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Balance: Figuren Des Äquilibriums in Den Kulturwissenschaften PDF

316 Pages·2020·4.899 MB·German
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Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch (Hg.) BALANCE Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften STUDIEN AUS DEM WARBURG-HAUS, BAND 23 Herausgegeben von Uwe Fleckner Margit Kern Birgit Recki Cornelia Zumbusch Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch (Hg.) BALANCE Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften INHALTSVERZEICHNIS 7 Einleitung Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch 35 Der Weg der »goldenen Mitte« Aristoteles’ Lehre der μεσότης (mesotes) und ihre Bedeutung für die Daseinsmetapher der Balance Simon Grund 57 Die Waage der Melancholie Ein Beitrag zur Schilderung des Denkraums Emiliano De Vito 71 »Nihil firmum est« Balance und Tektonik in der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts Andreas Gormans 83 Antoine Watteau oder: die Grazie der Balance Maria Moog-Grünewald 97 »Göttin des Maßes« Herders äquilibristische Theorie der Tragödie Hendrik Blumentrath 109 Gegengewichte Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und ihr Tragödienmodell Lars Friedrich 129 Rhetorik und Logik der Kompensation Michael Eggers 143 Äquilibrium im (P)Flug Pflug und Ballon als Reflexionsfiguren horizontaler und vertikaler Arbeit am Ausgleich Julia Kerscher 155 Bewegung aus dem Stand Das Äquilibrium in der Zeichenkunst Pirkko Rathgeber 167 Ein Gleichgewicht positiver und negativer Kräfte? Henry van de Veldes physiologische Linientheorie Ole W. Fischer 181 Äquilibristik und Informationsverhalten Über W. Ross Ashbys Homöostaten Bernhard J. Dotzler 193 Von Risiko, Schwindel und Balance Circensische Äquilibristik Margarete Fuchs 205 Gleichgewicht am Erwartungshorizont Der urbanistische Erfahrungsraum der Achse Ernst Seidl 217 REST in Peace Floating Tanks als Medientechnik zwischen Balance und Exzess Philipp Hauss und Sebastian Vehlken 239 Anmerkungen 295 Farbtafeln 312 Bildnachweis EINLEITUNG Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch Waage und Gewicht stehen vor dem Herrn der Ewigkeit, keiner ist davon befreit, Rechenschaft ablegen zu müssen. Thoth sitzt als Pavian auf ihrem Tragbalken, um jedermann zu berechnen nach dem, was er auf Erden getan hat. (Inschrift auf dem Monumentalgrab eines Hohe- priesters des Thoth)1 ZUR HISTORISCHEN SEMANTIK VON »BALANCE« Die Idee zum vorliegenden Band über Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissen‑ schaften entstand aus der Beobachtung, dass unterschiedliche Modelle und Praktiken des Ausgleichens und des Balancierens, aber auch die Artikulation einer tiefsitzenden Angst vor dem Verlust des Gleichgewichts, von der Antike bis heute zu den Basiselemen- ten kultureller Erfahrung und deren Reflexion gehören. Gleichgewichtsvorstellungen wurden und werden weiterhin in zahlreichen, ihrerseits ineinander verwobenen Dis- kursen thematisiert, illustriert, artistisch inszeniert und philosophisch durchdacht. Sie bedürfen daher einer interdisziplinär konturierten Erforschung, zu der die hier versam- melten Einzelstudien einen weiteren Beitrag leisten.2 Konzepte, Theorien, Bilder und Faszinationsgeschichten einer ersehnten, vollende- ten, bedrohten oder verlorenen Balance begegnen seit Jahrtausenden prominent in kos- mologischen, religiösen, ethischen, medizinischen, physikalischen, politischen, juristi- schen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen und individuellen Kontexten. Die für ein geordnetes Marktgeschehen unentbehrliche und als Bildspender enorm produktive Bal- kenwaage – lateinisch bilancia – gehört zu den historisch frühesten Messinstrumenten überhaupt; die ältesten Funde aus Oberägypten sind über 5000 Jahre alt.3 Exemplarisch ablesbar sind das hohe Alter und der eminente kulturhistorische Rang von Gleichge- wichts-, Ausgleichs- und Vergeltungsordnungen (jus talionis) bereits am altägyptischen Begriff der als kosmische Ordnungsmacht die Welt im Gleichgewicht haltenden »Ma’at«, der Jan Assmann eine große Monographie gewidmet hat: »Ma’at ist die regulative Ener- 7 | Einleitung gie, die das Leben der Menschen zur Eintracht, Gemeinsamkeit und Gerechtigkeit steuert und die kosmischen Kräfte zur Gesetzmäßigkeit ihrer Bahnen, Rhythmen und Wirkungen ausbalanciert.