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Begutachtung bei Menschen Mit Migrationshintergrund PDF

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Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund 2. Auflage Dr. med. Wolfgang Hausotter, Sonthofen PD Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, Berlin Zuschriften an: Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Hackerbrücke 6, 80335 München Wichtiger Hinweis für den Benutzer Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrun- gen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und uner- wünschter Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Wer- kes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Ver- antwortung zu treffen. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail- lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar. Alle Rechte vorbehalten 2. Auflage 2013 © Elsevier GmbH, München Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH. 09 10 11 12 13 5 4 3 2 1 Dieses Buch enthält auch Links auf externe Webseiten Dritter. Auf die Inhalte dieser Webseiten haben wir keinen Einfluss, da es sich nicht um unsere eigenen Inhalte handelt. Für die Richtigkeit der über die Links erreichbaren Inhalte ist der jeweilige Anbieter verantwortlich. Wir übernehmen daher keine Garantie für de- ren Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität. Ein Überprüfung der Inhalte der von uns verlinkten externen Seiten ohne tatsächliche und konkrete Anhaltspunkte für einen Rechtsverstoß leisten wir nicht. Falls uns aber entsprechende Hinweise bekannt werden, werden wir unverzüglich eine Überprüfung, soweit möglich, einleiten und die dabei erzielten Ergebnisse bei Neuauflagen berücksichtigen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der en- gen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver- arbeitung in elektronischen Systemen. Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch mas- kuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint. Planung und Lektorat: Inga Schickerling, Dr. med. Constance Spring Herstellung: Elisabeth Märtz Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland; TnQ, Chennai/Indien Druck und Bindung: Printforce, Alphen/NL Zeichnungen: XXX Umschlaggestaltung: Spiesz Design, Neu-Ulm ISBN Print 978-3-437-31624-1 ISBN e-Book 978-3-437-31625-8 Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com. Vorwort zur 2. Auflage Die positive Aufnahme des Leitfadens der Begutachtung von Menschen mit Migrationshinter- grund zeigt, dass es nach wie vor eine Herausforderung und eine hohe Verantwortung für den Gutachter darstellt, Menschen mit Migrationshintergrund zu begutachten. Gilt es doch, Men- schen mit ganz verschiedenen Biographien, andersartiger Herkunft, sehr unterschiedlichen Sprachkenntnissen und nicht zuletzt auch mit von unserer Kultur oft abweichenden Vorstellun- gen von Gesundheit, Krankheit, Behandlungserwartung sowie Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Bei Menschen mit Migrationshintergrund, ob erster, zweiter oder bereits dritter Generation, müs- sen insbesondere migrations-, kulturspezifische und biografische Faktoren umfassend erfasst werden. Dabei sind sprach- und/oder kulturgebundene Missverständnisse auszuschließen, um so zu einer angemessenen und adäquaten Beurteilung zu gelangen. Wir haben versucht, den Leser neben den grundlegenden Aspekten der Begutachtung mit ethno- medizinischen und transkulturellen/interkulturellen Erwägungen vertraut zu machen, auch Hin- weise auf spezielle Fragestellungen wie die Begutachtung von Frauen, Jugendlichen, alternden Menschen, Asylbewerbern