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Bewegen und Heilen: Sport bei Angst und Depression Angststörungen und Depression als ... PDF

14 Pages·2010·0.07 MB·German
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Bewegen und Heilen: Sport bei Angst und Depression Begleitmanuskript zum Vortrag vonDr. Dr. med. Herbert Mück, Facharzt für Psychosomati- sche Medizin & Psychotherapie – Sportmedizin/Ernährungsmedizin (Köln), am 06.11.2010 auf dem 5. internationalen Hamburger Sport-Kongress Einleitung und Ausblick Jeder Mensch durchläuft mitunter allein schon im Verlauf eines einzigenTageskürzerePha- sen, in denen er sichverunsichert odergar ängstlichfühlt oder er „schlecht drauf ist“. Diese normalen„Befindlichkeitsschwankungen“gebensich meist von selbst, lassen sich aber auch gezielt beeinflussen: etwa durchPausieren, Entspannen, Musikhörenoder auchdurchBe- wegung (wie Spazierengehen, Joggen, Fahrradfahren usw.). Auchwenn umgangssprachlich in solchem Zusammenhang häufig dieRede ist von „Ich habemal wieder meine Depri“, „meinen üblichen Durchhänger“ oder „meineTage“, stellen derartigeBefindlichkeitsschwan- kungenkeine„Angststörungen“ oder „Depression“ im medizinischen Sinne dar. Letztere – und nur um solche soll es imWeiterengehen–setzen voraus, dass ein Minimum anKrite- rien erfüllt ist. Der folgendeBeitrag will - kurzdie wichtigstendiagnostischen Kriterien beider Krankheiten aufzeigenund ver- deutlichen, dass„Angststörungen“ und„Depression“ wissenschaftliche Konstrukte sind - vor einem blinden „Bekämpfen“ von Symptomenwarnen - unserenWissenstandzu der Fragezusammenfassen, was wir über denEinfluss von Bewegung undSport auf Angststörungenund Depressionen wissen - verdeutlichen, warum esmethodischextrem schwierig ist, hierzu eindeutige Erkennt- nisse zu gewinnen - erläutern, welche Theorien derzeit über denvermutetenEinfluss von Bewegung und Sport auf Angststörungen und Depressionen diskutiert werden - kurzder Frage nachgehen, obSport selbst Angst undDepression auslösenkann - die Schwierigkeitenaufzeigen, Menschen mit Angststörungenoder Depressionen zum Sporttreiben zu bewegenund entsprechendeLösungsmöglichkeitenandeuten - einige EmpfehlungenfürPraxis formulieren Angststörungen und Depression als wissenschaftliche Konstrukte Angststörungen undDepressionen liegt kein eindeutiger, weil greifbarer Sachverhalt zugrun- de (wie es etwa der Fall ist bei einer Hautwarze, einem Gliedmaßenverlust, einer sichtbaren Schwellung oder einer Erblindung). Unsere heuteverbindlichen Definitionenfür beide Krank- heitsphänomenesind noch vergleichsweise jung.Sie stützen sichauf die beiden weltweit wichtigsten Klassifikationssysteme: ICD9(1976,heuteICD 10) und DSMIII (1980, heute DSMIV). Sie haben andere Begriffeabgelöst, diein den 70er Jahrendes letzten Jahrhun- dertsnoch im Gebrauchwaren (z.B. „endogene Depression“ oder „reaktive Depression“). Zu einem kritischen Umgang mit beiden Konstruktenermahnen auchinterkulturelle Vergleiche, die zeigen, dassman z.B. in Japanmit dem, was wir als Depression bezeichnen, bis vor nicht allzu langer Zeit weitaus wertschätzender umging („Charakter stärkende Erfahrung“), als es bei unsder Fall ist („auszurottendeSinnlosigkeit“). Angststörungenund Depressionen beinhalten jeweils eine durchaus beliebig anmutende Sammlung bzw. Zusammenfassung („Cluster“) unterschiedlicher Symptome, von denen sie relativviele gemeinsam haben(wie Konzentrationsstörungen, Schwierigkeitensich zu entspannen, Unruhe, Schlafstörungen, Verspannungen, sozialer Rückzug). Mitunterkanndaher die Zuordnung schwer fallen(wobei die endgültigeDiagnosewahl immer auchstark durchWissen undInteressen des Diagnosti- zierenden beeinflusst ist) oder zu einer Doppeldiagnoseführen. Besonders deutlich ist der 1 Konstruktcharakter im Fall der „depressiven Episode“, bei der sich diegenaue Diagnose durch ein AddierenvonSymptomen ergibt. Soist z.B.für eine„leichte depressive Episode“ eines von drei vorgegebenen Hauptsymptomenund zusätzlich mindestens zwei von sieben vorgegebenen Zusatzsymptomen erforderlich. Im englischsprachigen Sprachraum ist nicht die Rede von „depressiver Episode“, sondernvon „Major Depression“, deren Kriterien in ei- nem eigenen Diagnostikmanual aufgeführt sind (heute DSMIV, DSMV ist in Vorbereitung). Die Major Depression ist etwas anders„konstruiert“ als die„depressive Episode“ undkennt auch andereUnterformen. Internationale Studienzur Depression sind daher nicht immer vergleichbar! Nicht nur für denLaien wird die Situation nicht zuletzt oft dadurch unübersicht- lich, als mitunter fast synonym für Depression oder Angststörungen auchdie Begriffe„Bur- nout“ oder „Stressbelastung“ verwendet werden. Letztere sindjedochkeine offiziell aner- kannten Diagnosen. DasBurnout-Syndrom lässtsich allerdingsin medizinische Dokumenta- tionen als Z-Kriterium (Z73.0) aufnehmen(Faktoren, die denGesundheitszustand beeinflus- sen und zur Inanspruchnahme desGesundheitswesensführen). Grundlagenwissen zu Angststörungen Von den sog. Angststörungenist