 Einführung 2 Meine erste Begegnung 4 Toasts auf die Idioten und Beinnamen 6 Der Schleier 8 Einen toten Esel hinter sich herziehen 11 Milapera 12 Die Holzschlange 15 Der Nachtisch 17 Der Weihnachtsbaum 19 Die Angst 20 Befreiung von meiner Mutter 21 Die Schlange, die Mönch werden wollte 22 Fasten, die verschiedenen Nahrungen 23 Einmal, Eines Tages, Kurze Erzählungen: -Die Tränen 25 -Gutes Publikum 26 -Dr. Conge 26 -Es ist nicht so 26 -Atmosphäre 27 -Auf Andere Achten 27 -Samtband 28 -Bahnhof St. Lazare 30 -Der Abschied von Monsieur Gurdjieff 33 Die Tänze – Movements Die Kunst, eine Lehre ohne Worte zu vermitteln 35 Wachsamkeit 44 Ich Bin Mich Selbst 45 Worte von Georges Gurdjieff 46 Kurze Bemerkungen zu dieser Lehre Meine Überlegungen 49 Transformation der Substanzen im Menschen 58 -Annäherung an die Physiologie 64 -Gespräch über die Physiologie mit Pascale W.: 65 Nahe Georges Gurdjieff 68 Meine Begegnung mit G. Gurdjieff 74 G. Gurdjieffs Leben kurz skizziert 77 Anmerkung: In der zweiten Auflage der Französischen Auflage ist das Kapitel „G. Gurdjieffs Leben kurz skizziert“ direkt nach dem Vorwort, und die Kapitel „Nahe G. Gurdjieff“ sowie „Meine Begegnung mit G. Gurdjieff“ nach der Einleitung. -1- VORWORT In diesem Buch beschreibe ich G.I. Gurdjieff und seine Lehre, welche ich von 1941 bis 1949 bei ihm in Gruppen, bei Treffen, bei den Movements und bei ihm zuhause kennen gelernt habe. Auch während meines gesamten Lebens. Diese Lehre der Bewusstwerdung, der Entwicklung Seiner Selbst, der Klarheit, der Ehrlichkeit, ist mir zur Lebenspraxis geworden. Meine Erfahrung seit 1941 erlaubt es mir, Zeugnis abzulegen. Und ich bin es mir in diesem Vorwort schuldig, die Leser mit mehreren Tatsachen bekannt zu machen, damit sie klar die Authenzität, die Ehrlichkeit oder das Gegenteil, oder die Phantasie sehen: Mehrere Organisationen haben sich im Namen von G.I. Gurdjieff gebildet und ihre Führer sind alle nicht von Monsieur Gurdjieff und/oder Mme de Salzmann instruiert worden. Manche waren Schüler von Schülern, verschiedener Herkunft, ohne eine tiefere Erfahrung mit dieser Lehre gemacht zu haben. Andere, die einen Schüler kennen, die Ideen, die Bücher von oder über G., bilden Gruppen im Namen von G. Gurdjieff, ohne die Praxis seiner Arbeit ausgeübt zu haben. Aspekte der Ideen werden deformiert, ebenso der Movements. Die wirkliche innere Arbeit von G. Gurdjieff ist nicht vorhanden. Die richtige Kenntnis und die richtige Praxis im Sinne der Energien, der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins ist nicht vorhanden, weil sie diese nicht praktiziert haben. Ich weise darauf hin, daß einige für ihre Organisation, die vor allem kommerziell sind, den Namen von G. Gurdjieff benutzen und Namen oder Titel, welche G. vor langer Zeit benutzt hatte, wie: „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen", „Der vierte Weg", und andere Namen; indem sie sich der Bücher über und von G. Gurdjieff bedienen, und aller möglichen Dokumente, obgleich die Organisatoren niemals die Arbeit von G. Gurdjieff praktiziert haben. Selbst Personen, die in den von Monsieur Gurdjieff und/oder Mme de Salzmann gebildeten Gruppen waren, sind nicht immer auf der Höhe ihrer Verantwortung, durch einen Mangel an wirklicher Suche oder/und einem Bedürfnis nach Macht, aus Eitelkeit oder Schwäche. Andere in Gruppen sind praktisch nicht in dieser Lehre, weil sie innerlich nicht arbeiten: Ihr Ego ist zu stark, ihre Einbildung nährt ihre Illusion und ihre physische Anwesenheit bei den Treffen genügt ihnen. Bei allem, was ich hier beschreibe, füge ich hinzu, daß bestimmte Menschen durch die Ehrlichkeit ihres Wesens