Jean Améry Jenseits von Schuld und Sühne Bewältigungsversuche eines Überwältigten Szczesny Verlag München 2. Auflage © 1966 by Szczesny Verlag KG, München. Alle deutschsprachigen Rechte, auch die der photomechanischen Wiedergabe beim Szczesny Verlag KG, München. Satz und Druck: Kö- Druck, München. Schrift: Linotype-Garamond-Antiqua. Bindearbeiten: Rieder, Schrobenhausen. Entwurf des Schutzumschlags: Uta Maltz. Printed in Germany 1966 Inhalt Vorwort……………………………………………………………………..7 An den Grenzen des Geistes………………………………………………10 Die Tortur………………………………………………………………….41 Wieviel Heimat braucht der Mensch?..........................................................71 Ressentiments……………………………………………………………..101 Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein…………………………....131 Vorwort Als im Jahre 1964 in Frankfurt der große Auschwitz-Prozeß begann, schrieb ich den ersten Aufsatz im Zusammenhang mit meinen Erlebnissen im Dritten Reich, nach zwanzig Jahren Schweigens. Ich dachte zunächst nicht an eine Fortsetzung, wollte mir nur über ein Sonderproblem - die Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager - klar werden. Als aber diese Arbeit verfaßt war, spürte ich, daß es unmöglich damit sein Bewenden haben dürfe. Auschwitz. Doch wie war ich dahin gelangt? Was war vorher geschehen, was sollte nachher kommen, wie stehe ich heute da? Ich kann nicht sagen, daß ich in der Zeit der Stille die zwölf Jahre des deutschen und meines eigenen Schicksals vergessen oder „verdrängt" hätte. Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, daß es mir schwer gewesen war, davon zu sprechen. Nun aber, da durch die Niederschrift des Essays über Auschwitz ein dumpfer Bann gebrochen schien, wollte plötzlich alles gesagt sein: so kam dieses Buch zustande. Dabei entdeckte ich, daß ich zwar manches bedacht, aber es viel zu wenig klar artikuliert hatte. Erst im Vollzug der Niederschrift entschleierte sich, was ich vorher in einer halbbewuß- 7 ten, an der Schwelle des sprachlichen Ausdrucks zögernden Denkträumerei undeutlich erschaut hatte. Bald zwang sich auch die Methode auf. Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, mußte ich nun erfahren, daß es einfach unmöglich war. Wo das „Ich" durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Arbeit hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. Auch sah ich sehr schnell ein, wie sinnlos es wäre, den vielen, teilweise ausgezeichneten dokumentarischen Werken, die zu meinem Themenkreis schon vorliegen, noch ein weiteres beizufügen. Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung oder, wenn man will, zu einer Wesensbeschreibung der Opfer- Existenz. Es war ein langsames und mühseliges Vorwärtstasten im bis zum Überdruß Bekannten, das gleichwohl fremd geblieben war. Darum sind auch in diesem Buch die Aufsätze nicht nach der Chronologie des Ereignisses angeordnet, sondern nach der Reihenfolge ihrer Entstehung. Der Leser, sofern er sich überhaupt darauf einlassen mag, sich mir zuzugesellen, muß mich denn wohl auch durch das Dunkel, das ich Schritt für Schritt erhellte, im gleichen Rhythmus begleiten. Dabei wird er auf Widersprüche stoßen, in denen ich mich selbst verfing. So war mir in dem Aufsatz über die Tortur noch durchaus unklar, welche Bedeutung dem Begriff der Würde zu geben sei, und ich tat ihn gleichsam mit einer Handbewegung ab, während ich später, in der Arbeit über mein Judesein zu erkennen glaubte, daß Würde das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben ist. Ebenso hatte ich, 8 über Auschwitz und Tortur schreibend, noch nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit gesehen, daß meine Situation nicht voll enthalten ist im Begriff des „Naziopfers": erst als ich zum Ende kam und über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, nachdachte, fand ich mich im Bilde des jüdischen Opfers. Es ist in diesen Blättern, die unzulänglich sein mögen, von denen ich aber beteuern darf, daß sie aufrichtig sind, sehr