die„normale Angst“ abzugrenzen. Letztere ist ein wichtiges Gefühl, dasmanähnlichwie Überraschung, Ekel,Traurigkeit, Freude undZorn weltweit in allen Kulturenfindet. Angst signalisiert dem Betroffenen, dass er vor einer Herausforderung steht oder eine solcheerwartet, dieseine dazu vorhandenen Bewältigungsmöglichkeitenzu überforderndrohen. ImErgebnisscheinen ihm deshalb ein erhebliches Missbefinden oder gar mögliche Schmerzen bevorzustehen. Ein solches „Symptom“ (=Warnhinweis) zu „be- kämpfen“,macht wenig Sinn, wenn der Hinweis sinnvoll ist und zu passendem Verhalten motiviert. Zum Problem oder gar zur „Angststörung“ wird Angst erst dann, wenn sie grundlos auftritt (alsowie bei einer defektenWarnsirene ständige Fehlalarme auslöst) oder der „Alarm“ im Verhältniszur gemeldeten„Gefahr“ völlig unverhältnismäßig ist (z.B. Spinnen- phobie, Fahrstuhlphobie). Angst nimmt in der Regel graduell zu, wobei ein mittleres Angstni- veau sogar leistungssteigernd seinkann(„Die Angst desTorwartsvor dem Elfmeter“) und erst starkeÄngstedie Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Unter behandlungsbedürftigen Angststörungen leiden inDeutschland im Lauf eines Jahres ca. 14Prozent der Bevölkerung (doppelt soviele Frauenwie Männer). Diese Angststörungen werdenjedoch häufig nicht als solche erkannt, dasich die typischen Angstsymptome(wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Muskelverspannungen, Rücken- undNackenschmerzen, Oberbauchbeschwer- den usw.) auchanderenKrankheitsbildern zuordnen lassen unddann bevorzugt unter deren Etikett behandelt werden. Die bedeutsamstenAngststörungensind die Phobien, die Panik- störung und diegeneralisierte Angststörung. Auch Anpassungsstörungen, die posttraumati- sche Belastungsstörung und somatoforme Störungen(einschließlich Hypochondrie) haben viele Symptomemit denAngststörungengemeinsam. Angstbetroffenehaben dieTendenz, angstbehafteteSituationen zu vermeiden, was jenach Art undAusmaßder Angststörung mit zunehmendem Bewegungsmangel undabnehmender Fitness verbundenseinkann. Ähnlich wie bei Depressionen neigen auchviele Angstbetroffene dazu, dienoch immer teilweise stigmatisierende Diagnose durchfür sie oder dieGesellschaft „akzeptablere“ Bezeichnungen zu ersetzen wie „Stress“ oder „Burnout“. Grundlagenwissen zu Depressionen Depressionengeltenmittlerweile als Volkskrankheit, deren Bedeutung (leider) weiter zu- nimmt unddiekünftig weltweit nach den Herzkrankheitenam häufigstenfür Leidenstagever- antwortlich zeichnen wird. Im Laufeeines Jahressind davon ca. 10,9Prozent der Bevölke- rung betroffen(doppelt so viele Frauen wie Männer). Ähnlich wie bei denAngststörungen werden auch Depressionen noch immer zu seltenals solche erkannt, weil die Einzelsym- ptomebevorzugt organischen Erkrankungenzugeordnet werden. Man unterscheidet die „de- pressive Episode“ (beider ein Minimum anSymptomenfür die Dauer vonmindestenszwei Wochen vorliegenmuss) von der Dysthymie. Bei letzterer sind die Symptome nicht stark 2 genug, um dieDiagnoseeiner „depressiven Episode“ zu rechtfertigen. Dafür dauert diese „depressive Verfassung“mindestenszwei Jahre an und wechseln Phasenstärkerer Beein- trächtigungmit Phasengeringerer Beeinträchtigung ab. Sehr oft liegenbeide Variantende- pressiver Störungengleichzeitig vor, so dassman dann von einer „doubledepression“ spricht. Auf weitere Varianten depressiver Störungenwird hier nicht weiter eingegangen(wie insbesondere die bipolaren Störung oder die„depressive Episode mit psychotischen Sym- ptomen“). Depressive Episodenkönnen organischen Erkrankungen vorausgehenoder ihnen folgen, was in der Regeldazu führt, dass die betreffendeorganischeErkrankung schwerer verläuft.Währendman bei erstmaligendepressiven Episoden oft noch„Auslöser“ erkennen kann, ist dies bei wiederkehrenden neuenPhasen immer schwieriger nachzuvollziehen (die Erkrankung scheint „gebahnt“ bzw. die betreffende Person„sensibilisiert“zu sein).Wenn die Depression einen erkennbaren Auslöser hat, macht esSinn, dieBehandlung ursächlich am Auslöser anzusetzen und nicht nur dieDepression zu „bekämpfen“. Bei wiederkehrenden Depressionen ist derenmöglicher Sinn dagegenoftkaum nochzu erkennen. Der tatsächli- che Effekt von Behandlungsmaßnahmen ist bei Depressionen deswegenschwer zu beurtei- len, da esvor allem anfänglich zu einer hohenRate von Spontanerholungenkommt. So ha- ben sich schonnacheinem Vierteljahr über 50Prozent der Betroffenenwieder erholt (aller- dingskann dies bereitsein sehr belastendesVierteljahr gewesen sein!). Einfluss von Sport und Bewegung auf Angststörungen Da Sport und Bewegung in unserenMedien mittlerweile fast vorbehaltloszur Behandlung vieler Volkskrankheitenempfohlen werden, besteht die Vorerwartung, dass dies auchfür seelische Erkrankungengilt. Sehr viele Studien scheinen dem auch Recht zu geben, wobei die Studienlage zur Depression besondersgut und auf jedenFall besser als zu den Angst- störungenist. Daher existieren in neuerer Zeit in „Leitlinien“ und Expertenbewertungen (CochraneCollaboration) auchschonoffizielle Stellungnahmenzum Einfluss von Sport und Bewegung auf Depressionen, während solche„unabhängigen“ Aussagenfür die Angststö- rungen vorerst nochfehlen (eine Bewertung durch die CochraneCollaboration ist jedoch bereits offiziell angekündigt!). In neuerer Zeit (2008) kommt eine Metaanalyse vonWipfli und Kollegen zu der Feststellung, dassBewegung Angst deutlich besser verringernkann(Effekt- größe: -0,48) als andereMaßnahmen zur Angstreduktion (Effektgröße: -0,19). Da die Auto- ren sichauf 49 Studien stützen, diedurchweg randomisiert undkontrolliert waren, glauben sie, eine Empfehlung zur Behandlung von Angststörungen durch Sport von hoher Evidenz aussprechenzu können(Level 1, GradeA). Grundsätzlich lässt sich ansonstenfeststellen, dass Sport undBewegung sog. Zustandsangst („State Anxiety“) schon durch eine einzige Trainingseinheit lindernkönnen. Dagegenbedarf esfür eine bedeutsameBesserung von veranlagungsbedingter Ängstlichkeit (Trait Anxiety) intensiveren undlängerenTrainings. Ei- ne Metaanalyse von Petruzello und Kollegen(1991) kam zu der Feststellung, dasseine ein- zelne Trainingseinheit mindestens 21Minuten betragen unddieGesamtbehandlung mindes- tens 10Wochen dauernsollte, um signifikante Effekte auf „Trait Anxiety“ registrierenzu kön- nen. Dass sich auchAngststörungenmit HilfeeinesgeeignetenBewegungsprogramms bessern lassen, unterstreicht beispielhaft eine oft zitierte und in Deutschlanddurchgeführte Studie von Broocks undKollegen (1998). Inihr erhielten46 Patienten, die unter einer Panikstörung (mit oder ohne Agoraphobie) litten, eine 10-wöchigeBehandlung in Formeines Lauftrainings. Dabei mussten dieTeilnehmer jenachUntergruppe mindestens dreimal proWoche 4Meilen laufen, täglich dasMedikament Clomipramin (anfänglich 37,5mg, später112,5mg) oder Placebo einnehmen. Im Vergleich zu der Placebogruppe sank in denbeiden anderenGrup- pen das Ausmaßder Angst (beurteilt anhandderHamilton AnxietyScale) signifikant und ähnlich stark. DasLaufprogramm schien also einer medikamentösen Behandlung gleichwer- tig zu sein. Anhanddieser Studielassen sichzugleich typische methodische Schwierigkeiten aufzeigen, dieeine vorsichtigeInterpretation der Ergebnissesolcher Studiengebieten. Fol- gendeEinwände sind beispielsweise denkbar: 1. Panik-Patienten(besondersmit Agorapho- bie) scheuendavon zurück, sichkörperlich zu belasten unddafür sogar noch ihresichere 3 Wohnung zu verlassen.Die Durchführung einer „Exposition“ (Joggen im Freien) istmögli- cherweise hilfreicher alsdie Bewegung selbst. 2. Die Läuferkonntenauchin Begleitung lau- fen. Einmal proWoche liefen sogar alle Läufergemeinsam, sodass„soziale Effekte“ eben- falls Angst lindernd wirksam werdenkonnten. 3.Die Betreuer wusstenteilweise, welche Pa- tienten welche „Behandlung“ erhielten und warendaher nicht neutral. 4. Die Läuferführten ein Trainingstagebuch(mögliche zusätzliche Motivation). 5. Bei denLäufern undden Place- bo-Patientenwar die Aussteiger-Quote hoch(31bzw. 27 Prozent), währendkein Clomipra- min-Anwender die Studie abbrach. Dass es durchausüberzeugendeHinweise für Einflüsse von Bewegung auf die Angstentste- hung im Organismusgibt, soll eine Untersuchungvon Ströhle und Mitarbeitern(2005) auf- zeigen. Darin erhielten 15 GesundeeinmalnachAusruhen undeinmal nach vorheriger 30- minütiger Laufbandbelastung eine Substanz, diePanik auslöst (CCK-4= CystokinTetrapep- tid). Ergebnis: Nach Ausruhen rief CCK-4 bei 12Teilnehmern, nach vorherigem Laufen aber nur nochbei 6Teilnehmern Panik hervor. Dasvorherige Laufen schien den Organismus„pa- nikresistenter“gemachtzu haben. Medizinisch relevant und bedeutsam erscheinennicht zuletzt die Ergebnisse einer neuen Studie (Herring u. Mitarbeiter 2010). Dabei handelt essich um eine„Metaanalyse“ von 40 Studien zur Anwendung von Bewegung bei chronisch Kranken. Bewegung wurde entweder als Haupt- oder als Zusatzintervention angewendet. Ergebnis: Mit einer durchschnittlichen Effektstärkevon 0,29(„mittlerer Effekt“) erscheint Bewegung alswirksame Behandlungs- maßnahmezur Angstlinderung. Die deutlichsteWirkung war zu beobachten bei bis zu 12- wöchigem Training, mindestens 30Minuten Trainingszeit undeiner Beurteilung nachAblauf von mindestens einerWoche. Zusammenfassendlässtsich vorläufigfeststellen: Bewegung erzielt nebeneinem zweifels- freien„akuten“ Angst lösenden Effekt offenbar auch längerfristige Angst verringerndeEffek- te, wenn sie beigeeigneten KrankheitsbildernalsZusatzmaßnahmeeingesetzt wird. Inwie- weit Bewegung auchalsHauptintervention bei Angststörungenangewendet werdenkann, ist vorerst noch offen. BesondersgeeigneteSportarten lassen sichnoch nicht benennen. Fest steht auf jeden Fall, dassSporttreibendedurchweg weniger ängstlich unddepressivsind als sportlich inaktive Menschen (Moor u. a. 2006). Dabei ist unklar, obSporttreiben wirklich see- lisch gesundhält oder obnicht vielmehr seelische Gesundheit dieGrundlagedafür ist, Sport- treiben zu wollen und zu können. Auchist denkbar, dass Sporttreibenundseelische Ge- sundheit inkeinerleiWechselwirkung stehen, sondern dassnochunbekannte Faktorendafür sorgen, dassmanseelischgesund ist undaußerdem auchnochSport treibt. Auf dieseMög- lichkeit weist eine niederländische Studie hin(DeMoor u. a. 2008) Einfluss von Sport und Bewegung auf Depressionen Anders als beiden Angststörungengibt es neuerdings zur Frage, obmanBewegung bei Depressionen einsetzensoll, bereitsmehrere offizielle Empfehlungen. Soheißt es inder im Dezember 2009 veröffentlichen S3-Leitlinie / Nationale Versorgungsleitlinie zur Unipolaren Depression „Körperliches Training kannausklinischer Erfahrung herausempfohlenwerden, um dasWohlbefinden zu steigernunddepressiveSymptome zu lindern.