instinktiv und intuitiv den wirklichen Sinn dieser Lehre verstehen können und sie wirklich auf die Suche begeben können, geleitet von ernsthafter Beobachtung und einer tiefen Bewusstwerdung ihrer selbst. -2- EINFÜHRUNG Dieses Werk legt Zeugnis ab von dem, was ich von G. Gurdjieff wie ich ihn kannte, vermitteln möchte. Von seiner Lehre, wie ich sie verstanden habe und von dem, wie ich zu jener Zeit gedacht und gefühlt habe. Indem ich meine Erinnerungen und meine Eindrücke wieder durchlebte, um so wahrheitsgetreu wie möglich zu sein, hat diese Niederschrift meine innere Arbeit mit G. Gurdjieff verlängert, den Umfang dessen, was er mir gegeben hat präzisiert und hat mir nach und nach meinen inneren persönlichen Weg bewusst gemacht, den Weg meines innersten Wesens. Ich versuche zu vermitteln, was ich von G.I. Gurdjieff erhalten habe und besonders dieses außergewöhnliche Gefühl, das von ihm ausstrahlte, dieses Verstehen des Wesens, seines Herzens, als ob er ein „Ohr" gehabt hätte, das die Bewegungen meines Gefühls „hörte". Er war so bei allen. Dies war keine Sentimentalität. Seine Aufmerksamkeit war ein Akt der Anwesenheit für den anderen, für die anderen. Da mir eine solche Präsenz in meinem Umfeld immer gefehlt hatte, war ich für diese Qualität der Aufmerksamkeit für den anderen, für mich, dankbar. Als ich G.I. Gurdjieff kennen lernte, war ich schon durch die seit meiner Kindheit erlebten traumatisierende Dramen gereift und durch Ideen, die mein Denken beschäftigten und ich versuchte den Sinn des menschlichen Leidens zu verstehen, den Sinn des Lebens. Hinter meinem entschiedenen Charakter, meiner leidenschaftlichen Natur, die sich aus verschiedenen Erbanlagen zusammensetzte, versteckte sich der andere Teil in mir, der das Kind blieb, das er niemals sein konnte, naiv und schüchtern, den nur Monsieur Gurdjieff gesehen hat, erkannt hat und dem er ein Gefühl des Vertrauens gab. Ich suchte keinen Meister, ich suchte den Sinn des Lebens der Menschen. Eine Bekanntschaft über jemanden anderes brachte mich in Kontakt mit Madame Jeanne de Salzmann, die eine Gruppe vorbereitete, um sie Monsieur Gurdjieff vorzustellen. Meine Begegnung mit G.1. Gurdjieff war die mit dem Meister, dessen ich bedurfte: eines Meisters, der sich seiner selbst bewußt war, der Anderen, des Lebens und des Sinns dieses Lebens. Einige Zeit nach dem Tod von G. Gurdjieff riet mir Mme de Salzmann, meine Erfahrung mit ihm niederzuschreiben. Aber zu jenem Zeitpunkt fühlte ich mich nicht fähig zu schreiben. Viel später, als ich meinen eigenen Schülern in dieser Lehre G. Gurdjieff beschrieb, fühlte ich die Notwendigkeit, mein Zeugnis als Akt der Dankbarkeit niederzuschreiben, die Aufgabe, von G.1. Gurdjieff und seiner Bedeutung zu erzählen. Die Lehre von G. Gurdjieff ist weder eine Philosophie., noch eine Religion. Es ist eine Schule der Bewusstmachung seiner selbst durch eine tiefere Kenntnis seiner selbst, für die Entwicklung und Entfaltung aller seiner Fähigkeiten durch eine Disziplin des Denkens, des Gefühls und des Körpers, durch verschiedene Übungen für jeden dieser Teile, getrennt und gleichzeitig. Diese Lehre ist Teil des ,;Vierten Weges", der sich von dem des Mönchs, des Yogi und des Fakirs unterscheidet; die sich speziell mit dem Gefühl oder dem Denken oder dem Körper beschäftigen und verlangen, an sie zu glauben. G. Gurdjieff verlangte nicht, daß man glaubte, sondern im Gegenteil, kritisch zu sein, zu experimentieren und selbst zu lernen. -3- Diese Lehre verlangt nicht den Rückzug aus dem Leben; man muß in seinem Leben bleiben und ganz allmählich vollkommen präsent in seinem ganzen Leben werden. Dieser Weg