«4 Im Hinblick auf das Leben des Einzelnen entwickelt sich im Alten Ägypten die Vorstellung eines Totengerichts mit Wägung der Seele (Ba). Die als postmortaler Initiationsritus konzipierte »Große Prüfung« kulminiert in der über Unsterblichkeit oder Vernichtung entscheidenden Herzwägung: »Diese Prüfung findet ihre Gestalt in dem großen Bild von der Wägung, bei dem das Herz des Menschen gegen die Ma’at aufgewogen wird.«5 Das Motiv der irreversiblen Wägung eines Menschenlebens begegnet auch im Alten Testament. Im 5. Buch Daniel findet sich etwa die berühmte Geschichte, wie eine spuk- hafte Hand Belsazar sein (Todes-)Urteil an die weißgetünchte Wand schreibt, weil er sich beim Gelage an den nach Babylon gebrachten goldenen und silbernen Gefäßen aus dem Jerusalemer Tempel vergriffen hat. Der herbeigerufene Daniel entziffert den rät- selhaften Text: »So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u‑parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und been- det. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.«6 Scharf abzugren- zen von der Psychostasie oder Seelenwägung ist die altgriechische Kerostasie, die Schick- salswaage. Im Unterschied zur Herzwägung fällt in der Kerostasie jenseits ethischer Erwägungen und Urteile die endgültige Entscheidung, wen der gewaltsame Tod (Ker) jetzt treffen wird. Im 22. Buch der Ilias richtet der tief zerrissene Zeus mit einer goldenen Waage über das Schicksal der Helden und entscheidet den Kampf zwischen Achilles und Hektor:7 »Jetzt nun streckte der Vater empor die goldene Waage, Legt’ in die Schalen hinein zwei finstere Todeslose, Dieses dem Peleionen und das dem reisigen Hektor, Faßte die Mitt’ und wog: da lastete Hektors Schicksal Schwer zum Hades hin; es verließ ihn Phoibos Apollon.«8 Intensive Wirksamkeit bis in die Gegenwart hinein – namentlich auch im Kontext der Geschichte der Melancholie – entfaltete neben diesen hier sehr knapp skizzierten »fundamentalen Ideen der Menschheitsgeschichte« zum Totengericht ferner die medizi- nische, meist auf den Pythagoreer Alkmaion zurückdatierte Lehre, »die Gesundheit wer- de durch das Gleichgewicht der Kräfte erhalten«.9 Die ebenfalls uralte Idee vom gesun‑ den Gleichgewicht wird in der hippokratischen Schrift über Die Natur des Menschen zur Humoralpathologie, der Lehre von den vier dominanten Körpersäften, ausgearbeitet, die Galen später kanonisiert: 8 | Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch »Der Körper des Menschen enthält Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle; von die- sen Säften hängen die Konstitution des Körpers, Krankheit und Gesundheit ab. Am gesundesten ist der Mensch dann, wenn ihre gegenseitige Mischung, Wirkung und Menge ausgewogen und wenn sie am innigsten verbunden sind, krank aber, wenn einer der Säfte in zu großer oder zu geringer Menge vorhanden ist oder sich im Körper absondert und nicht mit allen vermengt ist.«10 Diskursbegründend für Philosophien der Balance seit der Antike wird die von Hera- klit in mehreren Varianten kraftvoll formulierte Vorstellung einer Erzeugung von Gleich- gewicht und Harmonie über das kühne Zusammenspannen von Gegensätzen: »Sie be grei- fen nicht, daß es [das All-Eine], auseinanderstrebend, mit sich selbst übereinstimmt: widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier.«11 Im Bereich der philosophischen Reflexion praktischen Handelns innerhalb der poli- tischen Gemeinschaft der Polis hat dann vor allem die von Aristoteles in der Nikoma‑ chischen Ethik entwickelte, von der Ideenlehre Platons emanzipierte Tugendlehre eine bis heute einflussreiche Konzeption der »guten Mitte« auf den Weg gebracht, die eine genaue Balance zwischen schlechten Extremen bezeichnet: »Denn diese [die Tugend] hat mit Affekten und Handlungen zu tun, und in diesen gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere. Zum Beispiel kann man Furcht, Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und allgemein Lust und Unlust ebenso zu viel wie zu wenig empfinden, und beides ist nicht die richtige Weise. Dagegen sie zu empfinden, wann (hote) man soll, bei welchen Anlässen (eph’hois) und welchen Menschen gegenüber (pros hous), zu welchem Zweck (hou heneka) und wie man soll (hos dei), ist das Mitt- lere und Beste, und dies macht die Tugend aus. Ähnlich gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere in Bezug auf Handlungen. Die Tugend hat mit Affekten und Handlun- gen zu tun, bei denen das Übermaß wie auch der Mangel eine Verfehlung darstellt, das Mittlere dagegen gelobt wird und das Richtige trifft. Dies beides aber [Gegen- stand von Lob und richtig zu sein] sind Kennzeichen der Tugend. Die Tugend ist also eine Art von Mitte (mesotes), da sie auf das Mittlere (meson) zielt.