“( S. 143) Diese Empfehlung hat denRang eines KKP (= Klinischen Konsenspunktes). Ähnlich heißt esin den im Oktober 2010 von der American Psychiatric Association(APA) veröffentlichten Prac- ticeGuidelinesfor theTreatment of Patientswith Major Depressive Disorder (Third Edition): „Data generally supportat least amodest improvement inmood symptoms for patientswith major depressivedisorder who engagein aerobic exercise or resistancetraining. Regular exercisemayalso reduce theprevalenceof depressive symptomsin thegeneral population, withspecific benefit found in older adults andindividuals withco-occuringmedical problems.“ (S. 27). Die von der APA angesprocheneDatenlagewurde ebenfalls 2010von der Cochrane Collaboration analysiert, wobei sich dieWissenschaftler auf ein Ausgangsmaterial von mitt- lerweile schon 144 einschlägigenVeröffentlichungenstützenkonnten. Ausreichenden wis- 4 senschaftlichen Kriterien entsprachendavon 23Untersuchungen(mit 903Teilnehmern). Fasst mandiese zusammen, errechnet sich einedeutlicheklinischeWirkung des Sporttrei- bens (SMD = -0.82) auf Depressionen. Beschränkt mansich allerdings auf die verbleibenden 3 wissenschaftlich hochanspruchsvollen Studien (216Teilnehmer) findet sich nur noch ein mäßiger Effekt (SMD = -0.42).WeitereTeilauswertungender CochraneCollaboration erga- ben: 1. Sport wirkt bei Depressionen vergleichbar gut wie kognitive Verhaltenstherapie(6 Studien, 152Teilnehmer). 2. Sport wirkt vergleichbar wie Antidepressiva (2 Studien, 201 Teilnehmer). 3. Der Effekt aeroben Sporttreibensauf Depressionen ist mäßig, aber wahr- scheinlicher. Der Effekt von Krafttraining auf Depressionen erscheint stark, dafür aber weni- ger gesichert. 4. Vier von acht Studiensprechenfür einen Zusammenhang von Fitnessgrad und Depressivität. Im Folgendensollen beispielhaft dreitypische Studienkurzskizziert und kommentiert werden. Die möglicherweise bekanntesteStudiestammt von Blumenthal undMitarbeitern(1999). An ihr beteiligten sich156 Patienten im Alter von 50bis 77 Jahrenmit einer „Major Depression“ (Durchschnitt: 57Jahre). DieTeilnehmer erhielten eine 16-wöchige Behandlung mit entwe- der nur Lauftraining (3mal wöchentlich 45 Minuten, davon 10 MinutenWarm up, 5 Minuten Cool down), nur täglich bis zu 200 mg Sertralin (durchschnittlich 100mg) oder eine Kombina- tion aus beidem. Unter diesem Vorgehen verbessertesich der Depressionsscoreder Patien- ten(Selbstbeurteilung nach BDI) in diesem Zeitraum in allen drei Behandlungsgruppen ein- drucksvoll und durchweg um mehr alsdie Hälfte. Kritisch lässt sichjedochzur Methodik ein- wenden: 1. Da eskeinePlacebo-Kontrollgruppegab, bleibt unklar inwelchem Ausmaß auch eine von den BehandlungenunabhängigeSpontanerholung eine Rolle spielte. 2. Eshandel- te sichdurchweg um sehr zum SporttreibenmotiviertePatienten. 3. Daessich um einGrup- pentraining handelte, könnten auchsoziale Effekte wesentlich zur Besserung beigetragen haben. Interessant ist auchdieFortführung dieser Studie durchdiegleiche Forschergruppe(Babyak u. a. 2000). Allen Studienteilnehmern, die im erstenTeil „depressionsfrei“ geworden waren, wurden eingeladen, nach eigenenBedürfnissendie Behandlung fortzusetzen und ggf. die Behandlungsmethodezu wechseln. Sechs Monate später zeigte sich, dass in der weiterhin Sport treibendenGruppemit Abstanddiegeringste Rückfallquotezu verzeichnen war. Von den Sporttreibendenwechselten auchdie wenigsten Personen(nur 7Prozent) zu einer an- deren Behandlungsvariante. Regelmäßiges aerobes Sporttreiben war (unabhängig von einer Medikamenteneinnahme) hochsignifikant (p< 0.0009) mit geringerer Depressivität verbun- den. Zusätzliches Sporttreiben (auch außerhalb von Gruppen!) verringertedas Risiko, erneut depressivzu werden (beurteilt anhandderOddsRatio), pro50 Minuten jeweils um 50Pro- zent. Da in der Folgestudie ein großerTeil des Sporttreibens außerhalb von Gruppen statt- fand,konntenhier soziale Effektekeine sogroßen Beitrag mehr leisten. Die Tatsache, dass Sporttreiben alsTeil einer Kombinationstherapiekeinen vergleichbaren prophylaktischen Effekt entfaltete, erklärensich die Studienautorendamit, dassdie betreffenden Patientenden Behandlungserfolg nichtausschließlich ihrer eigenen Leistung, sondern auch dem Medika- ment zuschrieben unddaher weniger Selbstvertrauen entwickelnkonnten. Der Frage„Wieviel Sport wirkt antidepressiv?