stellt subtilere Anforderungen als die anderen. G. Gurdjieff und seine Schule haben eine tiefe Kenntnis der physischen, physiologischen und psychischen Aspekte des Materials im Prozeß der Evolution des Seins, durch die Transformation der Substanzen, der Energien, ihres miteinander in Beziehung stehenden Kreislaufs. Der Meister oder der Ältere ist da um „aufzuwecken", Hinweise zu geben, dem Schüler gemäße Übungen in die Praxis umzusetzen. Wenn dies nicht auf richtige Weise geschieht, ist er weder Meister, noch Älterer, auch wenn er diesen Platz einnimmt. Einen Teil dieser Schule stellen die „Movements" dar, in bestimmten Klöstern ,;Heilige Tänze" genannt. G. Gurdjieff setzte die inneren Übungen dieser Schule in den Movements in die Praxis um. Sie werden entsprechend den Möglichkeiten des Schülers geübt. Meine Beschreibungen sind das Ziel dieser Schule, aber jeder dieser Übenden ist mehr oder weniger entfernt von ihrer wirklichen Anwendung, die eine Demut und sehr rigorose innere Disziplin erfordert, wo die Einsicht und der wirkliche Wunsch, auf diesem Weg zu sein, nicht immer stark genug sind, da das Ego immer anwesend ist. Die Kenntnis dieser Ideen ohne ihre rigorose Ausübung, kann keine Transformation hervorbringen und im Gegenteil, ein sehr subtiles Hindernis für ein wirkliches Verständnis und für ihre Praxis sein. -4- MEINE ERSTE BEGEGNUNG Eines Abends in der Rue des Colonels Renard stellte Mme. Jeanne de Salzmann Georg lvanovitch Gurdjieff eine Gruppe von Personen vor, die sie für seine Lehre vorbereitet hatte, ich befand mich unter ihnen. Wir kamen in einen Vorraum, wo wir unsere Mäntel auf einen Sessel und zwei Stühle legten und betraten ein Zimmer, das Eßzimmer. Es füllte sich schnell mit Leuten, die einen saßen, andere standen, da nicht genug Platz war, mehr Stühle aufzustellen. Beim Eintreten sah ich am Ende eines langen Tisches, in einem Sessel mit dem Rücken zur Tür, eine imposante Gestalt, leicht im Profil. Ich sah das Gesicht nicht, aber es konnte nur Monsieur Gurdjieff sein. Und impulsiv ging ich dorthin und setzte mich auf den Boden dicht neben seinem Sessel, zu seiner Linken. Ich wußte nichts von ihm, noch hatte ich sein Foto gesehen. Aber das Wenige, was ich von seinem Rücken sah, seinem Körper, der Eindruck, den ich davon erhalten hatte, gab mir dies unwiderstehliche Verlangen, nah bei ihm zu sein, mit einem sehr starken Gefühl, meine Familie wiederzufinden, zu Hause zu sein. Auf dem Boden neben dem Sessel von G. sitzend, den Tisch in Höhe meines Kopfes, hätte ich ihn nur heben müssen, um ihn zu sehen, was ich nicht tat. Ich machte mich ganz klein, wie in einem Versteck zusammengekauert. Ich dachte nicht, daß man auf mich achten würde. Aber da machte ich meine erste Erfahrung, direkt und stark! Es gab einige einleitende Worte, auf die ich nicht achtete, da ich mich diesem Gefühl der Entdeckung hingab, zu Hause zu sein und dem, was von G.I. Gurdjieff ausstrahlte, das mir einen tiefen Eindruck gab von etwas schon Bekanntem, weit Zurückliegenden, das ich nun wiederfand. Und in einem Moment, während eines Schweigens, wendete sich G. I. Gurdjieff zu mir und sagte, auf mich deutend in einem fragenden, bestimmten Ton, ein wenig nachdrücklich: „Diese Person hat eine Frage zu stellen, etwas Wichtiges zu sagen." Ich war ertappt, überrascht, Ich hatte nicht erwartet befragt zu werden, da wir gekommen waren, um Fragen zu stellen! Ich genierte mich sehr zu sprechen. Ich konnte keine Worte finden und konnte nur meine ständige Frage stellen. "Ich versuche zu verstehen, was der Sinn des Lebens ist." Monsieur Gurdjieff drehte sich ohne mir zu antworten zu Mme de Salzmann