Gerhard Plumpe Niels Werber Beobachtungen der Literatur Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft Gerhard Plumpe· Niels Werber (Hrsg.) Beobachtungen der Literatur Gerhard Plumpe · Niels Werber (Hrsg.) Beobachtungen der Literatur Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Alle Rechte vorbehalten © 1995 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt ins besondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12665-4 ISBN 978-3-663-11979-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-11979-1 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung .......................................................................... . 7 Gerhard Plumpe I Niels Werber Umwelten der Literatur. ...................................................................... 9 Thomas Hecken Literatur und Recht. ............................................................................ _3 5 Gerhard Rupp Die Literatur im pädagogischen System. ............................... . 65 Ingo Stöckmann Die Politik der Literatur 101 Bettina Gruber Die Literatur der Religion. ................................................................ . 135 Gerhard Plumpe Die Literatur der Philosophie. . ....................................................... 165 Niels Werber Der Markt der Musen. ........................................................................ _183 Sachregister. ....................................................................................... _217 Zu den Autoren des Bandes ................................... . 220 Vorbemerkung Wer beobachtet die Literatur? Traditionell ist diese Frage einfach zu beantworten: Literaturwissenschaft und Ästhetik natürlich. In einer theoretischen Perspektive, die der soziologischen Einsicht folgt, daß die Gesellschaft aus sozialen Systemen besteht, die sich selbst und einander beobachten, wird die Antwort differenzierter ausfallen. Ist die Literatur ein Sozialsystem unserer Gesellschaft, dann beobachtet die Literatur all jene Systeme, die sich in ihrer Umwelt befinden: etwa die Wirt schaft, die Politik oder das Recht. Was sie dort sieht, kann sie in die literarische Kommunikation integrieren, etwa wenn realistische Literatur ökonomische, politi sche oder juristische Sachverhalte literarisch verarbeitet. Dies geschieht hochselek tiv, denn beobachten impliziert stets, daß etwas beobachtet wird und anderes nicht; das heißt, daß eine Unterscheidung involviert ist, die die Beobachtung leitet und zwischen dem unterscheidet, was selektiert wird, und dem, was der Selektion ent geht. Das derart unterscheidende und beobachtende Literatursystem muß dabei permanent entscheiden, was es für poesiefähig hält und was nicht. Diese Entschei dung ist historischem Wandel unterworfen. Schildert der Naturalismus eines Ger hard Hauptmann dramatisch die bedrängten Zustände der proletarischen Milieus, so verzichtet der Ästhetizismus eines Stefan George polemisch auf derart "triviale" Themen, die dann ein halbes Jahrhundert später unter sozialkritischen Vorzeichen als Arbeiterliteratur erneut hoffähig werden. Stabil bleibt bei wechselnden The menvorlieben allerdings die Tatsache, daß bei derartigen Selektionen nicht die Ei gengesetzlichkeiten ökonomischer, politischer oder rechtlicher Verhältnisse im Vordergrund stehen, sondern die Frage, ob die aus der Umwelt ins System der Lite ratur importierten Themen interessante oder langweilige Unterhaltung versprechen. Beobachtungen der Literatur interessieren sich in diesem Sinne primär für die lite rarischen Reize ihrer Umwelt, die die Literatur in ihre Texte zu integrieren ver steht, um damit ihr Publikum zu erreichen -und nicht, um etwa die ökonomischen oder politischen Verhältnisse zu verändern. Solche durchaus möglichen Effekte der Literatur auf ihre Umwelt sind Zurechnungen, die von literaturexternen Beobach tern vorgenommen werden. Denn der Titel Beobachtungen der Literatur verweist neben der literarischen Beobachtung der Umwelt zugleich auch auf Beobachtungen, die die Literatur beob