“ gingenDunn undMitarbeiter (2005) in einer Studie an 80Teilnehmern (Alter: 20-45Jahre) nach. Diese litten aneiner leichten bismittel- schweren Major Depressive Disorder. Zwei Gruppen trainierten 12Wochen lang unter Auf- sicht drei- bzw. fünf Mal proWoche auf einem Laufband oder Fahrradergometer, wobei sie je nach Gruppe7,0(LD) bzw. 15,5 (PHD)kcal/kg/W proTraining verbrauchen sollten. Eine dritteGruppe diente alsKontrolle undmachte drei Mal wöchentlich Dehnungsübungen. Der Erfolg wurde anhandder Hamilton Depressionsskala beurteilt. Eszeigtesich, dass der De- pressionswert in allen drei Gruppensank. Aber nur der höhere Kalorienumsatzwirkte im Vergleich zur Kontrollgruppe wie zur Gruppemitniedrigerem Kalorienumsatzstärker antide- pressiv. Die höhere„Sportdosis“ entspricht dem für Gesundheitszwecke empfohlenen öffent- lich empfohlenen wöchentlichen Sportpensum. Bezogen auf diegleicheWochengesamtdosis machteeskeinen Unterschied, ob dieseauf dreioder fünf Trainingseinheiten verteilt wurde. 5 Überwiegend ernüchterndfällt eineweitere Studie von Blumenthal undMitarbeitern(2007) aus, diesmal an 202 depressive Teilnehmern(Durchschnittsalter: 53 Jahre). Diese unterzo- gensich aufgeteilt in vier Gruppen 16Wochen lang entweder einem 45-minütigenTraining (10 Min.Warmup+ 30 Min. Laufband+und5 Min. Cooldown) entweder (a) allein oder (b) in einer Gruppe(supervidiert) oder (c) sie erhielten50-200mg Sertralin bzw. (d) Placebo.Wie die Abbildung zeigt, bessertesich zwar in allen drei Gruppender Depressionsscoreteilweise so weit, dassdie Kriterien einer MDD nicht erfüllt waren (a: 40%, b: 45%, c: 47%, d: 31%). Im Vergleich zur Placebogruppe erzielten die dreianderenGruppenaberkein signifikant besseresErgebnis. Dagegenbessertesich die Belastbarkeit in denbeidenTrainingsgruppen im Vergleich zur Placebogruppe signifikant. Eine Studie von Dimeo und Mitarbeitern(2001) an 12 Patientenmit Major Depression (12-96 Monate) verdeutlicht, wie schnell sich depressive Symptome unter einemBewegungspro- gramm bessernkönnen(10-tägiges 30-minütigesIntervallgehen auf Laufband). Die Interven- tion verringerte hochsignifikant die per Fremdbeurteilung (HAMD) erhobenen Depressions- werte (p= 0,002), entsprechendesgalt auchfür die Selbstbeurteilung (P= 0,006). Außerdem wird die individuelle Streuung hier gut veranschaulicht. Als letzte Interventionsstudie, diesmal zumThemenbereich Kraftsport beiDepression, sei beispielhaft auf eine Untersuchung von Singh und Mitarbeitern(2005) eingegangen. Sie schloss 60 depressiveTeilnehmer im Alter über60 Jahre(60– 85Jahre) ein. Diese wurden randomisiert drei Interventionsformenzugeteilt: (a) einem Krafttraining mit 80% bzw. (b) mit 20 % der jeweiligen Maximalkraft bzw. (c) der üblichen Behandlung beimHausarzt. In den sportlich aktiven Gruppen wurde 8Wochen lang 3 Mal proWochetrainiert (jeweils 1 Stunde Krafttraining + 5Min. Stretching). Es erfolgtenjeweils 3 Setsmit 8Wiederholungenauf ver- schiedenen Geräten. Beiden intensivTrainierenden war die Ratejener deutlicher höher, bei denen sich der HRDS-(Depressions)Score halbierte(61 Prozent) alsbei den leicht Trainie- renden(29 Prozent) oder der Hausarztgruppe(21 Prozent). Zwischen Kraftzuwachs und Rückgang der Depressivität fandsich ein linearerZusammenhang („Dosis-Wirkungs- Beziehung“). Soziale Effekte schienen alsokeinewesentliche Rolle zu spielen. Bei den in- tensivTrainierenden spielte esfür denantidepressiven Erfolg auchkeineRolle, wie stark oder schwach sie von ihrem Training ein positives Ergebnis auf dieDepression erwartet hat- ten. Dagegen war ein solcher „Placebo-Effekt“ inder leicht trainierendenGruppenachzuwei- sen: Jemehr einTeilnehmer einen antidepressiven Effekt erwartet hatte, umso deutlicher fiel dieser auchtrotzdergeringenTraingsbelastung aus. Als erstes Zwischenfazit lässt sichfesthalten: GünstigeEffekte von Bewegung und Depres- sion auf Angsterkrankungenund Depressionen sind nachweislich bislang erst in wissen- schaftlich begleiteten prospektiven Studien zu registrieren. Esist daher nicht auszuschlie- ßen, dassRahmenbedingungendes Sporttreibens wesentlich zu den beobachtbarenEffek- ten beigetragen haben(wie vermehrteAufmerksamkeit, häufigere Kontakte, soziale Impulse, eigene ErwartungenundEinstellungenderTeilnehmer zum Effekt desSporttreibens). Sport- treiben alleine und entgegeneigener Überzeugungenzu betreiben, dürftevermutlich weitaus weniger günstige psychische Effekte erzielen. Auf welche Weise können Bewegung und Sport günstige psychi- sche Effekte erzielen (insbesondere Angst vermindernd und antide- pressiv wirken)? Mittlerweile gibt eseineFülle von Hypothesen zu dieser Frage. Die wichtigsten lauten: 1. Fast jeder Mensch hat die Erfahrung gemacht, dass sichkörperliche Erregung (z.B. vor einer Prüfung, vor einem wichtigenRendezvous oder nacheinem heftigenStreit) durch Bewegung abbauen lässt (beispielsweise durch Auf- und Abgehenvor dem 6 Prüfungsraum,Wippenmit dem Bein, „einmal um denBlock gehen“). Bewegung scheint sichalso auchdazu anzubieten, die mitÄngsten undDepressionen oft ver- bundenen „Erregungen“ zu verringern. 