um und warf ihr in unzufriedenem Ton vor, Leute zu bringen, die nicht vorbereitet waren, daß ich nicht vorbereitet sei. Er fuhr fort, Mme de S. zu beschimpfen, die ruhig blieb, gleichmütig. G. Gurdjieff drehte einige Male leicht den Kopf zu mir und beobachtete mich verstohlen. Ich wusste gut, daß ich nicht bereit war. Tränen flossen mir aus den Augen und liefen über meine Wangen. Sie rührten aus einer tiefen Verzweiflung und einem tiefen Bedürfnis nach „ich-weiß-nicht-was". Ich sagte nichts, ich hatte wirklich nichts zu sagen. -5- In all den Jahren, die ich bei ihm verbracht habe, ist dies das einzige Mal, wo Monsieur Gurdjieff in einer Situation, die mich betraf, Unzufriedenheit ausdrückte, und dies war meine erste Begegnung! Dies war für mich ein großer Schock, weil hinzukam, dass ich die einzige war, an die er sich direkt wandte, obwohl ich geschwiegen hatte... Ich fühlte mich in einen Abgrund stürzen.:. In der Stille die folgte, wendete sich G., nachdem er mich nochmals betrachtet hatte, zu mir um und fragte mich ernst: „Sie, böse mit mir?" Ich antwortete ohne zu zögern sofort: „Nein, Monsieur". Dies stimmte, warum sollte ich böse mit ihm sein, da er doch recht hatte? Immer noch zu mir gewendet, stellte G. in erstauntem Ton nochmals die Frage: „Sie, nicht böse mit mir?" Ich antwortete wieder: „Nein, Monsieur" und meine Tränen liefen mir immer noch wie Wasser über das Gesicht. G. Gurdjieff drehte sich dann zu Mme, de S. um, nickte mit dem Kopf, gab einen tiefen, gedämpften Ton von sich, wie eine Zustimmung. Und mit langsamen Gesten nahm er sein eigenes Dessert, neigte sich zu mir und gab es mir mit einer außergewöhnlichen Freundlichkeit und Zartheit. Ich hatte ein unbeschreibliches Gefühl. Immer noch in Tränen, nahm und aß ich dieses Dessert, eine kleine Schüssel, gefüllt mit Sahne, Joghurt, Früchten und Konfitüre und hatte den Eindruck, zum ersten Mal in meinem Leben genährt zu werden. Dies war für mich wie ein Erkanntwerden, ich von ihm und er von mir, wie ein zwischen uns geschlossener Pakt. Die Zusammenkunft ging weiter, als ob nichts passiert wäre. Ich versuchte den Sinn seiner Haltung zu verstehen, da er mich nicht persönlich angegriffen hatte. Ich hatte mich wegen eines essentiellen Bedürfnisses neben ihn gesetzt: !m Zentrum zu sein. Tatsächlich war ich ganz im Zentrum! Wollte G. Gurdjieff auf den Platz, den ich mir neben ihm eingenommen hatte, besonders hinweisen? Das Geschenk seines Desserts war wie eine Einweihung, ein „Ritterschlag", ich habe es empfunden wie eine Kommunion im Gefühl und in der Empfindung, das erste Mal in meinem Leben genährt zu werden. Dies wurde durch den Geschmack des Desserts, der sich in mir ausbreitete und mich erfüllte, konkretisiert. In dieser ersten Begegnung hatte ich den Eindruck einer großen Kraft: Das Gefühl gesehen zu werden wie ich bin, das mir den Eindruck gab zu existieren. Ich habe G.I. Gurdjieff verstanden wie jemand, der das Innerste eines Wesens empfindet und direkt bis dorthin vordringt. Ich fühlte mich durch ihn erkannt. Ich fühlte das erste Mal, daß ich existiere, ich existierte. -6- DIE TOASTS AUF DIE "IDIOTEN" UND DIE BEINAMEN Nach unserem Gruppentreffen gab es ein Essen mit G. Gurdjieff, wo wir Toasts auf die Namen ausbrachten, die von den Schülern der Gruppe ausgewählt waren und manchmal von Monsieur Gurdjieff. Für die Toasts bat G., sich einen Namen aus einer Liste auszusuchen, die mehrere Reihen mit jeweils drei Namen enthielt. Es gab zum Beispiel: gewöhnlich, höher, erleuchtet, zig-zag usw. G. Gurdjieff nannte diese Reihe die „Idioten". Dieser Name hatte nicht den negativen Sinn wie im Französischen, sondern