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Beweise und Widerlegungen: Die Logik mathematischer Entdeckungen PDF

176 Pages·1979·4.706 MB·German
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Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie Gegründet von Prof. Dr. Simon Moser, Karlsruhe Herausgegeben von Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt, Bielefeld H. Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie (vergriffen) 2 R. Wohlgenannt, Was ist Wissenschaft? (vergriffen) 3 S. J. Schmidt, Bedeutung und Begriff (vergriffen) 4 A.-J. Greimas, Strukturale Semantik (vergriffen) 5 B. G. Kuznecov, Von Galilei bis Einstein 6 B. d'Espagnat, Grundprobleme der gegenwärtigen Physik (vergriffen) 7 H. J. Hummell / K.-D. Opp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie 8 H. Lenk, Hrsg., Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie 9 I. Lakatos / A. Musgrave, Hrsg., Kritik und Erkenntnisfortschritt 10 R. Haller /J. Götschl, Hrsg., Philosophie und Physik 11 A. Schreiber, Theorie und Rechtfertigung 12 H. F. Spinner, Begründung, Kritik und Rationalität, Band 1 13 P. K. Feyerabend, Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften 14 I. Lakatos, Beweise und Widerlegungen Imre Lakatos Beweise und Widerlegungen Die Logik mathematischer Entdeckungen J Herausgegeben von ohn Worrall und Elie Zahar Friedr. Vieweg & Sohn Braunschweig/Wiesbaden Dieses Buch ist die deutsche übersetzung von Imre Lakatos Proofs and Refutations - The Logic of Mathematical Discovery © by Cambridge University Press, London 1976 übersetzt von Detlef D. Spalt, Darmstadt CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lakatos, Imle: Beweise und Widerlegungen: d. Logik math. Entdeckungen / Imre Lakatos. Hrsg. von John Worrall u. Elie Zahar. [Übers. von Detlef D. Spalt). - Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1979. Einheitssacht.: Proofs and refutations <dU ISBN 978-3-663-00047-1 ISBN 978-3-663-00196-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-00196-6 1979 Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1979 Die VervieJfaltigung und übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder, auch für die Zwecke der Unterrichtsgestaltung, gestattet das Urheberrecht nur, wenn sie mit dem Verlag vorher ver einbart wurden. Im Einzelfall muß über die Zahlung einer Gebühr für die Nutzung fremden geistigen Eigentums entschieden werden. Das gilt für die Vervielfaltigung durch alle Verfahren einschließlich Speicherung und jede Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien. Satz: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig Buchbinder: W. Langelüddecke, Braunschweig ISBN 978-3-663-00047-1 Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber ..... . V Einleitung des Verfassers VIII Kapitell 1 Ein Problem und eine Vermutung 1 2 Ein Beweis .............. . 2 3 Kritik des Beweises durch lokale aber nicht globale Gegenbeispiele . 5 4 Kritik der Vermutung durch globale Gegenbeispiele ......... . 7 4.1 Die Vermutung wird verworfen. Die Methode der Kapitulation 8 4.2 Das Gegenbeispiel wird verworfen. Die Methode der Monstersperre . 9 4.3 Die Vermutung wird nach der Methode der Ausnahmensperre verbessert. Schrittweises Ausschließen. Strategischer Rückzug oder Spiel auf Sicherheit ........................................ . 18 4.4 Die Methode der Monsteranpassung ....................... . 24 4.5 Die Vermutung wird nach der Methode der Hilfssatz-Einverleibung ver- bessert. Beweiserzeugter Satz gegen naive Vermutung .......... . 27 5 Kritik der Beweisanalyse durch Gegenbeispiele, die global aber nicht lokal sind. Das Problem der Strenge ................ . 