2. Angststörungen undDepressionenführendazu, dass sich dieBetroffeneneher weni- ger alsmehr bewegen.Durch ein zu viel an „Schonung“ verliert der Organismus an Fitness. Diesführt dazu, dass schongeringekörperliche Belastungen denOrganis- mus überfordern. Dadurch werden bestehendeSymptome(Herzrasen, Schwitzen, Erschöpfung, Müdigkeit)verstärkt. Indem mandie Betroffenen dazu motiviert, sich wieder vermehrt zu ertüchtigen, wird nicht nur derTeufelskreis unterbrochen. Die Pa- tientenfühlen sichwieder wohler, schöpfen Hoffnung und sindbesser in der Lage, sich möglichen Problemen zu stellen.Wer durchKrafttraining eigenenKraftzuwachs erlebt undseine Muskelnspürt, hört auf, sich weiterhin „kraftlos“ zufühlen. 3. Menschen mit Depressionen, die sichinnerlich als „leer“ und„sinnlos“ erleben, kann Bewegung zu einem neuen und„sinnvollen Lebensinhalt“ verhelfen. Menschen, die auf ihreÄngstefixiert sind, kannBewegung unterstützen, bislang durchÄngste bean- spruchteGehirnkapazitäten besser zu nutzen. 4. Bei Angstbetroffenen lassen sich Bewegung undSport häufig auchals„verhaltens- therapeutische Konfrontationsübung“ betrachten. Insolchen Fällen sind es nicht dem Sport oder der Bewegung innewohnende Gesundheitsfaktoren, die dem Patienten helfen. Sport und Bewegung stellen unter diesem Gesichtspunkt „Übungsaufgaben“ dar, mit derenHilfe der Patient lernt, Ängste auszuhalten und damit zu überwinden. Ähnlich könnenSport und Bewegung bei Depressionsbetroffenenals Übungsmög- lichkeiten betrachtet werden, ein Muster von Antriebslosigkeit und Passivität zu durchbrechen. Sport undBewegung haben denVorteil, dass bei ihnender Sinn sol- cher Übungenweniger gut in Fragegestellt werdenkann, weil sie durchweg alsge- sunde Verhaltensweisen anerkannt sind. 5. Die aufWilliam Jameszurückgehende Frage„Habe ich Angst, weil mein Herzrast, oder rast meinHerz, weil ich Angst habe“ lässt sich bis heutenicht beantworten. Wahrscheinlichmacht eine einseitigeEntscheidung auchkeinenSinn, weil beide Blickrichtungengleichermaßen zutreffenkönnen. Dies bedeutet zugleich, dass sich über VeränderungeninOrganfunktionenauchseelisches Befinden beeinflussen lässt. Dafür spricht zumBeispiel auch die im Alltag zu machendeBeobachtung, dass sich allein durch dasEinnehmen einer aufrechtenHaltung (statt den Kopf hängenzu lassen) die Befindlichkeit etwas bessernkann. Ähnliches giltfür dasEinklemmenei- nesquer liegendenBleistifteszwischen den Zähnen, wodurch sichzwangsläufig die Mundwinkel heben. Auch das Dehnenvon Nacken- undRückenmuskulatur führt oft zu einem kurzenWohlgefühl. In diesem Zusammenhang sind auchneuere „Botox“- Experimente zu nennen,bei denen die Lähmung eines Stirnmuskels nachweislich dazu führte, dass die Betroffenen negative Emotionen weniger intensivverspürten. Aus dengenannten Phänomenen lässt sichableiten, dassder menschliche Haltungs- und Bewegungsapparat nicht nur ein„Exekutivorgan“ desGehirns zur Ausführung von Handlungen ist, sondern auchin dieWahrnehmung undVerarbeitung emotiona- ler undkognitiver Vorgängekomplexeingebunden erscheint. Unter diesem Gesichts- punkt können Bewegung und Sport dazuführen, dass derOrganismus ineinen Zu- stand versetzt wird, derpositive Signale an dasGehirnsendet, diemit typischen zu Angst undDepressionpassenden Signalennicht vereinbar sind. 6. Angststörungen undDepressionengehensehr oft mit dem besondersstressbehafte- ten Erlebeneinher, in einer Falle zu sitzen bzw. keine Lösung zu sehen und daher den Symptomenhilflos ausgeliefert zu sein. In solchen Situationeneröffnet die Mög- lichkeit, sich durchBewegung und Sport Erleichterung zu verschaffen, einen Ausweg. Sobald ein Mensch in einer bis dahinauswegloserscheinenden Situationeinen mög- 7 lichen Ausweg sieht unddas Gefühl verspürt, Kontrolle über dasGeschehen aus- üben zu können, sinkt das Stresserlebenund bessern sichdie damit verbundenen Symptome(soferndiesenicht schon„chronifiziert“ sind). Das Bewusstsein, über Mit- tel zur Selbstregulation zu verfügen, verbessert das Selbstvertrauen undwirkt soge- sundheitsfördernd. 7. Besonders bei depressiven Menschen („Depression alsGefühl der Gefühllosigkeit“) kanndaskörperliche Erleben beim Sport wieder oder aucherstmalig einen Zugang zum Körpergefühl eröffnen. Dafür dürftees wichtig sein, sich nachdem Sport immer auch eine ausreichendePausefür das„Nachspüren“ zu lassen. 8. Angstbetroffenekönnendurch sportliche Belastung lernen, dassvon ihnen als Krankheitssymptomegewertete Körperreaktionen (schneller Herzschlag, beschleu- nigteAtmung undGefühle von Luftnot, Schwitzen, Erschöpfung, „Muskelziehen“) völ- lig normale, jagesundeZeichen seinkönnen. Hierfür ist eserforderlich, dass die Betreffendensich ausreichend langeproTrainingseinheit belasten, um zumerken, dass dermöglicherweise befürchtete Herzinfarktoder ein Zusammenbrechen nicht erfolgen, sondernsichbei weiterem Trainiereneher positive Gefühle einstellen. Ein zu früherTrainingsabbruch (Vermeidung), kann dagegendie bestehendenBefürch- tungen weiter stärken! Bei einem solchen„Umlerntraining“ sollteman sichmöglichst mit hilfreichenGedankenauseinandersetzen. Denn dasGehirnverbindet alles Gleichzeitige („Konditionierung“). 