und speziell PTBS als besonderes Problem zu geben. In diesem Zusammenhang war es auch geboten, in einem eigenen Kapitel die Spätfolgen trauma- tisierender Erlebnisse der deutschen Bevölkerung in Krieg, Nachkriegszeit und DDR-Verfolgung darzustellen, die gerade jetzt wieder verstärkt im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Praktische Hinweise über rechtliche Grundlagen und den Aufbau eines Gutachtens sollen vor al- lem dem Anfänger den Einstieg in dieses Thema erleichtern und ihm Gelegenheit zu kurzfristigen Informationen für die alltägliche Arbeit geben. Kasuistiken und Gesprächsprotokolle aus der Praxis der Verfasser stellen den Bezug zur prakti- schen Tätigkeit im gutachtlichen Alltag dar. Der Inhalt des gesamten Buches wurde unter Einbeziehung der aktuellen Literatur und neuer Ge- richtsurteile überarbeitet. Das Buch soll Gutachtern aller Fachrichtungen, die Migranten zu begut- achten haben, eine kultursensible Hilfestellung für eine möglichst gerechte, sachliche und vorur- teilsfreie Beurteilung geben, die zugleich von angemessener Empathie getragen wird. Wir möchten uns abschließend bei Frau Dr. Constance Spring bedanken, die mit Fachkompetenz und Erfahrung die Neuauflage des Werkes begleitet und unterstützt hat. Sonthofen und Berlin September 2013 Dr. med. Wolfgang Hausotter Priv. Doz. Dr. med. Meryam Schouler-Ocak 1 Einleitung 1.1   Definition der Migration  1 1.2   Angst vor dem Fremden  2 1.3   Einwanderungsbewegung in Zahlen  5 1.3.1   Von 1950 bis 2003  5 1.3.2   Von 2004 bis 2013  7 1.4   Zusammenleben von Menschen verschiedener Ethnien  8 1.5   Gedichte  12 1.1   Definition der Migration Der Begriff Migration stammt von dem lateinischen Wort migrare und bedeutet wandern oder wegziehen. Die Migration umfasst inzwischen eine längerfristige bis dauerhafte Veränderung des räumlichen Wohnortes. Die Migration beinhaltet nicht nur die Zuwanderung, sondern auch die Abwanderung (Han 2000). Mit dem Einsetzen der großen Überseewanderungen aus Europa ab etwa Mitte des 19. Jahrhun- derts rückte das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung und Erklärung solcher Wande- rungsprozesse in den Fokus. Klassische Wanderungsgründe sind Immigration, Arbeitsmigration und Fluchtmigration. Die moderne Forschung unterteilt inzwischen differenzierter. Wanderungen können national und in- ternational erfolgen. Die häufigsten Wanderungsgründe sind nach Treibel (1999) die Arbeitssu- che, Vertreibung oder Schutz vor Verfolgung mit der Absicht, die eigene Lebenssituation zu ver- bessern. Die Wanderungsentscheidung basiert dabei auf wirtschaftlichen, politischen oder gesell- schaftlichen Zusammenhängen. Nach Treibel (1999) erklärt die Sogtheorie, dargestellt am Push-and-Pull-Modell, das Zustande- kommen eines Migrationsdrucks aus dem Gefälle zwischen zwei Ländern. Im Ursprungsland be- einflussen Druckfaktoren wie Arbeitslosigkeit, niedriges Lohnniveau und Armut das Verhalten, das Aufnahmeland bietet Sogfaktoren wie Arbeitsplätze, höhere Gehälter und soziale Sicherheit. Darüber hinaus nimmt auch die Berichterstattung über das Zielland sowie der Erfahrungsaus- tausch mit bereits Ausgewanderten oder ihren daheimgebliebenen Verwandten Einfluss auf die Entscheidung über die Auswanderung. Diese können auch eine Gruppenmigration auslösen. Die Entscheidung zur Migration kann eng verknüpft sein mit Konflikten des Auswanderungs- willigen und seiner näheren Umgebung. Die Entscheidung auszuwandern kann somit auch eine Form der Konfliktlösung sein. Oft sind daran Verpflichtungen des Menschen mit Migrationshin- tergrund gekoppelt wie die Verpflichtung zur Rückkehr oder Zusicherung der finanziellen Unter- stützung als eine Art Gleichgewichtssicherung zwischen motivationalem und kognitivem System (Dietzel-Papakyriakou 1993). Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund. http://dx.doi.org/10.1016/B978-3-437-31624-1.00001-5 Copyright © 2013 Elsevier GmbH. All rights reserved. 2 Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund Das Paradigma des Push and Pull ist nach Kroehnert trotz der plausiblen Annahme von Sogfakto- ren und Druckfaktoren auf den Einzelnen bezogen rein hypothetischer Natur (Kroehnert 2003). Der makrotheoretische Ansatz des Push and Pull kommt im mikrotheoretischen Ansatz zum Ein- satz, um die individuelle Entscheidung zur Migration zu erklären. Diese können sein u. a.: Push-Faktoren: • prekärer Arbeitsmarkt • mangelnde Grundstoffe • niedrige Löhne • Kinder als Altersversorgung • Möglichkeit des Umsturzes des politischen Systems • mangelhaftes Bildungssystem • mangelhaftes Gesundheitssystem • starke soziale Gefälle. Pull-Faktoren: • bessere humanitäre Versorgung • sicherer Arbeitsplatz • hohe Löhne • besseres Bildungssystem • besseres Gesundheitssystem • Chancen für sozialen Aufstieg • sicheres politisches System • finanzielle Unterstützung • bessere Perspektiven für Kinder • Nähe zur Heimat. Dimensionen der Migration Nach Han (2000) existieren vier Dimensionen der Migration, die einen Einfluss auf den Migra- tionsprozess haben. Diese sind: • m otivationale Dimension, in der es um motivationale Beweggründe für die Migration geht • r äumliche Dimension, in der es um geographische Distanz geht, wobei es mit zunehmender Distanz zur Fremdheit der Kultur, Sprache, Normen und Werte etc. kommen kann • z eitliche Dimension, in der es sich um eine dauerhafte oder vorübergehende Migration han- deln kann • s oziokulturelle Dimension, die das gesamte neue Umfeld erfassen kann. 1.2   Angst vor dem Fremden Die „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS), die vom Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) 1996 in Mannheim konzipiert und durchge- führt wurde, stand unter dem Themenschwerpunkt „Einstellungen zu ethnischen Gruppen in Deutschland und zur Immigration“. Die Auswertung dieser Daten zeigte einige Aufschlüs- se über die Meinungen und Einstellungen gegenüber „Ausländern“, die zum Zeitpunkt der Da- tenerhebung als weitgehend repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung angesehen wurden. 1 Einleitung 3 Ganter und Esser (1998) referierten folgende Befunde: • Fast 30 % der Befragten gaben an, dass sie sich „durch die vielen Ausländer in Deutschland“ als „Fremde im eigenen Land“ fühlten (56 % nicht). • Rund 44 % aller Befragten und mehr als die Hälfte der Befragten in Ostdeutschland waren der Meinung, „Ausländer“ würden das soziale Netz belasten (36 % nicht). • Rund 45 % der befragten Männer und Frauen führten Probleme auf dem Wohnungsmarkt auf die Anwesenheit von Ausländern zurück (35 % nicht). • Mehr als 40 % der Interviewpersonen insgesamt, in Ostdeutschland sogar jeder zweite, mein- ten, dass Zuwanderer häufiger Straftaten begehen als Deutsche (36 % nicht). • Fast 40 % aller Befragten, aber mehr als die Hälfte der Interviewpartner in den neuen Bundes- ländern, stimmten der Behauptung zu, dass Ausländer den Deutschen Arbeitsplätze wegneh- men (40 % nicht). • Zur rechtlichen Gleichstellung vertrat fast jeder zweite Befragte die Auffassung, dass Ausländer keine Ermöglichung einer doppelten Staatsbürgerschaft bzw. die Einführung des kommunalen Wahlrechts erhalten sollten. Etwa ein Viertel der Befragten vertrat darüber hinaus die Meinung, dass Ausländer nicht