viel von Schuld die Rede und auch von Sühne, denn ich mochte andere Empfindlichkeiten so wenig schonen wie meine eigene. Dennoch glaube ich, daß diese Arbeit als ein Befund jenseits der Frage von Schuld und Sühne steht. Es wurde beschrieben, wie es bestellt ist um einen Überwältigten, das ist alles. Ich wende mich in diesem Buch nicht an meine Schicksalsgefährten. Sie wissen Bescheid. Jeder von ihnen muß auf seine Weise die Erlebnislast mit sich tragen. Den Deutschen freilich, die in ihrer überwältigenden Mehrheit sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches, würde ich gern hier manches erzählen, was ihnen vordem vielleicht noch nicht eröffnet wurde. Schließlich hoffe ich manchmal, es sei diese Arbeit zu einem guten Ende gebracht worden: dann könnte sie alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen. Brüssel, 1966. Jean Amery 9 An den Grenzen des Geistes Seien Sie vorsichtig, riet mir ein wohlmeinender Freund, als er von meinem Plan hörte, über den Intellektuellen in Auschwitz zu sprechen. Nachdrücklich empfahl er mir, von Auschwitz möglichst wenig und von den geistigen Fragen möglichst viel zu handeln. Auch meinte er, daß es angezeigt sei, wenn irgend angängig, zu verzichten, das Wort Auschwitz schon im Titel anzuführen: Das Publikum sei allergisch gegen diesen geographischen, geschichtlichen, politischen Begriff. Es gebe ja schließlich schon genug Auschwitz-Bücher und Auschwitz-Dokumente aller Art, und wer von den Greueln berichte, erzähle damit nichts Neues. Ich bin nicht sicher, daß mein Freund recht hat, und ich werde darum seinem Rat kaum folgen können. Ich habe nicht das Gefühl, daß über Auschwitz so viel geschrieben wurde wie, sagen wir, über die elektronische Musik oder den Bundestag von Bonn. Auch denke ich immer noch darüber nach, ob es nicht vielleicht geboten sei, gewisse Auschwitz- Bücher als Pflichtlektüre in den Oberklassen höherer Schulen einzuführen, und ob nicht überhaupt viele Rücksichten fallen müssen, wenn man politische Geistesgeschichte treiben will. Es ist wahr: ich will hier nicht von Auschwitz schlechthin erzählen, will kei- 10 nen Dokumentarbericht geben, sondern habe mir vorgenommen, über die Konfrontation von Auschwitz und Geist zu sprechen. Aber dabei werde ich nicht ganz herumkommen um das, was man die Greuel nennt, um jene Vorgänge, denen gegenüber, wie Brecht es einst gesagt hat, die Herzen stark sind, aber die Nerven schwach. Mein Thema heißt: An den Grenzen des Geistes; daß diese Grenzen gerade längs der unbeliebten Greuel verlaufen, ist nicht meine Schuld. Wenn ich über den Intellektuellen oder, wie man früher gesagt hätte: über den „geistigen Menschen" in Auschwitz sprechen will, habe ich wohl meinen Gegenstand, eben jenen Intellektuellen, zuvor einmal zu definieren. Wer ist in dem von mir angenommenen Wortsinn ein Intellektueller oder ein geistiger Mensch? Gewiß nicht jeder Träger eines sogenannten Intelligenzberufes; höhere formale Bildung ist da vielleicht eine notwendige, sicher aber keine ausreichende Bedingung. Jeder von uns kennt Anwälte, Ingenieure, Ärzte, ja wahrscheinlich auch Philologen, die zwar intelligent und vielleicht sogar in ihren Fächern hervorragend sind, die man aber trotzdem kaum als Intellektuelle bezeichnen kann. Ein Intellektueller, wie ich ihn hier verstanden wissen möchte, ist ein Mensch, der innerhalb eines im weitesten Sinne geistigen Referenzsystems lebt. Sein Assoziationsraum ist ein wesentlich humanistischer oder geisteswissenschaftlicher. Er hat ein wohlausgestattetes ästhetisches Bewußtsein. Neigung und Befähigung drängen ihn zu abstrakten Gedankengängen. Vorstellungsreihen aus dem geistesgeschichtlichen Bereich stellen sich zu jeder Gelegenheit in ihm her. Fragt man ihn etwa, welcher berühmte Name mit den Silben „Lilien" beginne, dann fällt ihm nicht der Gleitflugkonstrukteur Otto von Lilienthal ein, sondern der 11 Dichter Detlev von Liliencron. Gibt man ihm das Stichwort „Gesellschaft", faßt