achten. Solche externen Beobachter sind die koexistenten Sozialsysteme, welche die Literatur gleichsam nicht als Literatur wahrnehmen, sondern nach Maßgabe ihrer jeweiligen Unterscheidungen als Ware, als Rechtsgut, als Provokation der Staatsorgane, als Medium der Erbauung oder der Wahrheit, als Mittel der Erzie hung, Objekt wissenschaftlicher Forschung oder als Anlaß für Interpretation. Beob achtet wird dann etwa, ob ein Buch profitabel oder nicht-profitabel ist, ob es erbau lich ist oder verwerflich, ob wahr oder falsch, kritisch oder affirmativ. Diese Beob achtungen der Literatur entsprechen keineswegs immer den Selbstbeobachtungen der Literatur: Ein politisch wünschenswerter Text kann langweilig sein - oder in teressant, ein religiöse Erwartungen brüskierendes Werk kann interessant sein - 8 Niels Werber I Gerhard Plumpe oder langweilig. Doch so sehr die Literatur bei der Beobachtung ihrer Texte auto nom verfahrt, so wenig bedeutet dies, daß die Unterscheidungen der Systeme in ih rer Umwelt für die Literatur folgenlos bleiben. Vielmehr beobachtet die Literatur ihre Beobachter und baut ihre Beobachtungen auf ihre eigene Weise in die Kom munikation ein. So kann man mit einem Text auf einen Markterfolg hoffen, wird ihn aber nicht deshalb haben, weil das Buch preiswert angeboten wird, sondern dann, wenn es gut geschrieben ist. Und auch ein drittrangiges Werk kann einen politischen Skandal auslösen, selbst wenn es literaturintern als redundant, lang weilig und gewöhnlich gilt. Diesem Konzept der wechselseitigen Beobachtung von Literatur und ihrer Um welt sind die folgenden Beiträge verpflichtet, ohne daß sie deshalb allesamt einer systemtheoretischen Perspektivierung folgen müßten. Jeder Autor pflegt hier seinen eigenen Stil, jedoch innerhalb der Ansicht, daß Beobachtungen der Literatur das Recht genauso betreffen wie die Ästhetik, die Politik wie die Religion, die Wirt schaft wie die Erziehung. Gemeinsam ist unseren Beobachtungen der Literatur al so die Grundunterscheidung zwischen der Literatur und ihrer Umwelt, was Identi täten (Literatur ist eine Ware, Literatur ist Ausdruck der Autorintention, sie ist Abbild der Realität), nicht aber Interdependenzen ausschließt. System für System - oder auch: Diskurs für Diskurs -wird die polykontextmale Plazierung der Literatur in einer Gesellschaft gegeneinander differenzierter, autonomer Sozialsysteme beob achtet und beschrieben, ohne daß die eine Umwelt der Literatur wichtiger wäre als die andere. Bochum, im April 1995 Niels Werber I Gerhard Plumpe Umwelten der Literatur Gerhard Plumpe I Niets Werber Das vorliegende Buch möchte erste Paradigmen zu einer neuen Literaturge schichtsschreibung erarbeiten. Es findet sein Motiv an dem Ungenügen des die letzten zwei Jahrzehnte bestimmenden Leitkonzepts der "Sozialgeschichte", in dem ein konsistenter Begriff von "Literatur" in fast beliebige Facetten zerspellt worden ist. Anregungen zu einer neukonzipierten Literaturgeschichte liefert die sy stemtheoretische Einsicht, daß Literatur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als ausdifferenziertes Teihystem der Gesellschaft gleichursprünglich auch Umwelt anderer sozialer Systeme ist, die sie beobachten und in eigendirigierte Konzepte von "Literatur" überfuhren, die je spezifische "Geschichtlichkeiten" aufweisen. So im Recht, in der philosophischen Disziplin der Ästhetik, in der Religion, in den Naturwissenschaften, dem Bildungssystem, in der Politik und in der Wirtschaft. Im Lichte dieses Sachverhalts ist die Literaturgeschichte strikt polykontextmal zu betreiben; statt den Begriff von "Literatur" sozialgeschichtlich zu konfundieren, tritt in der Perspektive der System/Umwelt-Differenz die Vielfalt jener Referenzen hervor, in denen "Literatur" stets anders beschrieben werden muß. Zu einer solchen Geschichte der Literatur als Umwelt anderer sozialer Kommunikationssysteme sollen erste theoretische und empirische Beiträge geliefert werden. Systemtheorie und Literatur Die von der Systemtheorie inspirierte