36 5.1 Die Monstersperre bei der Verteidigung des Satzes 36 5.2 Versteckte Hilfssätze ................... . 36 5.3 Die Methode "Beweis und Widerlegungen" ..... . ..... . 40 5.4 Beweis gegen Beweisanalyse. Die Relativierung der Begriffe ,Satz' und ,Strenge' bei der Beweisanalyse .......................... . 44 6 Rückkehr zur Kritik des Beweises durch Gegenbeispiele, die lokal aber nicht global sind. Das Problem des Gehaltes ...................... . 51 6.1 Der Gehalt wird durch tieferliegende Beweise vermehrt ........... . 51 6.2 Auf dem Weg zu endgültigen Beweisen und entsprechende hinreichende und notwendige Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . .... . 57 6.3 Verschiedene Beweise ergeben verschiedene Sätze. . .... . 59 7 Neudurchdenken des Problems vom Gehalt ................... . 60 7.1 Die Naivität einer naiven Vermutung ..................... . 60 7.2 Induktion als Grundlage der Methode "Beweise und Widerlegungen" .. 61 7.3 Deduktives gegen naives Mutmaßen ............. . 63 7.4 Der Gehalt wird durch deduktives Mutmaßen vermehrt . 69 7.5 Logische gegen heuristische Gegenbeispiele ........ . 75 8 Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 8.1 Widerlegung durch Begriffsdehnung. Eine Bewertung der Monster- sperre - und der Begriffe Irrtum und Widerlegung ............. . 77 III 8.2 Beweiserzeugte gegen naive Begriffe. Theoretische gegen naive Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8.3 Neudurchdenken der logischen und der heuristischen Widerlegungen .. 85 8.4 Theoretisches gegen naives Begriffsdehnen. Stetiger gegen kritischen Fortschritt .......................................... 86 8.5 Die Grenzen der Gehaltsvermehrung. Theoretische gegen naive Widerlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 9 Wie Kritik mathematische Wahrheit in logische Wahrheit verwandeln kann 92 9.1 Unbegrenzte Begriffsdehnung zerstört Bedeutung und Wahrheit ........ 92 9.2 Gemäßigte Begriffsdehnung kann mathematische Wahrheit in logische Wahrheit verwandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kapitel 2 Einleitung der Herausgeber . 98 1 Übersetzung der Vermutung in die ,wohlbekannte' Sprache der Linearen Algebra. Das Problem der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2 Ein anderer Beweis der Vermutung ............................. 108 3 Einige Zweifel an der Endgültigkeit des Beweises. Das Obersetzungsver- fahren und essentialistischer gegen nominalistischer Zugang zu Definitionen 110 Anhang 1 Eine weitere Fallstudie zu der Methode "Beweise und Widerlegungen" . . . . . . .. 119 1 Cauchys Verteidigung des ,Kontinuitätsprinzips' . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2 Seidels Beweis und der beweiserzeugte Begriff der gleichmäßigen Stetig- keit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3 Abels Methode der Ausnahmensperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4 Hindernisse auf dem Weg zu der Entdeckung der Methode der Beweis- analyse ......................................... . 128 Anhang 2 Deduktivistischer oder heuristischer Zugang? 134 1 Der deduktivistische Zugang . . . . . . . . . . 134 2 Der heuristische Zugang. Beweiserzeugte Begriffe 136 2.1 Gleichmäßige Konvergenz ................. . 137 2.2 Beschränkte Schwankung .................. . 139 2.3 Die Caratheodory-Definition einer meßbaren Menge .............. . 144 Bibliographie ........... . 147 Namensverzeichnis .. . . . . . . 