er es nicht mondän auf, sondern soziologisch. Der physikalische Vorgang, der zu einem Kurzschluß führt, interessiert ihn nicht; über den Dichter der höfischen Dorfpoesie Neidhart von Reuenthal aber weiß er Bescheid. Einen solchen Intellektuellen also, einen Mann, der Strophen großer Lyrik auswendig weiß, der die berühmten Gemälde der Renaissance und die des Surrealismus kennt, dem die Geschichte der Philosophie geläufig ist und die der Musik - einen solchen Intellektuellen werden wir dort stellen, wo es für ihn darauf ankam, die Wirklichkeit und Wirkungskraft seines Geistes zu erhärten oder für nichtig zu erklären, an einer Grenzsituation: in Auschwitz. Damit aber stelle ich natürlich mich selbst. Ich habe mich, in doppelter Eigenschaft, als Jude und Angehöriger der belgischen Resistance, außer in Buchenwald, Bergen-Belsen und noch anderen Konzentrationslagern auch ein Jahr lang in Auschwitz, genauer: im Nebenlager Auschwitz-Monowitz aufgehalten. Es wird darum wohl hier das Wörtchen „ich" öfter vorkommen müssen, als mir lieb ist, überall dort nämlich, wo ich das persönliche Erlebnis nicht ohne weiteres auch andern unterstellen kann. Zu bedenken ist in unserem Zusammenhang zunächst die äußere Situation des Intellektuellen, die er übrigens mit allen, auch den sonst nicht weiter geistigen Trägern der sogenannten Intelligenzberufe teilte. Es war eine ungute Lage, und am dramatischsten stellte sie sich dar in der lebens- und todesentscheidenden Frage des Arbeitseinsatzes. Die Handwerker in Auschwitz- Monowitz wurden, sofern man sie nicht aus irgendwelchen, hier nicht weiter zu besprechenden Gründen auf der Stelle vergaste, meist ihren Berufen entsprechend eingeteilt. Ein Schlosser etwa war ein privilegier- 12 ter Mann, da man ihn in der zu errichtenden IG-Farben-Fabrik brauchen konnte und er die Chance hatte, in einer gedeckten, der Witterung nicht ausgesetzten Werkstatt zu arbeiten. Das gleiche gilt für den Elektriker, den Installateur, den Tischler oder Zimmermann. Wer Schneider oder Schuster war, hatte vielleicht das Glück, in eine Stube zu kommen, wo man für die SS arbeitete. Für den Maurer, den Koch, den Radiotechniker, den Automechaniker gab es die Minimalchance eines erträglichen Arbeitsplatzes und damit des Überstehens. Anders war die Lage dessen, der einen Intelligenzberuf hatte. Ihn erwartete das Schicksal des Kaufmanns, der gleichfalls zum Lumpenproletariat im Lager gehörte, das heißt: er wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, wo man Erde aufgrub, Kabel legte, Zementsäcke oder Eisentraversen transportierte. Er wurde im Lager zu einem unqualifizierten Arbeiter, der das Seine im Freien zu leisten hatte, womit meist schon das Urteil über ihn gesprochen war. Gewiß gab es auch hier Unterschiede. Chemiker etwa wurden in dem hier als Beispiel gewählten Lager in ihrem Beruf eingesetzt, wie mein Barackenkamerad Primo Levi aus Turin, der das Auschwitz-Buch „Ist das ein Mensch?" geschrieben hat. Für Ärzte gab es die Möglichkeit, in den sogenannten Krankenbauten unterzuschlüpfen, wenn auch natürlich nicht für alle. Der Wiener Arzt Dr. Viktor Frankl zum Beispiel, der heute ein weltbekannter Psychologe ist, war jahrelang in Auschwitz-Monowitz Erdarbeiter. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Träger der Intelligenzberufe an der Arbeitsstelle übel dran waren. Viele trachteten denn auch, ihren Beruf zu verbergen. Wer nur über ein klein wenig manuelle Geschicklichkeit verfügte und vielleicht zu Bastelarbeiten fähig war, machte sich kühn zum Handwerker, wobei er 13 freilich unter Umständen sein Leben riskierte, wenn nämlich herauskam, daß er die Unwahrheit gesagt hatte. Die Mehrzahl versuchte allemal ihr Glück mit Tiefstapelei. Der Gymnasial- oder Universitätsprofessor, um seinen Beruf befragt, sagte verschämt „Lehrer", um nicht die berserkerische Wut des SS- Mannes oder Kapos herauszufordern. Der Rechtsanwalt verwandelte sich in den schlichteren Buchhalter, der Journalist