D I E Z E I T S C H R I F T D E R U N I V E R S I T Ä T Z Ü R I C H 3 ⁄ 0 2 unimagazin Aus der Arbeitswelt. Perspektiven und Analysen 2 EDITORIAL Jobnomaden und Ich-AGs Moderne Zeiten – für die Arbeitswelt in Char- Zeit zu lösen. Sie erlauben es theoretisch, eine stei- lie Chaplins gleichnamigem Film von 1936 gende Anzahl von Arbeitstätigkeiten von unter- meinte das seelenlose Fliessbandarbeit. Ein Rä- wegs oder von zuhause aus zu erledigen. Bereits in derwerk, in das die Arbeitstätigen eingespannt den70er-Jahrensagtemanvoraus,diesogenannte sind, wie eine der wohl berühmtesten Einstellun- Heimtelearbeit würde einen unweigerlichen Sie- gen der Filmgeschichte zeigt. Entgegen diesem geszug in der Arbeitswelt antreten.Weshalb sich klaustrophobischen Bild automatisierter Arbeit diese Prognosen als falsch erwiesen haben, zeigt versprechen die zahlreichen Schlagworte des In- ein Beitrag aus der Soziologie. Aus wissenschafts- formationszeitalters Befreiung: von Jobnomaden geschichtlicher Perspektive wiederum wird die Ent- spricht etwa die deutsche Publizistin und Zu- wicklung des Arbeitsplatzes Labor nachgezeichnet kunftsforscherin Gudrun Englisch, oder von der – von den Laboratorien der Alchemisten bis zur Ich-AG. heutigen Vision vom «Lab on a chip». Vorbei sind demnach die Zeiten der Festan- Künftig wird die Wissensarbeit an Bedeutung stellung und des kontinuierlichen Hochdienens in zunehmen und sich der Fokus von den einzelnen Richtung Chefsessel – die gut aus- Mitarbeitenden auf das Team verlagern. Bereits gebildeten Berufsleute von heute seit geraumer Zeit versuchen Unternehmen des- sind flexibel und mobil. Ihr Büro halb unter dem Schlagwort «Wissensmanage- ist das Laptop, das Wissen ihr ment» das Know-how ihrer Mitarbeiter besser zu Kapital. Als Lebensunterneh- nutzen und zu vernetzen. Sozialpsychologische mer, oder eben Ich-AGs, han- Methoden und Modelle leisten dabei Hilfe: Sie gelnsie sich von Projekt zu Pro- können aufzeigen, welche Rahmenbedingungen jekt. Ihre Biographien und Kar- dem Teilen und Tauschen von Wissen förderlich rieren verlaufen nicht mehr sind, wie ein weiterer Beitrag zeigt. Dass Mitspra- geradlinig, sondern setzen sich che und Partizipation im Betrieb auch für die Mo- aus einem Patchwork von Kompe- tivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern tenzen und Erfahrungen zusammen, die sie über zentral sind, macht zudem ein Artikel aus der Öko- die Jahre hinweg gesammelt haben. Mit Chaplins nomie deutlich. Die in der Wirtschaft verbreitete düsteren Visionen haben Lobeshymnen auf den Auffassung, die Motivation könne nur mit Lohn- modernen Lifestyle, wie sie Gudrun Englisch vor- anreizen beflügelt werden, greift demnach zu kurz. trägt, nicht mehr viel gemeinsam. Inwieweit dieser In der Schweiz sind immer mehr Frauen er- tatsächlich den Arbeitsalltag bestimmen wird, werbstätig. Trotz diesem Trend sind sie aber nach bleibt allerdings fraglich. wie vor weitaus schwächer ins Berufsleben inte- Unbestritten ist, dass sich die Arbeitswelt in den griert als Männer. Nicht erwerbstätig zu sein, be- letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Die rapi- deutet neben dem Ausschluss aus einem zentralen de sich entwickelnden Informations- und Kom- Lebensbereich auch finanzielle Abhängigkeit und munikationstechnologien haben vielen Arbeits- ein tiefes gesellschaftliches Prestige. Soziologin- tätigkeiten und Arbeitsumgebungen eine neue Ge- nenund Soziologen der Universität und der ETH stalt verliehen. Mit ihnen verändert haben sich die Zürich haben in einer umfassenden aktuellen Anforderungen, aber auch die Chancen und Per- Studie die Bedingungen für eine kontinuierliche spektiven für Arbeitnehmer und Unternehmen. Erwerbstätigkeit von Frauen