die gleichen Ansprüche auf Sozialleistungen haben sollten wie Deutsche. Diese Aussagen brachten eine diskriminierende Haltung gegenüber Minderheiten zum Aus- druck. Diese Ergebnisse waren vor dem Hintergrund der tatsächlichen Kontakte zu Ausländern sehr in- teressant. Die Meinungsbildung über Menschen mit Migrationshintergrund beruhte nicht unbe- dingt auf tatsächlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen. Denn nur knapp 60 % gaben an, über- haupt Kontakte zu Ausländern zu haben, wobei große Unterschiede zwischen den Befragten aus den alten und neuen Bundesländern bestanden (75 % im Westen haben Kontakte, 30 % im Osten). Die letztgenannten Daten standen möglicherweise mit dem geringeren Anteil ausländischer Ein- wohner in den östlichen Ländern in Zusammenhang (Ganter und Esser 1998). Von den Befragten hatten nur wenige (Westen 40 %, Osten 16 %) Kontakte im eigenen Freundeskreis, die meisten bei der Arbeit (Westen 35 %, Osten 13,5 %), einige in der Nachbarschaft (27 % Westen, 7 % im Osten) und die wenigsten in der eigenen Familie (15 % Westen, 6 % Osten). Über die Häufigkeit von Kontakten zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen gibt auch die 13. Shell-Jugendstudie Auskunft. Auf die Frage, wie häufig sie mit ausländischen Jugend- lichen zu tun hätten, antworten 22 % der deutschen Jugendlichen „überhaupt nicht“ und 46,9 % „weniger häufig“. Demnach hat die Mehrheit der deutschen Jugendlichen eher selten Kontakt mit ausländischen Jugendlichen (Shell-Jugendstudie 2000). Ganter und Esser (1998) sahen in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen fremdenfeindli- chen Tendenzen auf der einen Seite und den Faktoren Bildungsniveau, soziale Lage und persönli- che Kontakte zu „Ausländern“. Sie stellten fest, dass ein hohes Bildungsniveau offenbar immer noch die stärkste Barriere gegen fremdenfeindliche Orientierungen sei. Ebenso scheine eine güns- tige berufliche Stellung und die damit zumeist einhergehenden Privilegien der sozialen Lage eher positive Haltungen gegenüber „Ausländern“ zu begünstigen. Auch persönliche Kontakte zu Men- schen mit Migrationshintergrund würden dazu beitragen. Nach Ganter und Esser (1998) sollte jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass persönliche Kontakte auf jeden Fall diese positive Wirkung nach sich zögen. Vieles sei auch im Zusammen- hang mit den spezifischen Bedingungen zu sehen, unter denen die Beziehungen aufgenommen würden. Darin stimmen sie mit früheren Forschungsergebnissen überein. Auch diese stellen fest, dass allein der Kulturkontakt nicht zu einer besseren interethnischen Verständigung führt. Bereits Amir (1969) hatte anhand der Kontakthypothese aufgezeigt, dass ein interethnischer Kontakt unter folgenden Bedingungen zum Spannungsabbau beitragen kann: 4 Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund • wenn der soziale Status der Interaktionspartner gleichwertig ist • wenn der Mensch mit Migrationshintergrund, zu dem der Kontakt hergestellt wird, über einen höheren Status verfügt • wenn ein Sozialklima besteht, das den Kontakt wünscht und forciert • wenn der Kontakt nicht nur gelegentlich stattfindet • wenn er Spaß macht oder Vorteile bringt • wenn bei gemeinsamen funktionellen Arbeiten ein übergeordnetes Ziel angestrebt wird. Thomas (1994) kommt auch zu dem Ergebnis, dass sich interethnische Beziehungen durch Kon- takte verbessern, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Freiwilligkeit des Kontakts, Status- gleichheit, Intensität bzw. Dichte des Kontakts sowie institutionelle bzw. normative Unterstüt- zung des Kontakts. Emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen und ein geringes Maß an ethnozentrischem Denken können den Kontakt unterstützen. Im Hinblick auf schulische Lern- prozesse weist Dollase (1999) darauf hin, dass die auf Carl R. Rogers (1985) personenzentrierter Gesprächsführung basierenden Haltungen der Akzeptanz, Empathie und Kongruenz förderlich für die Entwicklung interethnischer Beziehungen sind. Interkulturelles Lernen finde insbesondere dort statt, wo das Klima entsprechend freundlich sei, wo das kooperative Lernen gefördert werde und wo ein warmherziger und freundlicher Unterrichts- und Erziehungsstil herrsche. Die Beto- nung der kulturellen Differenzen und die Kategorisierung von Menschen nach ethnischen Merk- malszuschreibungen ziehe eher die Ab- und Ausgrenzungen nach sich und vertiefe bereits beste- hende „Gräben“. Bekanntlich ist die Verarbeitung der Migration ein langer, oft lebenslanger Prozess, der häufig bis in die fünfte Generation hineinwirkt. In den unterschiedlichen Stufen der Migration sind verschiedene Erkrankungsrisiken und Verar- beitungsmöglichkeiten gegeben. Die einzelnen Migrationsstufen seien an dieser Stelle noch einmal erinnert: Emigration oder Im- migration, Integration, Assimilation, Segregation und Remigration. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland noch ein Aus- wanderungsland, doch seit Mitte der 50er Jahre ist es eines der wichtigsten europäischen Ziellän- der von Migranten geworden. Bereits 1955 wurden „Gastarbeiter“ aus Italien angeworben, wenig später 1960 auch aus anderen südeuropäischen Ländern wie Spanien und Griechenland, seit 1961 auch aus der Türkei. Nach 1973, dem Jahr des Anwerbestopps veränderte sich der Zuzug von Ausländern. Nunmehr konnten nur noch Familienangehörige, die zunächst im Anwerbeland ver- blieben waren, ebenfalls nach Deutschland kommen. Im Rahmen dieses Buches sollen vorwiegend Arbeitsmigranten und ihre Familien im Fokus ste- hen Jeder Arbeitsmigrant musste sich vor der Einreise einer Gesundheitsuntersuchung unterziehen. Die medizinische Versorgung wurde dabei instrumentalisiert, sie sollte drei Funktionen erfüllen: • gesunde und fähige Arbeitskräfte für die Wirtschaft auszulesen • die für das Aufnahmeland anfallenden Gesundheits- und Sozialkosten zu minimieren • die deutsche Bevölkerung vor unterstellten seuchen- und sozialhygienischen Problemen zu schützen. In den 1980er Jahren und später wurden Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber aufgenom- men. Seit den 90er Jahren kamen auch deutschstämmige Bürger der Sowjetunion und später der GUS-Staaten in größerer Zahl nach Deutschland (Collatz 1995). Nach Pfeiffer (1995) werden folgende Typen der Migration unterschieden: • Einwanderer/Siedler • Arbeitsmigranten 1 Einleitung 5 • Vertriebene und Flüchtlinge • Touristen/Besucher • Remigranten/Rückkehrer. Diese Entwicklung zeigt, dass es sich bei den in Deutschland lebenden Zuwanderern um eine sehr inhomogene Gruppe handelt, die aus unterschiedlichen Motivationen und auch mit unterschied- licher psychischer Gesundheit in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Anzumerken ist, dass der einzige legale Weg, heute nach Deutschland aus den Nicht-EU-Staaten zuzuwandern, die Heiratsmigration darstellt. 1.3   Einwanderungsbewegung in Zahlen 1.3.1   Von 1950 bis 2003 Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepu- blik Deutschland lag 1950 mit lediglich etwa 500.000 bei etwa einem Prozent. Dies hat sich bis heute nachhaltig geändert. Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes lebten Ende Juni 2004 etwa 7,16 Millionen Men- schen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft, die insgesamt 8,9 % der Gesamtbevölkerung aus- machten. Die größte ethnische Minderheit bildeten die türkeistämmigen Mitbürger mit etwa 1,9 %. Zählt man allerdings die bereits eingebürgerten Menschen mit Migrationshintergrund und die etwa 3 Millionen deutschstämmigen Mitbürger aus den ehemaligen GUS-Staaten hinzu, er- reicht man eine Zahl von etwa 11,16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Demnach repräsentieren Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile etwa 19 % der Bevölkerung. Es ist davon auszugehen, dass die „illegalen“ bzw. „heimlichen“ Menschen mit Migrationshinter- grund, deren Zahl zwischen 0,5–1,5 Millionen beziffert wird, nicht in diesen offiziellen Daten er- fasst sind. Somit dürfte die eigentliche Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund noch höher liegen. Einwanderer begegnen uns also als Arbeitsmigranten, nachziehende Familienangehörige, Spät- aussiedler, Flüchtlinge, Asylbewerber, Illegale etc. Sie unterscheiden sich durch ihre Beweggründe wie Arbeitssuche, ökonomische Interessen, Verbesserung ihrer Lebensqualität und Lebenschan- cen, einschließlich ihrer Nachkommen, aber auch Flucht und Verfolgung. Ebenso unterschiedlich sind ihre Zukunftserwartungen, ihre Lebensschicksale, ihre bisherige Ausbildung, ihre Begabun- gen, ihre Schwächen und ihre individuellen Ressourcen. Des Weiteren sind Unterschiede in ihren Krankheitsvorstellungen und -konzepten, über die Behandlungserwartungen und -vorstellungen etc. zu erwarten. Für die medizinische Behandlung und Betreuung ist es unwichtig, ob jemand eingebürgert ist oder nicht. Denn es ergeben sich für sie die gleichen Probleme in der Behandlung und Begutach- tung. Für die Jahre 1997 bis 1999 vor der Reform des Staatsbürgerrechts betrug der Jahresdurch- schnitt 110.990 Einbürgerungen. Im Verlauf des Jahres 2000 wurden 186.688, 2001 wurden 178.098 und 2002 wurden 154.547 Ausländer in Deutschland eingebürgert (Quelle: Statistisches Bundesamt). Die Aufenthaltsdauer der Menschen mit Migrationshintergrund wird auf der nachfolgenden Ab- bildung 1.1 (› Abb. 1.1, Quelle: Statistische Bundesamt) wiedergegeben. Von den am 31. Dezember 2003 im Ausländerzentralregister erfassten 7,3 Mio. Ausländern hal- ten sich rund 61 % seit mindestens 10 Jahren in Deutschland auf. Ca. 34 % lebten bereits 20 Jahre 6 Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund oder länger bei uns. Rund 25 % lebten seit weniger als 6 Jahren in Deutschland und rund 14 % weisen eine Aufenthaltsdauer von 6 bis unter 10 Jahren auf. Bei der Aufenthaltsdauer zeigen sich zwischen den Angehörigen verschiedener Staaten erhebliche Unterschiede. Zum 31. Dezember 2003 besaßen 6,5 Mio. Ausländer in Deutschland einen Aufenthaltstitel oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht, 130.000 Ausländer befanden sich in einem noch nicht rechtskräftig abge- schlossenen Asylverfahren. Ausreisepflichtig waren 450.000 Ausländer, darunter 230.000 mit einer Duldung. Das seit 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz kennt für Drittstaatsangehörige nur noch zwei Kategorien von Aufenthaltstiteln, die unbefristete Niederlassungserlaubnis und die befris- tete Aufenthaltserlaubnis. Die nach altem Recht erteilten Titel gelten je nach Aufenthaltszweck über den 1. Januar 2005 fort und werden sukzessive durch die neuen Aufenthaltstitel abgelöst. 2003 waren 3,4 Mio. der Ausländer (47 %) weiblichen und 3,9 Mio. (53 %) männlichen Ge- schlechts. Ausländerinnen und Ausländer sind mit einem Durchschnittsalter von 34 Jahren 8 Jah- re jünger als Deutsche. 