gab sich vielleicht als Schriftsetzer aus, wobei wenig Gefahr bestand, daß er den Nachweis seines handwerklichen Könnens würde liefern müssen. So schleppten sie denn Schienen, Rohre und Bauholz, die Universitätslehrer, Anwälte, Bibliothekare, die Kunsthistoriker, Nationalökonomen, Mathematiker. Sie brachten meist wenig Geschick und nur geringe Körperkräfte hierfür mit - und nur in seltenen Fällen währte es lange, bis sie aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden wurden und ins benachbarte Hauptlager kamen, wo die Gaskammern und Krematorien standen. War ihre Situation am Arbeitsplatz schwierig, so war sie im Innern des Lagers nicht besser. Das Lagerleben erforderte vor allem körperliche Gewandtheit und einen notwendigerweise hart an der Grenze der Brutalität liegenden physischen Mut. Mit beiden waren die Geistesarbeiter nur selten gesegnet, und die moralische Courage, die sie oft anstelle der körperlichen einsetzen wollten, war keinen Pfifferling wert. Es kam, sei einmal angenommen, darauf an, einen Warschauer professionellen Taschendieb daran zu hindern, daß er uns die Schnürsenkel stehle. Da half wohl unter Umständen ein Kinnhaken, keineswegs aber jene geistige Tapferkeit, mit der etwa ein politischer Journalist durch Veröffentlichung eines mißliebigen Artikels seine Existenz gefährdet. Überflüssig zu sagen, daß nur in sehr raren Fällen der Anwalt 14 oder Gymnasiallehrer zum Kinnhaken kunstgerecht auszuholen wußte, ihn vielmehr weit öfter empfing und dabei im Nehmen kaum tüchtiger war als im Geben. Schlimm stand es auch in den Fragen der Lagerdisziplin. Wer draußen einen Intelligenzberuf ausgeübt hatte, besaß im allgemeinen wenig Begabung zum sogenannten Bettenbau. Ich erinnere mich gebildeter und kultivierter Kameraden, die allmorgendlich schweißtriefend mit Strohsack und Decken kämpften und doch nichts Rechtes zustande brachten, so daß sie dann an der Arbeitsstelle von der zur Zwangsvorstellung sich verdichtenden Befürchtung geplagt waren, beim Heimkommen mit Hieben oder Essensentzug bestraft zu werden. Sie waren weder dem Bettenbau gewachsen, noch dem zackigen „Mützen ab!" - und schon gar nicht trafen sie, wenn es sich fügte, dem Blockältesten oder SS-Mann gegenüber jene zugleich knapp devote und doch selbstbewußte Redeweise, mit der sich unter Umständen eine drohende Gefahr abwenden ließ. Sie waren darum im Lager selbst von Häftlingsvorgesetzten und Kameraden so wenig geachtet wie am Arbeitsplatz von Zivilarbeitern und Kapos. Schlimmer: sie fanden nicht einmal Freunde. Es war ihnen nämlich in den meisten Fallen eine physische Unmöglichkeit, sich frischweg des Lagerslangs zu bedienen, der die einzig akzeptierte Form gegenseitiger Verständigung war. Man spricht in der modernen geistigen Auseinandersetzung sehr viel von den Kommunikationsschwierigkeiten des Zeitgenossen und redet dabei manch steilen Unfug, der besser ungesagt bliebe. Nun, im Lager bestand das Kommunikationsproblem zwischen dem geistigen Menschen und der Mehrzahl seiner Kameraden; es stellte sich stündlich in realer, ja qualvoller Weise. Es war dem an einigermaßen differenzierte Ausdrucksweise gewohnten Häftling nur unter einem großen Auf- 15 wand von Selbstüberwindung möglich, „Hau ab!" zu sagen oder den Mithäftling ausschließlich mit „Mensch" anzusprechen. Ich erinnere mich nur allzu gut des körperlichen Widerwillens, der mich regelmäßig erfaßte, wenn ein sonst ganz ordentlicher und umgänglicher Kamerad niemals anders zu mir sagte als „mein lieber Mann". Der Intellektuelle litt unter Ausdrücken wie „Küchenbulle", „organisieren" (womit die widerrechtliche Aneignung von Gegenständen gemeint war), ja selbst Formeln wie „auf Transport gehen" brachte er nur schwer und zögernd über die Lippen. Damit aber komme ich zu den psychologischen und existentiellen Fundamentalproblemen des Lagerlebens und zum Intellektuellen im eingangs skizzierten engeren Sinn. Die Frage, die sich aufdrängt, heißt, auf ihre bündigste