154 Sachwortverzeichnis 157 IV Vorwort der Herausgeber Am 2. Februar 1974 starb unerwartet unser guter Freund und Lehrer Imre Lakatos. Zu dieser Zeit arbeitete er (wie gewöhnlich) an zahlreichen wissenschaftlichen Vor haben. Eines der wichtigsten darunter war die Veröffentlichung einer abgeänderten und erweiterten Fassung seines glänzenden Essays 'Proofs and Refutations', die in vier Teilen in The British Journal for the Philosophy of Seien ce, 14,1963-4 erschien. Laka tos hatte seit langem einen Vertrag für dieses Buch, doch hielt er die Veröffentlichung in der Hoffnung zurück, den Essay erweitern und weiter verbessern und ihm weitere wesentliche Bestandteile hinzufügen zu können. Diese Arbeit wurde durch die Verbreite rung seiner Interessen auf die Philosophie der physikalischen Wissenschaften beträchtlich aufgeschoben, aber im Sommer 1973 endlich beschloß er, die Veröffentlichung voran zutreib~n. Während des Sommers erörterten wir beide mit ihm verschiedene Pläne für das Buch, und wir haben uns nun bemüht, ein Buch vorzulegen, das unter den so traurig veränderten Umständen so weit wie irgend möglich dem von Lakatos geplanten gleicht. Deswegen haben wir drei neue Beiträge zusätzlich zu dem ursprünglichen Essay ,Beweise und Widerlegungen' (der hier das Kapitell bildet) aufgenommen. Zunächst haben wir einen zweiten Teil zu dem Haupttext hinzugefügt. Er befaßt sich mit Poin cares Beweis der Descartes-Euler-Vermutung mit Hilfe der Linearen Algebra und beruht auf Kapitel 2 von Lakatos' Doktorarbeit aus dem Jahr 1961 in Cambridge. (Der ur sprüngliche Essay 'Proofs and Refutations' war eine sehr erweiterte und verbesserte Fassung von Kapitell seiner Doktorarbeit.) Ein Teil von Kapitel 3 dieser Doktorarbeit wurde hier zum Anhang 1, der eine weitere Fallstudie nach der Methode "Beweise und Widerlegungen" enthält. Er befaßt sich mit Cauchys Beweis des Satzes, daß der Grenz wert jeder konvergenten Reihe stetiger Funktionen selbst stetig ist. Kapitel 2 des Haupt textes und Anhang 1 sollten die Zweifel zerstreuen, die oft jene Mathematiker äußerten, die 'Proofs and Refutations' gelesen hatten, nämlich daß die von Lakatos beschriebene Methode der Beweisanalyse zwar beim Studium der Polyeder anwendbar sein mag - ein Thema, das ,fast empirisch' ist und bei dem die Gegenbeispiele leicht anschaulich zu machen sind -, jedoch auf die ,wirkliche' Mathematik nicht anwendbar ist. Der dritte zusätzliche Beitrag (Anhang 2) beruht ebenfalls auf einem Teil von Kapitel 3 von Lakatos' Doktorarbeit. Er handelt von den Folgerungen, die sich aus seinem Stand punkt für die Entwicklung, die Darstellung und den Unterricht von Mathematik erge ben. Einer der Gründe, aus denen Lakatos die Veröffentlichung zurückhielt, war seine Einsicht, daß einige seiner weiteren Ergänzungen zwar viele neue Erkenntnisse und Weiterentwicklungen seines Standpunktes enthielten, aber auch weiterer Überlegung und weiterer geschichtlicher Forschung bedürften. Dies gilt insbesondere für den Stoff zu Cauchy und Fourier (in Anhang 1). Auch wir wissen um gewisse Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten in diesem Stoff und von gewissen Auslassungen. Wir glaubten jedoch, daß wir den Gehalt von Lakatos' Text nicht verändern sollten. Denn keiner von uns war in der Lage, die erforderliche langwierige und eingehende geschichtliche For- V schung zu betreiben, die für eine Ausarbeitung und Ergänzung des Stoffes nötig ist. Vor die Alternative gestellt, entweder gar nichts oder nur Unfertiges zu veröffentlichen, entschieden wir uns für letzteres. Wir glauben, daß der Text vieles Interessante enthält und daß er andere Forscher dazu anregt, ihn zu erweitern und falls erforderlich zu be richtigen. Im allgemeinen hielten wir es nicht für richtig, den Gehalt von Lakatos' Text ab zuändern, auch nicht in jenen Teilen, bei denen wir überzeugt waren, daß Lakatos seinen Standpunkt geändert hat. Wir haben uns deswegen darauf beschränkt, (in mit einem Stern gekennzeichneten Fußnoten) einige jener Dinge herauszustellen, bei