Autorität und Wahrheit Kirchliche Vorstellungen, Normen und Verfahren (13.–15.Jahrhundert) Schriften des Historischen Kollegs Herausgegeben von Lothar Gall Kolloquien 84 R. Oldenbourg Verlag München 2012 Autorität und Wahrheit Kirchliche Vorstellungen, Normen und Verfahren (13.–15. Jahrhundert) Herausgegeben von Gian Luca Potestà unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner R. Oldenbourg Verlag München 2012 Schriften des Historischen Kollegs herausgegeben von Lothar Gall in Verbindung mit Johannes Fried, Peter Funke, Hans-Werner Hahn, Karl-Heinz Hoffmann, Martin Jehne,Claudia Märtl, Helmut Neuhaus, Friedrich Wilhelm Rothenpieler, Martin Schulze Wessel und Andreas Wirsching Das Historische Kolleg fördert im Bereich der historisch orientierten Wissenschaften Gelehrte, die sich durch herausragende Leistungen in Forschung und Lehre ausgewiesen haben. Es vergibt zu diesem Zweck jährlich bis zu drei Forschungsstipendien und zwei Förderstipendien sowie alle drei Jahre den „Preis des Historischen Kollegs“. Die Forschungsstipendien, deren Verleihung zugleich eine Auszeichnung für die bisherigen Lei- stungen darstellt, sollen den berufenen Wissenschaftlern während eines Kollegjahres die Möglich- keit bieten, frei von anderen Verpflichtungen eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Gian Luca Potestà(Mailand) war – zusammen mit Prof. Dr. Thomas Welskopp (Bielefeld), Dr. Martina Giese (Düsseldorf), und PD Dr. Jörg Ganzenmüller (Jena) – Stipendiat des Historischen Kollegs im Kollegjahr 2008/2009. Den Obliegenheiten der Stipendiaten gemäß hat Gian Luca Potestàaus sei- nem Arbeitsbereich ein Kolloquium zum Thema „Autorität und Wahrheit. Kirchliche Vorstellun- gen, Normen und Verfahren (13.–15.Jahrhundert)“ vom 4. bis 6.Juni 2009 im Historischen Kolleg gehalten. Die Ergebnisse des Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht. Das Historische Kolleg wird seit dem Kollegjahr 2000/2001 – im Sinne einer „public private part- nership“ – in seiner Grundausstattung vom Freistaat Bayern finanziert, die Mittel für die Stipendien stellen gegenwärtig die Fritz Thyssen Stiftung, der Stiftungsfonds Deutsche Bank, die Gerda Hen- kel Stiftung und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zur Verfügung. Träger des Histo- rischen Kollegs, das vom Stiftungsfonds Deutsche Bank und vom Stifterverband errichtet und zu- nächst allein finanziert wurde, ist die „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs“. historischeskolleg.de Kaulbachstraße 15, D-80539 München Tel.: +49(0)8928663860 Fax: +49(0)8928663863 Email: [email protected] Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Satz: Schmucker-digital, Feldkirchen b. München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-70771-7 Umschlagbild: New York, Pierpont Morgan Library, Ms. M. 498, fol. 328r. Codex von ca. 1377 aus dem Kloster Olivetani di Quarto (Genua) aus dem Besitz von Alfonso Pecha y Vadaterra, der die Revelationes der Birgitta von Schweden sammelte und redigierte. Im Buchstaben O, der Initiale zum Prolog des VIII. Buches, erhält Birgitta von Christus das Buch der Offenbarungen und reicht es Alfonso, der, in Mönchskutte gekleidet, es seinerseits einem Boten übergibt. Dieser legt einen steilen Weg zurück und überantwortet es am Ende einem König, der zwischen anderen Herrschern sitzt. Die einzelnen Räume und Zeitphasen der Szene werden durch eine himmliche Trennlinie mar- kiert, die von oben nach unten führt und zusätzlich die Bereiche der mystisch-spirituellen und der weltlichen Autoritäten teilt. Inhalt V Inhalt Gian Luca Potestà Einleitung...................................................... VII Verzeichnis der Tagungsteilnehmer ................................. XI Deeana Klepper The Encounter Between Christian Authority and Jewish Authority over Scriptural Truth: The Barcelona Disputation 1263 .................... 