Formel reduziert: Haben Geistesbildung und intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling in den entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihm das Überstehen erleichtert? Mir fiel, als ich mir diese Frage stellte, zunächst nicht mein eigener Auschwitzer Alltag ein, sondern das schöne Buch eines holländischen Freundes und Schicksalsgenossen, des Schriftstellers Nico Rost. Das Buch heißt „Goethe in Dachau". Ich nahm es nach Jahren wieder zur Hand und las darin Sätze, die mich traumhaft genug anmuteten. Da stand etwa: „Wollte eigentlich heute früh meine Aufzeichnungen über Hyperion vornehmen." Oder: „Wieder über Maimonides gelesen, von seinem Einfluß auf Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus." Oder: „Bemühte mich heute während des Luftalarms wieder, an Herder zu denken..." Und dann, ganz und gar überraschend für mich: „Noch mehr lesen, noch mehr und intensiver studieren. In jeder freien Minute! Klassische Literatur als Ersatz für Rotkreuzpakete." Als ich diesen Sätzen nachging und sie mit mei- 16 nen eigenen Lagererinnerungen konfrontierte, war ich tief beschämt, denn nichts habe ich Nico Rosts bewundernswerter, radikal geistiger Haltung an die Seite zu stellen. Nein, ich hätte ganz bestimmt nichts über Maimonides gelesen selbst wenn mir, was freilich in Auschwitz kaum denkbar war, ein einschlägiges Buch in die Hände gefallen wäre. Auch hätte ich sicher während des Luftalarms keinen Versuch gemacht, über Herder nachzudenken. Und die Zumutung, unter Umständen klassische Literatur als Ersatz für ein Lebensmittelpaket zu nehmen, hätte ich mehr verzweifelt als höhnisch zurückgewiesen. Ich schämte mich, wie gesagt, sehr, als ich das Buch des Kameraden aus Dachau las, bis es mir schließlich gelang, mich einigermaßen zu diskulpieren. Dabei dachte ich vielleicht nicht so sehr daran, daß Nico Rost in vergleichsweise bevorzugter Position als Pfleger in einer Krankenbaracke arbeitete, während ich selbst zur anonymen Masse der Häftlinge gehörte, als an die entscheidende Tatsache, daß der Holländer sich in Dachau befunden hatte, nicht in Auschwitz. Es lassen sich nämlich in der Tat diese beiden Lager nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Dachau war eines der ersten nationalsozialistischen Konzentrationslager und hatte darum, wenn man so will, eine Tradition; Auschwitz war erst 1940 geschaffen worden und unterlag bis zum Schluß Improvisationen von Tag zu Tag. In Dachau herrschte unter den Häftlingen das politische Element vor, in Auschwitz aber bestand die weit überwiegende Mehrzahl der Häftlinge aus völlig unpolitischen Juden und politisch recht labilen Polen. In Dachau lag die innere Verwaltung zum größten Teil in den Händen politischer Häftlinge, in Auschwitz gaben deutsche Berufsverbrecher den Ton an. In Dachau gab es eine Lagerbibliothek, in Auschwitz 17 war für den gewöhnlichen Häftling ein Buch etwas kaum noch Vorstellbares. Grundsätzlich bestand in Dachau - sowie auch in Buchenwald - für die Häftlinge die Möglichkeit, dem SS-Staat, der SS-Struktur eine geistige Struktur entgegenzustellen: damit aber hatte dort der Geist eine soziale Funktion, auch wenn diese wesentlich politisch, religiös, ideologisch in Erscheinung trat und nur in seltenen Fällen, wie etwa bei Nico Rost, zugleich auch philosophisch und ästhetisch. In Auschwitz aber war der geistige Mensch isoliert, war ganz auf sich selbst gestellt. So erschien denn dort das Problem der Begegnung von Geist und Greuel in einer radikaleren und, wenn diese Formulierung hier erlaubt ist, in einer reineren Form. In Auschwitz war der Geist nichts als er selber, und es bestand keine Chance, ihn an eine auch noch so unzulängliche, noch so verborgene soziale Struktur zu montieren. Der Intellektuelle stand also allein mit seinem Geist, der nichts war als barer Bewußtseinsinhalt und sich nicht aufrichten und erhärten konnte an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Beispiele, die sich