G. bediente sich seiner offensichtlich um zu provozieren! Weil er einfach bedeutete: „jemand". Für den Toast nahm man nur ein ganz kleines Glas Armagnac oder Wodka. Frauen konnten so tun, als ob sie tranken oder nur ein Drittel trinken. Ich hatte oft die Rolle, die Toasts auf die „Idioten" auszubringen. Ich habe beobachtet, daß der ausgewählte Name das ausdrückte, was man von sich selbst dachte. Manchmal gab G. Gurdjieff selbst einen Namen oder er --änderte den, den wir ausgewählt hatten. Ich bemerkte, daß diese Namen einem Zug unseres Charakters entsprachen oder sogar das Innerste der Person ausdrückten. Eines Tages sagte G., daß man vom viereckigen zum runden übergehen konnte, oder das Gegenteil, vom runden zum viereckigen, wo es Haltepunkte gibt. Die Änderung des Namens durch G. Gurdjieff sollte einen inneren Übergang auf ein anderes Niveau bezeichnen. Es handelte sich daher um Arbeit an sich selbst, die das Wesen transformierte. In alten Traditionen werden jeder Etappe, die ein Mensch zurücklegt; Namen gegeben: Geburt, Jugendalter, Erwachsenenalter und Ereignisse; die eine Veränderung im Leben hervorrufen. Ich hatte den Namen „Widerspenstige" gewählt. Ich fühlte mich so und sogar auch heute noch! Eines Abends, beim Ertönen meines Namens, drehte sich G. zu mir um und sagte in erstauntem Ton: „Sie widerspenstig?"... Und er fügte entschieden hinzu: „Sie mitfühlend!"... Ich war überrascht, ich sah mich überhaupt nicht so! Und eines Abend, beim Toast auf meinen Namen, sagte mir G: „Sie Mitfühlende?... Aber ... subjektiv? oder objektiv?"... So stellte G. Gurdjieff alles in Frage! ... Ich musste verstehen, daß ich „mitfühlend" war, und subjektiv? oder objektiv?...! Ein Beispiel brachte mich auf die Spur: Ich erzählte G, daß ich einer Kameradin finanziell und moralisch half. Er sagte: „Sie haben einer Person geholfen? Sie werden Schläge von dieser Person erhalten! Man muß wissen, wie man hilft, lernen zu helfen. Der Mensch ist so gemacht!" Später habe ich die Wahrheit seiner Worte erfahren: Diese Frau verschwand, ohne Erklärung und ohne mir das Geld zurückzugeben! Ich benötigte lange Zeit, um mir meine Haltung bewußt zu machen: Ja: Naiv, subjektiv, anstatt bei klarem Verstand zu sein, objektiv und zu wissen, wie man „Nein" sagt. Meine Natur ist so, daß ich oft diese Situation wiederfinde, mit der ganzen Inkonsequenz des Menschen: Egoismus, Feigheit, Unehrlichkeit. G. Gurdjieff gab uns manchmal Beinamen. -7- Mich hat er von Anfang an „Melange" (Mischung) genannt. Dies könnte zu meinem Vornamen Solange passen, aber andere Beinamen für meine Kameraden, wie: Kleine, Viertelschlaf; Halbschlaf, Maus, Brioche (kleiner Kuchen), Magere, Halbundhalb und andere, gaben einen Aspekt der Person wieder, einen Charakterzug oder ihr innerstes Wesen. Was bedeutete mein Beiname? Ich beobachtete unter anderem, daß „Kleine" keinen negativen Aspekt für denjenigen, der diesen Beinamen trug, ausdrückte ... eher im Gegenteil! G. Gurdjieff war oft ironisch, aber nie herablassend. Als mich G. so nannte, mit dem „g" wie „che" ausgesprochen: Melanche, stellte ich mir keine Frage. Aber später fragte ich mich, welche Melange? Es gab meine verschiedenen Erbströme und Einflüsse sehr verschiedener sozialer Umgebungen, auf allen Ebenen, von oben nach unten auf der sozialen Leiter, in denen ich als Kind und mein ganzes Leben lang lebte. Seit meiner Kindheit befand ich mich inmitten von Menschen und Situationen, die sich zueinander in Opposition befanden. Ich habe immer versucht zu verstehen, was sie trennte und was ihnen gemeinsam war. Ich war immer auf der Suche nach dem wirklichen Sinn des Menschen im Leben, in