denen wir versucht hätten, Lakatos zu einer Änderung zu bewegen und (was meist auf das gleiche hinausläuft) einige jener Punkte, bei denen wir glauben, daß Lakatos sie bei einer Veröf fentlichung zum jetzigen Zeitpunkt geändert hätte. (Sein intellektueller Standpunkt hatte sich natürlich während der dreizehn Jahre zwischen der Beendigung seiner Doktor arbeit und seinem Tod beträchtlich gewandelt. Die bedeutenden Wandlungen in seiner all gemeinen Philosophie sind in seinem [197011974J erläutert. Wir sollten noch erwähnen, daß Lakatos glaubte, seine Methodenlehre der wissenschaftlichen Forschungsprogramme habe entscheidende Auswirkungen auf seine Philosophie der Mathematik.) Bei der Darstellungsweise entschieden wir uns dafür, den Stoff, den Lakatos selbst veröffentlicht hatte (d.h. Kapitell des Haupttextes), fast vollständig unverändert zu las sen (die einzigen Ausnahmen sind wenige Druckfehler und unzweifelhafte kleine Ver sehen). Den bislang unveröffentlichten Stoff haben wir jedoch ziemlich wesentlich ab gewandelt - allerdings, um es zu wiederholen, nur in der Form und nicht im Gehalt. Da dies als eine ziemlich unübliche Vorgehensweise erscheinen könnte, sind vielleicht noch ein paar Worte zu unserer Rechtfertigung am Platz. Lakatos verwendete stets außerordentliche Sorgfalt auf die Darstellung seines zu veröffentlichenden Stoffes, und vor der Veröffentlichung ließ er diesen Stoff ausgiebig unter Kollegen und Freunden zirkulieren, um Kritik und Verbesserungsvorschläge zu er halten. Wir sind sicher, daß der hier erstmalig veröffentlichte Stoff derselben Behandlung unterworfen worden wäre und daß die Veränderungen drastischer ausgefallen wären als bei uns. Unsere (durch persönliche Erfahrung gewonnene Kenntnis) von der Mühe, die sich Lakatos damit gab, seinen Standpunkt so klar wie möglich darzustellen, verpflichte te uns zu dem Versuch, die Darstellung dieses Stoffes so weit zu verbessern, wie wir nur konnten. Gewiß sind diese neuen Beiträge nicht so wohlformuliert, wie sie es gewesen wären, wenn Lakatos selbst den Stoff, auf dem sie beruhen, überarbeitet hätte, aber wir glauben, daß wir Lakatos nahe genug standen und an einigen seiner früheren Veröffent lichungen genügend mitbeteiligt waren, uni einen vernünftigen Versuch wagen zu können, den Stoff in eine Form zu bringen, die in etwa seinen eigenen strengen Maßstäben ge nügt. Wir sind sehr erfreut, daß wir die Gelegenheit hatten, diese Ausgabe mit einem Teil von Lakatos' wichtigem Werk in der Philosophie der Mathematik herauszubringen, weil wir so in der Lage sind, ihm gegenüber einen Teil der intellektuellen und persön lichen Schuld abzutragen. John Worrall Elie Zahar VI Dank Der Stoff, auf dem dieses Buch beruht, hat eine lange und abwechslungsreiche Ge schichte hinter sich, wie wir bereits in unserem Vorwort angedeutet haben. Nach dem Dank, den Lakatos seinem ursprünglichen Essay von 1963-4 (hier als Kapitell wieder abgedruckt) beifügte, begann er diese Arbeit in den Jahren 1958-9 am King's College in Cambridge und trug sie erstmals im März 1959 in Karl Poppers Seminar an der London School of Economics vor. Eine andere Fassung schloß er in seine Doktorarbeit in Cam bridge im Jahre 1961 ein, auf der auch der übrige Teil dieses Buch~s beruht. Die Doktor arbeit wurde von Professor R. B. Braithwaite betreut. In diesem Zusammenhang bedankte sich Lakatos für finanzielle Unterstützung der RockefeIler Stiftung und dafür, daß er ,viel fältige Hilfe, Ermutigung und wertvolle Kritik von Dr. T. J. Smiley erhielt'. Der Schluß von Lakatos' Dankesworten lautet: "Bei der Vorbereitung dieser letzten Fassung an der London School of Economics versuchte der Verfasser, besonders der Kritik und