hierfür geben lassen, sind teils trivial, teils aber müssen sie aus Seinsbereichen geholt werden, die nur schwer mitteilbar sind. Der Intellektuelle suchte, zumindest im Anfang noch, ständig nach der Möglichkeit sozialer Kundgebung des Geistes. In ein Gespräch mit dem Bettnachbarn etwa, der umständlich vom Küchenzettel seiner Frau erzählte, wollte er gerne die Feststellung einschmuggeln, daß er selbst daheim viel gelesen habe. Wenn er aber hierauf zum dreißigsten Mal die Antwort erhielt: „Scheiße, Mensch!", ließ er es bleiben. So nahm langsamerhand in Auschwitz alles Geistige eine zwiefach neue Gestalt an: Es wurde einerseits, psychologisch, zu etwas ganz und gar Irrealem und andererseits, sofern man es in sozialen Begriffen definiert, zu einer Art 18 von unerlaubtem Luxus. Manchmal erlebte man diese neuen Tatsachen in tieferen Schichten, als jene es sind, in die man beim Schlaf Strohgespräch gelangen kann: dann verlor der Geist urplötzlich seine Grundqualität, die Transzendenz. Ich erinnere mich eines Winterabends, als wir uns nach der Arbeit im schlechten Gleichschritt unter dem entnervenden „Links zwei, drei, vier" der Kapos vom IG-Farben-Gelände ins Lager zurückschleppten und mir an einem halbfertigen Bau eine aus Gott weiß welchem Grunde davor wehende Fahne auffiel. „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen", murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlingedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt „links", und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen. Vielleicht hätte sich das im psychischen Humus verkapselte Hölderlingefühl eingestellt, wäre da ein annähernd gleichartig gestimmter Kamerad gewesen, dem ich die Strophe hätte zitieren können. Das Schlimmste war, daß man den guten Kameraden nicht hatte, in der Kommandoreihe nicht - und wo im ganzen Lager? Gelang es aber doch, ihn einmal aufzustöbern, dann war er durch seine eigene Isoliertheit so geistentfremdet, daß er nicht mehr reagierte. Mir fällt da die Begegnung mit einem namhaften Philosophen aus Paris ein, der sich im Lager befand. Ich hatte von seiner Anwesenheit erfahren und hatte ihn nicht ohne Mühe und Gefahren in seinem Block aufgesucht. Wir trotteten mit unsren Blechnäpfen unterm Arm durch die La- 19 gerstraßen, und vergebens versuchte ich, ein intellektuelles Gespräch in Gang zu bringen. Der Philosoph von der Sorbonne gab einsilbige mechanische Antworten und verstummte schließlich ganz. Sagt da irgend jemand „Abgestumpftheit"? Aber nein. Der Mann war nicht abgestumpft, so wenig wie ich selber. Er glaubte ganz einfach nicht mehr an die Wirklichkeit der geistigen Welt, und er verweigerte sich einem intellektuellen Sprachspiel, das hier keinen sozialen Bezug mehr hatte Eine besondere Problematik stellte sich im Zusammenhang mit der sozialen Funktion oder Nichtfunktion des Geistes dem jüdischen Intellektuellen deutschen Bildungshintergrundes. Was immer er anzurufen suchte, gehörte nicht ihm, sondern dem Feind. Beethoven. Aber den dirigierte in Berlin Furtwängler, und Furtwängler war eine geachtete offizielle Persönlichkeit des Dritten Reiches. Über Novalis standen Aufsätze im „Völkischen Beobachter", und die waren manchmal gar nicht so dumm. Nietzsche gehörte nicht nur dem Hitler, worüber noch hinwegzukommen gewesen wäre, sondern auch dem nazifreundlichen Lyriker Ernst Bertram; der verstand ihn. Von den Merseburger Zaubersprüchen bis Gottfried Benn, von Buxtehude bis Richard Strauss war das geistige und ästhetische Gut in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz des Feindes übergegangen. Ein Kamerad, der einmal nach seinem Beruf gefragt worden war, hatte unsinnigerweise der Wahrheit gemäß gesagt, er sei Germanist, und das hatte den mörderischen Wutausbruch eines SS-Mannes hervorgerufen. In den gleichen Tagen hat, glaube ich, drüben in den USA Thomas Mann einmal gesagt: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur." Der deutsch-jüdische Auschwitzhäftling