1 Elsa Marmursztejn Autorité et vérité dans les relations entre la papauté et les docteurs parisiens au XIIIe siècle .................................................. 21 Roberto Rusconi La verità dei segni ovvero i segni della verità ......................... 45 Felicitas Schmieder „Den Alten den Glauben zu entziehen, wage ich nicht ...“ Spätmittelalter- liche Welterkenntnis zwischen Tradition und Augenschein ............. 65 David Burr Textual Authority and Papal Authority in Angelo Clareno’s Rule Commentary ................................................... 79 Sylvain Piron Écrire en aveugle. Jean de Roquetaillade ou la dissidence par l’obéissance . 91 Pavlina Rychterova Autorität und Wahrheitsdiskurs im vernakularen katechetischen Schrift- tum im spätmittelalterlichen Böhmen ............................... 113 Robert E. Lerner Alfonso Pecha on Discriminating Truth about the Great Schism ........ 127 Alexander Patschovsky Das Gewissen als Letztinstanz. Wahrheit und Gehorsam im Kirchen- verständnis von Jan Hus .......................................... 147 VI Inhalt Isabel Iribarren Jean Gerson, Spiritual Adviser to the Celestines ...................... 159 Duane Henderson Historisierung und historische Kritik an kirchlichen Rechtstexten in spätmittelalterlicher Traktatliteratur .............................. 179 Kurzbiografien der Autoren ...................................... 199 Gian Luca Potestà VII Gian Luca Potestà Einleitung Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind an der Schnittstelle zwischen Kirchen- und Geistesgeschichte anzusiedeln – einer Kirchengeschichte, die sich nicht nur auf die kirchlichen Institutionen im engeren Sinne beschränkt, und einer Geistes- geschichte, die nicht gleichzusetzen ist mit einem Konzept, das auf einer fort- schreitenden Tätigkeit und Manifestation des „Geistes“ in der Geschichte grün- det. Es handelt sich vielmehr um ein Konzept, das darauf abzielt, ideelle und dok- trinäre Entwürfe, ausgehend von deren geistigen Urhebern, deren sozialen Rollen, Arbeitspraktiken und Zielen bis hin zu ihrem Rezipientenkreis zu erfassen. Seit dem 13.Jahrhundert vervielfachten sich im mittelalterlichen Abendland Einrichtungen und Instanzen, die aufgrund verschiedenster Qualifikationen Au- torität in der Ermittlung der göttlichen Wahrheit beanspruchten. Während sich das Ringen um Wahrheit in Auseinandersetzung mit dem Judentum auf christli- cher Seite im 12.Jahrhundert noch in der Abfassung von literarischen Dialogen mit rein fiktiven Gesprächspartnern erschöpfte, verlagerte sich die Polemik im 13.Jahrhundert auf tatsächliche Streitgespräche. Deren Teilnehmer strebten ins- besondere danach, die volle Legitimität der eigenen Hermeneutik anerkannt zu sehen und den Interpretationsansatz des Gegners zu diskreditieren. Der Begriff derdisputatio verweist, über die Auseinandersetzung zwischen Juden und Chris- ten hinaus, auf das neue Diskussionsverfahren, das sich im universitären Umfeld durchsetzte und von dessen herausragenden Vertretern, denmagistri, praktiziert wurde. Zwischen dem 13. und 14.Jahrhundert gelang es diesen mit Hilfe der neuen Argumentationstechniken ihre Kompetenz in den verschiedensten Berei- chen zu behaupten und zu festigen, relativ unabhängig von den kirchlichen und staatlichen Hierarchien. In der Geschichtsschreibung wurden die dogmatischen Urteile und Zensuren im Umfeld der Universitäten lange Zeit als Ausdruck der Unterordnung unter den Gehorsamsanspruch der kirchlichen Führungsspitze bei gleichzeitigem Stre- ben nach freier Wissenschaft interpretiert. In der Tat