den Vorschlägen von Dr. J. Agassi, Dr. I. Hacking, der Professoren W. C. Kneale und R. Montague, A. Musgrave, Professor M. Polanyi und J. W. N. Watkins Rechnung zu tragen. Die Behandlung der Methode der Ausnahmensperre wurde durch die Anregungen und die kritischen Bemerkungen der Professoren G. P6lya und B. L. van der Waer den verbessert. Die Unterscheidung zwischen den Methoden Monstersperre und Monsteranpassung wurde von B. MacLennan vorgeschlagen. Diese Arbeit sollte vor dem Hintergrund von P6lyas Neubelebung der mathe matischen Heuristik und Poppers kritischer Philosophie gesehen werden." Bei der Vorbereitung dieses Buches wurden die Herausgeber unterstützt von J ohn Bell, Mike Hallett, Moshe Machover und Jerry Ravetz, die allesamt freundlicherweise Entwürfe von Kapitel 2 und den Anhängen lasen und hilfreiche Kritik beisteuerten. Wir möchten uns auch noch bei Sandra D. Mitchell und besonders bei Gregory Currie bedanken, die unsere Überarbeitung von Lakatos' Stoff sorgfältig kritisierten. J.W. E.Z. VII Einleitung des Verfassers In der Geistesgeschichte geschieht es häufig, daß beim Erscheinen einer neuen mächtigen Methode das Studium jener Probleme rasch voranschreitet und in den Brenn punkt des Interesses rückt, die mit der neuen Methode behandelt werden können, wäh rend der Rest Gefahr läuft, nicht beachtet oder sogar vergessen zu werden, und sein Stu dium der Verachtung anheimfällt. In diese Lage scheint die Philosophie der Mathematik in unserem Jahrhundert als Ergebnis der dynamischen Entwicklung der Metamathematik geraten zu sein. Der Hauptgegenstand der Metamathematik ist eine Abstraktion von Mathematik, in der mathematische Theorien durch formale Systeme ersetzt werden, Beweise als ge wisse korrekt gebildete Zeichenreihen verstanden werden und Definitionen als ,Kürzel', die ,theoretisch entbehrlich', jedoch ,typographisch üblich,l sind. Diese Abstraktion war von Hilbert ersonnen worden und sollte eine machtvolle Technik für die Behandlung einiger Probleme aus der Methodologie der Mathematik liefern. Gleichzeitig gibt es Probleme, die aus dem Bereich der metamathematischen Probleme herausfallen. Dazu gehören sämtliche Probleme, die sich auf die inhaltliche Mathematik und ihren Fort schritt beziehen, und sämtliche Probleme, die sich auf die Situationslogik des mathe matischen Problemlösens beziehen. Ich werde jene Schule der mathematischen Philosophie, welche dazu neigt, die Mathematik mit ihrer metamathematischen Abstraktion zu identifizieren (und die Philo sophie der Mathematik mit Metamathematik), die Schule der ,Formalisten' nennen. Eine der klarsten Darstellungen der formalistischen Position kann man beiCarnap [1937]2 finden. Carnap verlangt (a) ,Philosophie wird durch Wissenschaftslogik ... ersetzt', (b) Wis senschaftslogik ist nichts anderes als logische Syntax der Wissenschaftssprache' , (c) ,die Metamathematik ist ... die Syntax der mathematischen Sprache' (S. iii-iv und 9). Oder: Die Philosophie der Mathematik muß durch die Metamathematik ersetzt werden. Der Formalismus trennt die Geschichte der Mathematik von der Philosophie der Mathematik, denn nach der formalistischen Vorstellung von der Mathematik hat die Mathematik keine eigene Geschichte. Jeder Formalist würde grundsätzlich jener zwar ,romantisch' formulierten aber ernst gemeinten Bemerkung Russells zustimmen, nach der Booles Laws o[ Tbougbt (1854) ,das erste Buch war, das jemals über die Mathematik 1 Church [19561 I, S. 76-77. Vgl. auch Peano [18941, S. 49 und Whitehead-Russell 11910-131, S. 12. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des Euklidischen Programms, wie es von Pascal [1657-581 formuliert wurde: vgl. Lakatos [1962 I, S. 158. 