hätte eine solch kühne Behauptung nicht aufstellen können, selbst wenn er zufällig ein Thomas 20 Mann gewesen wäre. Er konnte die deutsche Kultur nicht als seinen Besitz reklamieren, weil sein Anspruch keinerlei soziale Rechtfertigung fand. In der Emigration konnte eine winzige Minderheit sich als deutsche Kultur konstituieren, auch dann, wenn ihr nicht gerade Thomas Mann zugehörte. In Auschwitz aber mußte der isolierte Einzelne noch dem letzten SS-Mann die gesamte deutsche Kultur samt Dürer und Reger, Gryphius und Trakl überlassen. Doch selbst wo es gelang, sich die naive und diskutable Illusion aufzubauen, vom „guten" und „bösen" Deutschland, vom miserablen Thorak, der dem Hitler gehören mochte, und dem großen Tilman Riemenschneider, dem man seine Solidarität aufdrängte - selbst dort mußte unweigerlich am Ende der Geist vor der Wirklichkeit versagen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, und es ist schwer, sie erst einmal auseinanderzuhalten und dann zur Synthese zu bringen, wie es geboten wäre. Absehen will ich von den bar physischen, wiewohl ich eigentlich nicht weiß, ob das statthaft ist, denn jeder Lagerhäftling stand ja schließlich unter dem Gesetz seiner mehr oder minder großen körperlichen Widerstandskraft. Klar ist jedenfalls, daß die ganze Frage der Wirkung des Geistes dort nicht mehr gestellt werden kann, wo das Subjekt, unmittelbar vor dem Hunger- und Erschöpfungstod stehend, nicht nur entgeistet, sondern im eigentlichen Wortsinn entmenscht ist. Der sogenannte „Muselmann", wie die Lagersprache den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling nannte, hatte keinen Bewußtseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig oder Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen. Er muß, so schwer es uns fallen möge, aus unseren Erwägungen ausgeschlossen werden. Ich 21 kann nur ausgehen von meiner eigenen Lage, der Lage eines Häftlings, der hungerte, aber nicht verhungerte, der geprügelt, aber nicht ganz zusammengeschlagen wurde, der Wunden hatte, aber keine tödlichen, der also objektiv noch jenes Substrat besaß, auf dem der Geist prinzipiell stehen und bestehen kann. Er stand aber allemal auf schwachen Füßen, und er bestand schlecht, das ist die ganze traurige Wahrheit. Vom Versagen, beziehungsweise dem wirkungslosen Verpuffen ästhetischer Vorstellungsreihen und Reminiszenzen habe ich bereits andeutend gesprochen. Sie waren in den meisten Fällen keine Tröstung, gelegentlich erschienen sie als Schmerz oder Hohn; am häufigsten versickerten sie in einem Gefühl vollkommener Indifferenz. Da gab es nun freilich Ausnahmen, und zwar in gewissen Rauschzuständen. Ich denke daran, wie mir einmal ein Pfleger des Krankenbaues einen Teller mit gesüßtem Gries schenkte, den ich gierig verschlang, wobei ich in den Zustand einer außerordentlichen geistigen Euphorie geriet. Mit tiefer Ergriffenheit dachte ich zunächst an das Phänomen der menschlichen Güte. Daran kettete sich die Vorstellung des wackeren Joachim Ziemßen aus dem „Zauberberg" Thomas Manns. Und plötzlich war mein Bewußtsein randvoll und chaotisch angefüllt mit Bücherinhalten, Bruchstücken gehörter Musik, eigenen, wie mir durchaus scheinen wollte, philosophischen Gedanken. Ein wildes Geistverlangen ergriff Besitz von mir, das begleitet war von durchdringendem Selbstmitleid und das mir Tränen in die Augen trieb. Dabei war ich mir aber in einer klar gebliebenen Bewußtseinsschicht des Pseudocharakters dieser nur Minuten währenden geistigen Erhebung voll bewußt. Es war ein echter, durch physische Einwirkung hervorgerufener Trunkenheitszustand. Nachträgliche Gespräche mit Kameraden erlauben mir den 22 Schluß, daß ich keineswegs der einzige war, dem unter solchen Umständen eine kurzfristige geistige Aufrichtung gelang. Derlei Rauschgefühle stellten sich häufig auch bei Schicksalsgenossen ein, sei es beim Essen, sei es beim Genuß einer ungewohnt gewordenen Zigarette. Wie alle Räusche ließen sie ein