«12 Neben der Mesotes-Lehre nahm insbesondere die in der Nikomachischen Ethik eben- falls präsentierte Differenzierung zwischen Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichen‑ der Gerechtigkeit einen bleibenden Einfluss auf die Ethikdiskussion seither. Während die gerechte Verteilung einem von Aristoteles als »geometrisch« bezeichneten proporti- onalen Verfahren folgt und »Würdigkeit« beziehungsweise sozialen Rang einkalkuliert, geht es in der als »arithmetisch« titulierten Gerechtigkeit strikt um den Ausgleich. In der Perspektive der ausgleichenden Gerechtigkeit ist es irrelevant, ob etwa »ein guter oder ein schlechter Mensch Ehebruch begangen hat. Vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied, der durch den zugefügten Schaden entstanden ist und behandelt die 9 | Einleitung Personen als gleiche«:13 Justitia ist für die soziale Stellung der Kontrahenten vor Gericht »blind«, und die ihr emblematisch zugeordnete Balkenwaage ermittelt objektiv das ange- messene, »ausgewogene« Urteil ohne Ansehen der Person. Ihr ästhetisches Analogon finden die Lehre vom gesunden Gleichgewicht, der Euk‑ rasie, und die Mesotes-Lehre im nur fragmentarisch überlieferten Kanon des Bildhauers Polykleitos, konkret im Begriff der symmetria, die, wie Joachim Schummer akzentuiert, als Kompositum aus »syn« und »métron« ursprünglich nicht Spiegelsymmetrie, sondern Eben- und Gleichmaß bedeutet: »So wie die Pythagoreer die perfekten Harmonien in der Musik durch Zahlenver- hältnisse auszudrücken suchten, so beschrieb Polyklet den perfekten menschlichen Körper durch Maßzahlverhältnisse. Darüber hinaus übertrug seine Symmetrieleh- re auch die in der griechischen Medizin bedeutende Lehre vom Gleichgewicht der Gegensätze auf die bildende Kunst. So wie der Pythagoreer Alkmaion und ihm fol- gend die Hippokratische Schule den Zustand der Gesundheit als Gleichgewicht der elementaren körperlichen Kräfte definierte, so sollte die perfekte menschliche Skulp- tur, exemplifiziert in seinem Doryphoros, ein Gleichgewicht von Ruhe und Bewe- gung, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung usw. verkörpern, was spä- ter unter dem Begriff des Kontrapost zusammengefasst wurde. Beides zusammen, die perfekten Maßzahlverhältnisse des Körpers und das richtige Maß zwischen den Gegensätzen, bildeten die erste ästhetische Theorie der Symmetrie.«14 Die Idee eines wirtschaftlichen Gleichgewichts wiederum gilt ebenfalls als »one of the oldest ideas in economics«; erneut fungiert Heraklit als einer der ersten, der den »circular flow of goods and money« aphoristisch beschrieb.15 Dieser Flow wird in der »klassischen Ökonomie« des 18. Jahrhunderts modern zur freilich kontroversen Doktrin der ausge- wogenen freien Konkurrenzwirtschaft ausformuliert: »[Die klassische Ökonomie] konzipiert ein System, dessen immanente Gesetze dem einzelnen eine sichere Grundlage bieten, um seine wirtschaftliche Tätigkeit rational nach Maßgabe der Maximierung des Profits zu kalkulieren. Solche Kalkulationen trifft jeder für sich, ohne Absprache mit anderen; die Warenproduktion ist subjektiv anarchisch, objektiv harmonisch. Die erste Voraussetzung ist mithin eine ökono- mische: die Garantie des freien Wettbewerbs. […] [B]ei vollständiger Mobilität von Produzenten, Produkten und Kapital werden sich […] Angebot und Nachfrage stets ausgleichen. Mithin sollen die Kapazitäten stets ausgelastet, die Arbeitskraftreserven ausgeschöpft sein und das System im Prinzip krisenfrei auf hohem, dem Entwick- lungsstand der Produktivkräfte jederzeit angemessenen Niveau sich im Gleichge- wicht halten.«16 10 | Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch

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