2003 kamen 39.355 Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit zur Welt (6 % von allen Geburten). Von den 76.200 geborenen Kindern ausländischer Eltern erhielten 48 % aufgrund des seit dem 1. Januar 2000 geltenden Staatsbürgerschaftsrechts die deutsche Staatsbür- gerschaft. Die Geburtenhäufigkeit ausländischer Frauen lag 1999 mit abnehmender Tendenz bei 1,8 (bei deutschen Frauen etwa 1,4). Von den 6,7 Millionen im Ausländerzentralregister geführten Ausländerinnen und Ausländern wurden 1,4 Millionen, d. h. 21 % im Inland geboren. Dieser Anteil war besonders hoch bei den Türkinnen und Türken mit 35 %. 100% 30 und länger 90% 19,0 80% 20 bis < 30 14,7 70% 10 bis < 20 60% 27,0 8 bis < 10 50% 40% 6 bis < 8 6,9 30% 7,2 4 bis < 6 7,9 20% 10% 17,3 < 4 0% Abb. 1.1 Aufenthaltsdauer (Jahre) der ausländischen Bevölkerung in Deutschland zum 31.12.2003 in %. 1 Einleitung 7 1.3.2   Von 2004 bis 2013 Zum ersten Mal wurden „Personen mit Migrationshintergrund“ vom Statistischen Bundesamt im Mikrozensus 2005 erfasst, der so genannten „kleinen Volkszählung“. Es wurde ein genaueres Bild der Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland wiedergegeben, das die ungenauen „Ausländerstatis- tiken“ ablöst (Statistisches Bundesamt 2006). Zu Menschen mit Migrationshintergrund zählen „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“. Daten zur Herkunft der Migranten für das Jahr 2008 zeigt › Abb. 1.2. Lt. Mikrozensus 2012 lag im Jahr 2011 die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund bei knapp 16 Millionen Menschen (Statistisches Bundesamt 2012). Dies entsprach einem Anteil von 19,6 % an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. Zur Bevölkerung mit Migrationshinter- grund zählen auch die 8,6 Millionen Personen, die bereits die deutsche Staatsbürgerschaft ange- nommen haben, während der Rest von ca. 7,2 Millionen Personen Ausländerinnen und Ausländer bildeten. 32,5 % von ihnen kommen aus den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union. Die meisten Personen mit Migrationshintergrund stammen aus der Türkei (18,5 %), gefolgt von Polen (9,2 %), der Russischen Föderation (7,7 %) und Italien (4,9 %). Kasachstan ist mit 5,8 % das einzige wichtige nicht-europäische Herkunftsland. Mit 1,4 Mio. kommen die meisten (Spät-)Aus- siedler aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion – vor allem aus der Russischen Fö- deration (612.000) und aus Kasachstan (575.000); daneben sind Polen (579.000) und Rumänien (213.000) wichtige Herkunftsländer (Statistisches Bundesamt 2012). Deutschland ist somit ein Einwanderungsland, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, denn fast jeder 5. Einwohner hat einen Migrationshintergrund. Der enorme soziale Wandel in Deutschland, der durch die Internationalisierung Europas und die Globalisierung geprägt ist, kann in seiner Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Kasachstan 0,17 Mio. 1,1 Bevölkerung mit Migrations- Ukraine 0,2 Mio. 1,3 hintergrund in Prozent Rumänien 0,21 Mio. 1,3 Bosnien/Herzegowina 0,25 Mio. 1,8 Spätaussiedler Amerika 0,34 Mio. (Ex-UdSSR, Polen, Kroatien 0,37 Mio. 2,2 Rumänien) Griechenland 0,38 Mio. 2,4 3,2 Mio. Serbien/Montenegro 0,45 Mio. 2,4 20,6 2,9 Afrika 0,48 Mio. 3,1 Russ. Föderation 0,52 Mio. 3,3 gesamt 2008: Polen 0,69 Mio. 4,4 15,57 Mio. 16,2 Türkei 2,52 Mio. 5,0 Italien 0,78 Mio. Asien, Australien 8,4 und Ozeanien (ohne Kasachstan) 1,33 Mio. 13,4 10,2 sonstige Herkunfts- sonstiges Europa länder bzw. ohne Angabe 1,6 Mio. 2,08 Mio. Abb. 1.2 Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2008 (Daten des statistischen Bundesamts)

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