9. Auf biologischer Ebenegibt es zahlreiche Vermutungenzu der Frage, wie sich Be- wegung undSport heilsam auf Angststörungenund Depressionen auswirkenkönnen. Dabei gilt dieAufmerksamkeit vor allem denim Gehirn zu registrierendenEffekten. Eine der ältestenBeobachtungen betrifft die Feststellung, dassschonbeileichter Bewegung (wie einem Spaziergang) dieHirndurchblutung deutlich ansteigt. Auch könnensich unter sportlichem Training im Gehirnoffenbar neue Blutgefäße bilden. Auf welcheWeisediesePhänomene letztendlichdann auch dazu beitragenkönnen, dass Angststörungen und Depressionenschwinden, ist bis heute unklar. 10. Experimentell ist belegt, dass Ausdauerbelastungenkognitive Leistungenverbessern, wie insbesondere dasLernen. Dakognitive Störungen(z.B. Konzentrationsstörun- gen) dasBild von Angststörungenund Depressionen prägen, ist vorstellbar, dass Bewegung durch eineVerbesserung solcher Einzelsymptomedas Krankheitsbild un- terTeilaspektengünstig beeinflusst. 11. Noch immer wird bei der Diskussion derWirkungsmechanismenauchdarauf hinge- wiesen, dassder Körperunter sportlicher Belastung vermehrt Endorphinefreisetzt, die zu einemWohlbefindenführenkönnen. Hier begegnet manjedochregelmäßig dem Einwand, dassesfür diesen Effekt oft längerer und intensivererkörperlicher Be- lastung bedarf, die bei den meisten Angst- und Depressionsbetroffenen wohl eher selten zu realisieren ist und auch nicht erforderlich erscheint. 12. Seit längerem vermutetman, dasses vor allem bei Depressionen zu einer Störung im Verhältnis zwischen wichtigenBotenstoffen im Gehirn („Neurotransmittern“) kommt, von denen Serotonin, Noradrenalin und Dopamindie wichtigsten sind. Viele dergän- gigen Antidepressiva bauen darauf ihrWirkungskonzept auf. Auch Bewegungkann den Organismusveranlassen, diegenanntenBotenstoffe vermehrt freizusetzen. Lan- geZeit wurde zumindest die öffentliche Diskussion sehr stark von Überlegungenzur Bedeutung der genannten Neurotransmitter im Rahmen der Depressionsentstehung bestimmt (eventuell aufgrund desMarketingspharmazeutischer Firmen). Mittlerweile haben auch andere Aspekte anGewicht gewonnen (siehe Punk 15). 8 13. Bei den meisten Angststörungen undDepressionen ist daskörpereigene„Stresssys- tem“ übermäßig aktiv. Diesführt dazu, dasseszu einem Ungleichgewicht im sog. au- tonomenNervensystem kommt, bei dem dieSignale des aktivierenden und auf Kampf und Flucht eingestellten Sympathikusüber die Signale des beruhigenden und die Regenerationfördernden Parasympathikusdominieren. Diesspiegelt sich bei- spielsweise in einer verringertenHerzratenvariabilität (HRV) wider. Ausdauersport kannden„Ruhenerven“ (Parasympathikus) stärken und sozu einem gesunden Gleichgewicht im „autonomen Nervensystem“ beitragen. Auchdepressive Menschen weisen eine verringerteHerzratenvariabilität auf,die sich unter einer erfolgreichen Therapie ebenfalls bessert. 14. Die Überaktivität desStresssystemsvon Angst- und Depressionsbetroffenengeht häufig auchmit einer dauerhaft (!) vermehrtenFreisetzung von Cortisol im Organis- mus einher.Während der Körper beieiner Bedrohung als SofortreaktionNoradrenalin aus dem Nebennierenmark freisetzt („kontrollierbar erscheinendeGefahr“), stellt die Ausschüttung von Cortisol gleichsam eine verzögert einsetzende „Nachschubreakti- on“ dar (auf eine „unkontrollierbar erscheinendeGefahr“). Ein dauerhaft erhöhter Cor- tisolspiegel hat viele ungünstigeFolgen(wie etwa den Verlust von Nervenzellen im Hippokampusoder die Abschwächung von Immunreaktionen). Forscher wie Florian Holsboer vertreten dieAuffassung, dass einZuviel an Cortisol wesentlich zur Entste- hung und Aufrechterhaltung von Depressionen beiträgt („Cortisolhypothese der De- pression“). Ausdauersport scheint den Cortisolspiegel im Körper senken bzw. Cortiso- lerhöhungenvorbeugenzu können. 15. Zu den heute besondersintensivuntersuchten Erklärungsansätzengehört die Beo- bachtung, dassder Organismus unter sportlicher Belastung vermehrt sog.Wachs- tumsfaktorenfreisetzt, die insbesondereim Gehirn zur Neubildung von Nervenzellen und einer besseren„Vernetzung“ (Bildung von „Synapsen“) führenkönnen. Im Zent- rum der Forschung unddes Interesses steht BDNF (Brain Derived Neurotropic Fac- tor),gefolgt von IGF-1(Insulin-likeGrowth Factor). Besondersim Hippokampus, der bei Depressionskrankenbzw. Stressbetroffenenoft verkleinert ist,kann esdurch BDNF zur Nervenneubildungkommen. Da Antidepressiva genaudengleichen Effekt erzielen, vermutetman,dass Bewegung vor allem über die vermehrte Freisetzung von BDNF antidepressivwirkenkönnte. Bei depressiven Menschen ist imBlut zu we- nig BDNF vorhanden. Sportliche Belastungkannbei ihnen zu einem raschen vorü- bergehenden Anstiegführen. 