Literaturwissenschaft stellt die Frage nach der Literatur völlig neu und mit neuer Dringlichkeit, denn ohne eine Antwort dar auf scheinen ihr die Bestimmung des Objektfeldes der Literaturwissenschaft und infolgedessen auch die Bildung einer facheinheitlichen Theorie der Literatur un möglich zu sein. Nach einer Zeit des intensiven wie methodisch unkoutrollierten Theorieimports aus Frankreich und den USA, der einen gewissen Affekt gegen Definitionen von Literatur als Konterbande miteinführte und die Literaturwissen schaft letztlich in eine allgemeine Kulturtheorie aufzulösen schien und nach dem Scheitern aller linguistischen oder semiotischen Versuche, textinterne Kritierien zur Differenzierung von Literatur und Nicht-Literatur zu gewinnen, scheint die Sy stemtheorie eine Lösung anzubieten, die sich in der Soziologie bereits bewährt hat: eine erhebliche Erhöhung der Abstraktionslage wie der Trennschärfe der Definiti onsversuche. Soziologie ist die Wissenschaft des Sozialen, das Soziale besteht aus Kommunikationen, nicht aus Psychen oder Physen, oder nur aus Schichten, Klas sen, Gruppen, Rollen, Individuen, Organisationen usw. Alles Soziale will die Sy stemtheorie als Soziologie beobachten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Daher 10 Gerhard Plumpe I Niets Werber wird die Kommunikation als basale Einheit sozialer Operationen eingeführt. Dies ist alles bekannt 1. Die Literaturwissenschaft steht vor einem ähnlichem Problem wie die Soziolo gie der 70er Jahre. Trotz und wegen prosperierender Spezialforschungen zerfällt sie in Bindestrich-Wissenschaften wie Literaturgeschichte, Literatursoziologie, Epochengeschichte, Stilgeschichte, Biographik, Motivgeschichte usw., ohne daß eine Literaturtheorie sich die Frage nach der Einheit des Fachs zumuten würde, die letztlich von der theoriegeleiteten und empirisch kontrollierten Bestimmung ihres Objekts abhängt. Was ist Literatur und was nicht? Hier nur traditional oder volun taristisch zu entscheiden wäre unbefriedigend. In der Perspektive der Systemtheorie kann die Literatur nur ein soziales Kom munikationssystem sein, denn alles andere im Jenseits und Diesseits der Kommuni kation fällt in ihren blinden Fleck und ist fiir sie damit nicht existent. Wenn in diesem Sinne Literatur ein System ist2, dann können wir jenes Instrumentarium von Begriffen an sie heran tragen, die sich bei der Analyse anderer Sozialsysteme bereits bewährt haben. Die zentrale Rolle spielen im Falle moderner Gesellschaften die Kategorien der Funktion, des Codes und des symbolisch generalisierten Kom munikationsmediums, welche jene Trenn- und Tiefenschärfe aufweisen, die nötig sind, um die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionsspezifizierte Sozial systeme beobachten zu können. Wirtschaft, Politik, Erziehung, Recht, Wissenschaft und Religion sind solche Systeme, die innerhalb der Gesellschaft Spezialprobleme betreuen, ihre Kommunikationen mit der Hilfe von Kommunikationsmedien auf Problemlösungen fokussieren und mittels binärer Codes von beliebigen anderen Ereignissen abgrenzen. So konzentriert sich etwa die Wirtschaft auf das Problem der Güterknappheit, benutzt fiir die Verteilung der Knappheit das Medium Geld und grenzt alles aus der Wirtschaft aus, was nicht in Soll und Haben bilanzierbar ist. Politik ist nicht Wirtschaft, denn ihr Problem ist die Erstellung bindender Ent scheidungen, ihr Code die Differenz von Regierung und Opposition und ihr Medi um die Macht, welche erst die Erstellung von Entscheidungen motiviert (wie Geld den Kauf, Glaube das Gebet, Recht den Prozeß), weil es sie durchsetzbar erschei nen läßt. Kurz: Funktion, Code und Medium sind die entscheidenden Kategorien zur Differenzierung der Kunst und Literatur von anderen Systemen und daher auch zu ihrer Definition. Als Code firmiert seit dem Vortrag Luhmanns 'Ist Kunst codierbar?' aus dem Jahre 1974 die Disjunktion von 'schön' und 'häßlich' und als Medium 'Schönheit' I Wir möchten hier nicht wiederholen, was an anderem Ort schon in extenso ausgeführt worden ist. Vgl. daher Luhmann 1984 und für einen Schnelldurchgang durch die Systemtheorie und ihre literaturwissen schaftliche Applikation Plumpe I Werber 1993. 