seinem Leben. Bei meiner Suche erkannte ich, daß im Westen die Idee der „Melange" negativ ist, während sie in alten Traditionen das Gleichgewicht zwischen zwei Gegensätzen bezeichnet, das Band oder die Vereinigung zwischen dem Subtilen und dem Festen, dem Spirituellen und dem Zeitlichen. Indem ich mich beobachtete, fand ich heraus, daß ich einen Aspekt der Expansion hatte, ein Bedürfnis alles voll zu erleben. Und zur gleichen Zeit das Gegenteil, ein Bedürfnis nach unerbittlicher innerer Askese. Ich habe diese beiden Aspekte immer gleichzeitig gelebt, ohne mir dessen bewußt zu sein. Dieser Beiname Melange war für mich eine wichtige Lehre, wie der Name Mitfühlende, der auf mein ganzes Sein einwirkte. In den „Erzählungen Beelzebubs für seinen Enkel" sagt G. Gurdjieff, daß das „Sein" bedeutet, zwei Naturen zu haben. In der Lehre von G. Gurdjieff ist es das Ziel, inmitten seiner beiden Naturen, dazwischen zu sein, bewußt, ohne daß die eine die andere beeinträchtigt, ohne daß die eine die andere daran hindert zu funktionieren. -8- DER SCHLEIER Eines Abends bei einem Gruppentreffen saß ich im Schneidersitz auf dem Teppich, gegenüber von G. Gurdjieff, in der ersten Reihe, einen Meter von ihm entfernt. Alles lief mit Fragen und Antworten ab. Einmal betrachtete mich G. aufmerksam und deutete plötzlich mit dem Finger auf mich: Er sagte in bestimmtem Ton: „Sie haben Schleier". Und er machte eine große Geste mit den Armen, mit den Händen vor seinem Gesicht, und fuhr damit von oben nach unten, vom Gesicht den Körper entlang. Er fügte hinzu: „Wie in den religiösen Orden, mit klösterlichen Regeln: Gehorsam, Armut, Keuschheit". Ich sagte nichts, getroffen von seinen Worten. Die Gruppe fuhr fort. Ich dachte nach und analysierte mein Leben, um zu verstehen, was G. gesagt hatte: Mir bewußt zu werden, daß ich den Schleier hatte? Oder ihn bewußt zu haben? Ich betrachtete mich nicht als gehorsam, sondern als „widerspenstig". Doch die Arbeit um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, nötigte mir Gehorsam ab. Während ich die Lehre von G. als absolut richtige Disziplin empfand. Was die Armut angeht, so traf das fürwahr zu! Dies ging sogar so weit, daß ich nicht einmal fünfzig Francs in der Tasche hatte! Und schließlich lebte ich ganz allein, geschieden und mehr noch, isoliert von meiner familiären Umgebung durch den Krieg und die deutsche Besetzung. Ich wohnte in der obersten Etage eines Wohnhauses im Norden von Paris, in einem Dienstmädchenzimmer, ohne Wasser und ohne Heizung. Ich erlegte mir eine schwere Disziplin auf, um Durchhaltevermögen und Willen zu erlangen: Morgens. nahm ich eine kalte Dusche im „Türkischen Bad" des Wohnblocks. Es war Winter, das Wasser eisig. Anschließend meditierte ich eine Stunde lang. Und ich betete. Mein Gebet war seit meiner Kindheit folgendes: „Herr, hilf mir, hab Erbarmen mit mir, gebe mir, was Du für gut erachtest, ich weiß nicht was ich brauche, was richtig für mich ist.., Du, Du musst es wissen." Ich machte oft Übungen, die ich seit meiner Kindheit gemacht hatte: - Die „Gegenwart Gottes" zu empfinden. - So lange wie möglich auf den Knien zu bleiben, mit ausgebreiteten Armen. – - Mir negative Gedanken und Gefühle zu verbieten, Urteilen, Begehren. - Andere Übungen der Kontrolle über den Körper und die Gedanken. Ich überprüfte meine Erinnerungen. Langes Nachsinnen zeigte mir die zurückgelegte Strecke meiner tiefen Suche, instinktiv, intuitiv, sich nach und nach enthüllend: Mein Weg war kontinuierlich und ging in dieselbe Richtung: Als kleines Mädchen, mit fünf, sechs Jahren, in Halbpension bei den Nonnen in Tunis, wollte ich in den Orden eintreten.