2 Für nähere Einzelheiten und ähnliche Verweise beachte das arn Ende dieses Artikels aufgeführte Uteraturverzeichnis. VIII geschrieben wurde,3. Der Formalismus spricht dem größten Teil dessen, was gewöhnlich unter Mathematik verstanden wurde, den Rang der Mathematik ab, und er kann nichts über den Fortschritt der Mathematik aussagen. Keine einzige der ,schöpferischen' Perio den und kaum eine der ,kritischen' Perioden der mathematischen Theorien würden Auf nahme in den formalistischen Himmel finden, wo die mathematischen Theorien wie die Seraphim wohnen, geläutert von allen Unreinheiten irdischer Unzulänglichkeit. Dennoch halten die Formalisten gewöhnlich ein enges Hintertürchen für gefallene Engel offen: wenn es sich herausstellt, daß wir in der Lage sind, für ,ein Gemisch aus Mathematik und irgendetwas anderem' formale Systeme zu finden, ,die es in einem gewissen Sinn enthalten', dann können sie ebenfalls zugelassen werden (Curry [1951], S.56-57). Auf solche Begriffe mußte Newton vier Jahrhunderte warten, bis ihm schließlich Peano, Russell und Quine in den Himmel halfen, indem sie die Analysis formalisierten. Dirac hatte mehr Glück: Schwartz rettete seine Seele noch zu seinen Lebzeiten. Vielleicht sollteri wir hier die paradoxe Lage des Metamathematikers erwähnen: nach formalisti schen oder gar deduktivistischen Normen ist er kein ehrlicher Mathematiker. Dieudonne spricht von ,der absoluten Notwendigkeit, der jeder Mathematiker unterworfen ist, der sich um intellektuelle Redlichkeit sorgt' [Hervorhebung von Lakatos], seine Überlegun gen in axiomatischer Form darzustellen ([1939], S. 225). Bei der gegenwärtigen Vorherrschaft des Formalismus ist man versucht, Kant abzuwandeln: die Geschichte der Mathematik, die der Führung durch die Philosophie mangelt, ist blind geworden, während die Philosophie der Mathematik, die den fesselnd sten Erscheinungen in der Geschichte der Mathematik den Rücken zuwendet, leer ge worden ist. ,Formalismus' ist ein Bollwerk der Philosophie des logischen Positivismus. Nach Ansicht des logischen Positivismus ist eine Darstellung nur dann sinnvoll, wenn sie ,tau tologisch' oder empirisch ist. Da aber inhaltliche Mathematik weder ,tautologisch' noch empirisch ist, muß sie sinnlos sein, blanker Unsinn.4 Die Dogmen des logischen Positivis mus sind schädlich für die Geschichte und die Philosophie der Mathematik gewesen. Die Absicht dieser Essays ist es, einigen Problemen der Methodologie der Mathe matik näherzukommen. Ich gebrauche das Wort ,Methodologie' in einem Sinn, der mit 3 B. Russel [1901]. Der Essay wurde wiederabgedruckt als Kapitel V von Russells [l9lS] unter dem Titel ,Mathematics and the Metaphysicians'. In der Ausgabe Penguin Edition 1953 findet man das Zitat auf S.74. Im Vorwort von [1918] sagt Russell über den Essay: ,Sein Stil wird teilweise durch die Tatsache erklärt, daß der Herausgeber mich bat, den Artikel "so romantisch wie möglich" zu machen.' 4 Nach Turquerte sind Gödelsehe Sätze sinnlos ([1950], S. 129). Turquette greift Copi an, welcher behauptet, daß sie, da sie apriorische Wahrheiten seien und keine analytischen, die analytische Theorie des Apriori widerlegen ([1949] und [1950]). Keiner von beiden bemerkt jedoch, daß die besondere Bedeutung der Gödelschen Sätze unter diesem Gesichtpunkt darin besteht, daß diese Sätze Sätze der inhaltlichen Mathematik sind und daß sie eigentlich die Bedeutung der in haltlichen Mathematik in einem besonderen Fall untersuchen. Desgleichen übersehen beide, daß die Sätze der inhaltlichen Mathematik sicherlich Vermutungen sind, die man kaum nach dogma tischer Art als ,a priori'-und ,a posteriori'-Vermutungen einordnen kann. IX

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