ödes, katzenjammerhaftes Gefühl der Leere und Scham zurück. Sie waren zutiefst unecht, der Wert des Geistes erhärtet sich nur schlecht an ihnen. Doch erfüllt ja die ästhetische Vorstellung und alles, was in ihrem Gefolge daherkommen möge, nur einen begrenzten und gar nicht den wichtigsten Raum im Haushalt des geistigen Menschen. Wesentlicher ist das analytische Denken: von ihm dürften wir erwarten, daß es angesichts des Grauens zugleich Stütze und Wegweiser sei. Auch hier aber komme und kam ich zu enttäuschenden Bilanzen. Das rational-analytische Denken war im Lager und speziell in Auschwitz nicht nur keine Hilfe, sondern führte geradenwegs in eine tragische Dialektik der Selbstzerstörung. Was ich damit meine, ist leicht verdeutlicht. Zunächst einmal nahm der geistige Mensch die unvorstellbaren Zustände nicht so einfach als gegeben zur Kenntnis wie der ungeistige. Ein langes Training, die Erscheinungen der Alltagswirklichkeit in Frage zu stellen, verbot ihm das schlichte Eingehen auf die Lagerrealität, denn diese stand in allzu schroffem Gegensatz zu allem, was er bisher als möglich und dem Menschen zumutbar angesehen hatte. Er hatte in der Freiheit stets nur mit Leuten Umgang gehabt, die der human-vernünftigen Argumentation zugänglich waren, und durchaus wollte er nicht begreifen, was nun wahrhaftig gar nicht kompliziert war, nämlich: daß ihm, dem Häftling, gegenüber die SS eine Logik der Vernichtung gebrauchte, die in sich ebenso folgerichtig operierte wie draußen die Logik 23 der Lebenserhaltung. Man mußte stets sauber rasiert sein, aber strengstens war verboten, Scherzeug zu besitzen, und zum Barbier kam man nur einmal in vierzehn Tagen. Es durfte am Zebragewand bei Strafe kein Knopf fehlen, wenn man aber bei der Arbeit einen verlor, was unvermeidlich war, dann gab es praktisch kaum die Möglichkeit, ihn zu ersetzen. Man mußte kräftig sein, aber man wurde systematisch geschwächt. Es war einem beim Eintritt ins Lager alles genommen worden, aber dann wurde man von den Plünderern verhöhnt, weil man nichts besaß. Der geistig nicht weiter geübte Lagerhäftling nahm diese Umstände meist mit einem gewissen Gleichmut zur Kenntnis, demselben Gleichmut, der sich draußen bewährt hatte bei Feststellungen wie „Es muß Arme und Reiche geben" oder „Kriege werden immer sein". Er nahm sie zur Kenntnis, stellte sich auf sie ein, und in günstigen Fällen triumphierte er über sie. Der Intellektuelle aber revoltierte dagegen in der Ohnmacht des Gedankens. Für ihn galt im Anfang die rebellische Narrenweisheit, daß nicht sein könne, was doch gewiß nicht sein darf. Allerdings nur im Anfang. Der Refus der SS-Logik, die Revolte nach innen, das Vorsichhinmurmeln von Beschwörungsformeln, wie „aber das ist doch nicht möglich", währte nicht lange. Unweigerlich stellte sich nach einer gewissen Zeit etwas ein, das mehr war als nur Resignation und das wir als Akzeptierung nicht nur der SS-Logik, sondern auch des SS-Wertsystems bezeichnen dürfen. Und wiederum hatte es der intellektuelle Häftling schwerer als der ungeistige. Für diesen hatte es niemals eine generelle humane Logik gegeben, sondern nur ein folgerichtiges System der Selbsterhaltung. Ja, er hatte draußen gesagt: „Es muß Arme und Reiche geben", aber innerhalb dieser Erkenntnis hatte er den Kampf des Armen gegen den 24 Reichen geführt und ihn gar nicht als Widerspruch empfunden. Für ihn war die Lagerlogik nur die graduelle Verschärfung der Wirtschaftslogik, und der Verschärfung begegnete man mit einer brauchbaren Mischung von Resignation und Abwehrbereitschaft. Der Intellektuelle aber, der nach dem Zusammenbrechen des ersten inneren Widerstandes erkannt hatte, daß sehr wohl sein könne, was nicht sein darf, der die SS-Logik als stündlich sich erweisende Wirklichkeit erfuhr, ging nun im Denken ein paar verhängnisvolle Schritte weiter. Hatten jene, die ihn zu vernichten sich anschickten, nicht vielleicht recht gegen ihn, auf Grund des unbestreitbaren Faktums, daß sie die