enthüllen diese Umstände die eigentlich konkurrierenden Kraftfelder, die ihren Ursprung haben im wachsenden Anspruch dermagistri, die eigenen Kompetenzen von eher theoretischen Fragen der Theologie und Philosophie zu neuralgischen Bereichen wie Zusammenset- zung und Leitung der Kirche, Ethik, Wirtschaft und Politik, bis hin zur Lenkung von Affekten und Emotionen auszuweiten. In Bezug auf diese Lebenswelten sa- VIII Gian Luca Potestà hen sich diemagistri nicht einfach nur als „Sachverständige“, sondern als legitime Vertreter einer normativen Autorität und einer richterlichen Amtsgewalt in bezug auf dasstudium, das neben den beiden traditionellen Gegenspielernsacerdotium undregnum seinen Platz beanspruchte. Neben und gegen diese stark institutionalisierten Autoritäten traten seit dem 13.Jahrhundert und während des gesamten Spätmittelalters immer mehr charis- matische Führer und Seher, Propheten und Prophetinnen, Mystiker und Mystike- rinnen auf. Unter Berufung auf die Heilige Schrift und eine durch bisweilen sehr intensive charismatische Erfahrungen entwickelte Auslegung stellten sie eine Art „vierte Gewalt“ dar. Ihre Bedeutung wurde nachdrücklich durch die Verbreitung ihnen zugeschriebener apokalyptischer, mystischer oder prophetischer Texte be- tont. Meistens handelt es sich dabei aber um Pseudoepigraphen oder ungeklärte Autorenschaften. Diese Persönlichkeiten und die ihnen zugeschriebenen Texte beanspruchten eine Autorität für sich, welche die kirchlichen Hierarchien und Berufstheologen eingehend zu prüfen verstanden. „Geistliches Unterscheidungsvermögen“ ist ein antiker Begriff, der Sachverstand und Vollkommenheit impliziert („Probate spiri- tus, si ex Deo sint“, 1 Joh 4, 1; „Perfectorum autem est solidus cibus: eorum, qui pro consuetudine exercitatos habent sensus ad discretionem boni et mali“, Hebr 5, 14). Diese Problematik verschärfte sich seit dem 14.Jahrhundert im Zuge der im- mer dringlicheren Frage nach den tatsächlichen Autoritäten in der Kirche. Wer Unterscheidungs- und Urteilsvermögen beansprucht, muss über spezifische Mit- tel, Verfahren und Texte verfügen. Vor diesem Hintergrund formierten sich Gut- achter-Kollegien, bestehend aus Theologen, Kanonikern, Inquisitoren und Nota- ren, denen es oblag, über Wort und Schrift zu urteilen und bestimmte Verhaltens- weisen, Zeichen und Wunder zu prüfen, um Wahrheit von Fehler und Betrug zu unterscheiden. Der allmähliche Aufstieg von Laien, den Urhebern und Nutznießern religiöser Kultur, erweiterte das Spektrum und brachte vor allem im Zusammenhang mit der Verbreitung volkssprachlicher Texte und Theorien neue Probleme mit sich. Denn auch die getreueste Überlieferung eines theologischen oder devotionalen Traktats schließt eine Reihe von präliminären Eingriffen in den Text ein (beginnend mit ad-hoc-Bildungen im Wortschatz), die die autoritativen Akzente beträchtlich vom Autor zum Übersetzer und dessen Auftraggeber verschieben. Angesichts der Vervielfachung geistiger Strömungen, die darauf angelegt waren, eigene bedeutende wissenschaftliche Positionen und Lehrfunktionen darzustel- len, bezog das Papsttum nach und nach Stellung und griff in die theologischen und ekklesiologischen Kontroversen ein. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Anspruch Johannes’XXII., sich in heiklen und kontroversen Fragen persön- lich einzuschalten und sich kurzerhand, weit mehr als seine unmittelbaren Amts- vorgänger, im Rahmen der angestrebten Stärkung der päpstlichenplenitudo potes- tatis als erste Schlichtungs-, Zensur- und Urteilsinstanz anzubieten. Heftige Reak- tionen folgtensogleich von denjenigen – in erster Linie von Marsilius vonPadua –, die die päpstliche Binde- und Lösegewalt einschränkten und das Oberhaupt der