2 Dies wird freilich oft genung mißverstanden. Vgl. Schmidt 1993, S. 250, wo es heißt, Luhmann würde getroffene Unterscheidungen "ontologisieren", etwa wenn er behaupte, "soziale Systeme seien nichts anderes als Kommunikation." Andere mögen anders beobachten und anders definieren. Innerhalb der Soziologie aber, und das heißt innerhalb des von ihr verwendeten Differenzschernatas zur Umwehbeobachtung, sind Sozial systeme eben Kommunikationen -was sonst. Umwelten der Literatur 11 (Luhmann 1976 [1981]). So revolutionär und neu darin Luhmanns erklärter Ver zicht auch ist, "das Schöne als Schönes zu analysieren, um daraus zu erkennen, weshalb es schön ist" (245), um stattdessen nach den soziologisch angehbaren Be dingungen "evolutionären Erfolgs" (ebd.) zu fahnden, so traditionell sind die vor geschlagenen Kandidaten fur Code und Medium, welche eher auf die Kommunika tion der philosophischen Ästhetik als auf die Kommunikation des Kunstsystems zutreffen. 'Schön' und 'häßlich' ist die Welt aus der Perspektive der Ästhetik von Kant bis heute (vgl. Plumpe 1993). Der Code mag zu einigen wenigen, von der Philosophie kanonisierten Werken der Kunst passen, ganz gewiß aber paßt er zu einer Reflexionstheorie der Kunst, deren Beschreibungen sich seit dem ausgehen den 18. Jahrhundert zunehmend von der Kunst entfernen. Sich vorzustellen, daß im Falle kunstmäßiger Kommunikation Produzenten und Rezipienten stets die Unterscheidung mitfuhren, ob eine Selektion schön oder häßlich sei, fällt schwer. Semantische Analysen sprechen eher dafur, daß es primär darum geht, ob sich etwas als interessant oder langweilig profilieren läßt. Die altbekannte ästhetische Differenz 'schön' vs. 'häßlich' scheint weder bei der Produktion noch bei der Re zeption von Kunst eine allzu große Rolle zu spielen - außer es handelt sich nicht um einen Teilnehmer des Kunstsystems, sondern um einen ästhetischen Beobach ter. In Luhmanns Aufsatz werden auch bereits funktionale Bestimmungen der Kunst eingefordert, da der Code "allein nicht imstande [sei], die Selektionen des Teilsystems in seinen anderen Systemreferenzen zu erfassen und zu instruieren" (ebd., S. 261). Denn käme es nur auf die Codierung an, wärealldas Kunst, was mit 'schön' oder 'häßlich' zu bezeichnen wäre: Beliebiges zwischen schönen Seelen und häßlichen Entlein. Eine Engfuhrung ist also nötig. Nicht jede Kommunikation, die sich am Schema 'schön'/'häßlich' orientiert, wä re Kunstkommunikation (von unseren Vorbehalten gegen diesen Anwärter des Codes einmal abgesehen), sondern nur diejenige, die eine Beziehung auf die Ge sellschaft mitfuhrt, "die fur das Teilsystem als Funktion artikuliert" wird (ebd.). Es mag schöne Tennisspiele geben und häßliche Kriege - um Kunst handelt es sich nicht, da nicht jene Funktion fur die Gesamtgesellschaft erfullt wird, auf die Kunst abonniert ist. Luhmann betont schon in dieser frühen Phase der Theorieentwick lung, daß die "moderne Gesellschaft durch Delegation auf Teilsysteme funktionale Primate fur Politik, fur Forschung, fiir Wirtschaft, fur Erziehung" und eben auch fur Kunst ausdifferenziert. Diese Teilsysteme leisten sich "Vorrangent scheidungen", die der Gesamtgesellschaft unmöglich wären (z.B. erst Wirtschaft, dann Politik oder erst Religion, dann Erziehung). "Die Systemdifferenzierung wird also ausgenutzt, um widersprüchliche Rangordnungen der Funktionen nebeneinan der zu praktizieren" (ebd.). Diese Bestimmung der Modeme durch funktionale Differenzierung in Sozialsysteme wird alle Paradigmenwechsel in Luhrnanns Theorieproduktion überstehen. Die Frage freilich, welche Funktion denn nun die Kunst verrichte, wird erst 1986 beantwortet: "Herstellung von Weltkontingenz". Sie habe die "jedermann geläufige" Realität mit einer "anderen Version derselben Realität" zu konfrontieren und die "festsitzende Alltagsversion" als kontingent beobachtbar zu machen