16. Angst undDepressionbegleiten viele chronischeErkrankungen(oft alsderen Folge, mitunter aber auch alsderen Vorboten) undtragen so zu dem Gesamtkrankheitsge- fühl bei. Genannt seienhier nur die Herzkreislauferkrankungen, Diabetes,die chro- nisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) undRückenleiden. Indem geeignete Bewegungsprogrammedas Grundleiden verringern, wirken sievermutlich indirekt auch abbauend auf diemit dem chronischenLeiden verbundenen Ängste und De- pressionen ein. 17. Erwähnenswert sind auch Befunde, denenzufolgekörperlich trainierteGehirne bei der Auflösung von Aufgaben weniger „Gehirnkapazität“ benötigenals untrainierte (zi- tiert nach Hollmannet. 2003). 18. Mehrere Studien zeigen, dass Bewegung die Effekte anderer Maßnahmen verstärken kann(z.B. dieWirkung von Antidepressiva oder auch dieWirkung vonÖstrogen auf das Gehirn). 19. Noch etwas exotisch mag die Überlegung klingen, dassvielleicht die durch Sport mögliche „rhythmische Aktivierung“ der beiden Körperhälften unddamit auch der Ge- hirnhälften zu einer besserenInformationsarbeitung in Gehirn undKörper beitragen. 9 Dem Laien sindentsprechende Erfahrungenoft bekannt (mehr Einfälle beim Gehen oder Laufen,klarerer Kopf durch Joggen). Auchbei Naturvölkernwerdenrhythmische Rituale undTänze zu Heilungszwecken eingesetzt. Ernstzunehmende Hinweise auf eine verbesserteInformationsverarbeitung im Gehirnkommenauch aus der Trauma- forschung, wo mittlerweile über 20 ernst zu nehmende Studien zeigen, dass einere- gelmäßig die Körperseitewechselnde sinnliche Stimulation nicht nur die Verarbeitung psychischer Traumata, sondern auchdie Stabilisierung positiver Vorstellungenund Entwicklungen begünstigt. Kann Sporttreiben Angst und Depression fördern? Wer ingesundem Umfang Sport treibt, braucht weder Angst nochDepression zu befürchten. Bewegung ist ein im Vergleich zu Medikamentenerfreulich „nebenwirkungsfreies“ Heilmittel, wenn sie in vernünftigem Umfang betrieben wird. WerseinTraining übertreibt, mussaller- dingsmit einem „Übertrainingszustand“ rechnen, dessen Symptome denen der Depression ähneln können(wie Konzentrations- und Schlafstörungen, Müdigkeit, depressive Verstim- mungen, Schmerzen, Appetit- undGewichtsverlust, Unlust). Ineinem solchen Fall ist eine Trainingsreduktion bzw. -anpassung das Vorgehen derWahl. Wenn Sportler Angststörungenoder Depressionen entwickeln(evtl. sichsogar dasLeben nehmen), hat diessogut wie immer Ursachen, die mit dem Sporttreiben selbst nichtszu tun haben. AusnahmensindUnfälle, die sich beim Ausüben der Sportart ereignen und Ängste oder eine Depression zur Folge haben(entweder weil der Unfall traumatisch war oder weil er zur Folge hatte, dass über längereZeit kein Sport mehrgetrieben werdenkonnte). Im Übri- genzeigen Fälle, indenen Sportler Ängste undDepressionen entwickeln, dassSport allein keinen ausreichendsicheren Schutzvor diesenProblemen bietet. Wer immer intensivSport getrieben hat oder für wen Sport sogar der wichtigste Lebensinhalt war (etwa im Falle von Leistungssport), für denkann derWegfall des Sporttreibens durchaus Angst auslösendoder depressionsförderndsein. In der Regelhandelt es sich in solchen Fäl- len nicht um „Entzugssymptome“ einer „abhängig machendenSportart“. Meist liegen beiden Betroffenenpsychosoziale Probleme vor, die sichmit HilfedesSports bislangkompensieren ließen und die (wieder) aufflammen, sobald das Kompensationsmittel wegfällt. Somag für den einen oder anderenSpitzensportler gelten, dass er durch sportlichenErfolg ein schwa- ches Selbstwertgefühl und soziale Ängsteerfolgreichkompensiert und soeine Depression verhindert. Solangees sich um eine bloße„Kompensation“ undnicht um eine dauerhafte Bewältigung der genannten Problemehandelt, bleibt der Betreffende von einemWiederauf- flammenseiner seelischen Problemebedroht,falls das Kompensationsmittel nicht mehr zur Verfügung steht oder seineWirkung verliert. Sport sollte auf keinen Fall dadurch in Verruf geraten, dassmancheMenschen ihn„miss- brauchen“, etwa um auf dieseWeise dasKörpergewicht zu reduzieren (Beispiel: Mager- sucht). Mögliche Probleme bei der Anwendung von Sport und Bewegung bei Menschen mit Angststörungen und Depressionen Die großeHerausforderung besteht darin, angstkrankeund depressive Menschen zu ver- mehrter Bewegung zu motivieren. Diesfällt leichter, wenn die Betreffenden bereitsauf positi- ve Bewegungserfahrungen in ihrem Lebenzurückblickenkönnen undgleichsam nur an die schon vorhandene Ressource erinnert werden müssen (Stichwort: Schwimmenverlernt man nicht). Ihnenhilft oft schon, wenn manihnen aufzeigt, wie sich ein Mehr an Bewegung in ihrem Alltag wieder sinnvoll einbauen lässt undwie diesggf. organisatorisch zu bewältigen ist. Dabeisolltemanmöglichst an diefrühereSportart anknüpfenund –wenn dies nicht möglich ist – eine vergleichbare empfehlen. 10

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In neuerer Zeit (2008) kommt eine Metaanalyse von Wipfli und. Kollegen zu der Psychosomatic Medicine 63: 633-638 (2000). 2. Blumenthal, J. A.
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