untersucht. Neben Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft wirft das individuellen Faktoren hat sich dabei vor allem vorliegende «unimagazin» Schlaglichter auf aktu- auch die Qualität des Arbeitsmarktes als wichtig elle Themen und Trends aus der Arbeitswelt – von erwiesen. der Telearbeit bis zur Sicherheit am Arbeitsplatz, Als Forschungs- und Bildungsinstitution ist die von Fragen der Arbeitspsychologie bis zur Gleich- Universität eines der wichtigen Fundamente der ge- stellungsproblematik. Genauso werden aber auch genwärtigen und künftigen Arbeitswelt. Eine der vergangene und künftige Entwicklungen durch- Stärken des Hochschulstudiums dürfte auch wei- leuchtet. Einen Einblick in die Arbeitssituation von terhin darin bestehen, nicht fixfertige Berufsleute Flüchtlingen in der Schweiz gibt zudem der auszubilden, sondern das Forschen und Lernen zu literarische Text des kurdischen Schriftstellers lehren. Denn die so oft propagierte Flexibilität be- YusufYesilöz. ginnt schliesslich im Kopf – so gesehen ist die Uni- Computertechnik und Internet machen es zu- versität bereits bestens für den Weg in die Zukunft nehmend möglich, Arbeitsprozesse von Raum und gerüstet. Roger Nickl UNIMAGAZIN 3/02 DOSSIER ARBEIT 3 4 43 Zettelwirtschaft Produktives Alter In seinen zeichnerischen Der Trend zur immer frühe- Installationen zeigt der ren Ausgliederung kompeten- Künstler Michael Günzburger ter Menschen aus dem 18 32 einen subjektiven Blick auf Arbeitsleben erweist sich Arbeitsumgebungen. Rechner und Retorten Emotionale Tankstellen zunehmend als Sackgasse. ROGER NICKL Im Laufe der Zeit hat sich der Kantinen als Gegenmodelle FRANÇOIS HÖPFLINGER Arbeitsort Labor stark verän- zur Fabrikarbeit, Kaffee- 6 47 dert. Ein Blick auf die histori- Ecken als Informationszent- Abenteuerliche Arbeitssuche sche Entwicklung. ren in Büros: Die Gestaltung Hohe Werte Zwei Kurden machen sich auf ERNST PETER FISCHER des Pausenverhaltens hat in Inwiefern beeinflussen soziale Arbeitssuche ins Thurgauer der Arbeitswelt Tradition – Normen wie die Arbeitsmoral 22 Hinterland. Ein literarischer mit wechselnden Funktionen. die Arbeitslosigkeit in der Text um kulturelle Differen- Erfolgreich Wissen teilen GABRIELA MURI Schweiz? Resultate einer öko- zen. Sozialpsychologische Modelle nomischen Untersuchung. 36 YUSUF YESILÖZ und Methoden zeigen, wie RAFAEL LALIVE D’EPINAY, der Wissensaustausch unter Kontinuität und Unterbruch ALOIS STUTZER 9 Mitarbeitern gefördert wer- Wovon hängt es ab, ob Frau- 50 Arbeit im Gespräch den kann. en in der Schweiz kontinuier- Wie sieht das Arbeiten in KARIN S. MOSER lich erwerbstätig bleiben? Gesunde Arbeitsplätze Zukunft aus? Gerät die Ergebnisse einer soziologi- Die Arbeitsmediziner der Uni- 25 Work-Life-Balance aus dem schen Studie. versität Zürich beschäftigen Gleichgewicht, oder ent- Geld ist nicht alles IRENE KRIESI, STEFAN SACCHI, sich mit gesundheitlichen Ri- wickeln wir uns alle zu hoch Lohnanreize allein reichen MARLIS BUCHMANN siken am Arbeitsplatz und motivierten Lebensunterneh- nicht aus, die Motivation von mit Faktoren für das Wohlbe- 40 mern? Eine Diskussion. Mitarbeitern zu beflügeln. finden von Mitarbeitern. BRIGITTE BLÖCHLINGER BRUNO S. FREY, Unbezahlte Arbeit BRIGITTE MERZ MATTHIAS BENZ Der Beitrag der meist von 14 54 Frauen geleisteten, unbezahl- 29 Telearbeit ten Arbeit ist volkswirtschaft- Schlagworte diskutieren Mit Hilfe neuer Informations- Arbeitsfrust, Freizeitglück? lich von enormer Bedeutung. «Flexibilität», «Effizienz» technologien könnten viele Spricht man von der emotio- Immer noch fehlen aber und «lebenslanges Lernen» Arbeiten zu Hause erledigt nalen Seite der Arbeit, domi- genaue Methoden, um ihren sind Schlagworte der Arbeits- werden. Prognosen über die nieren meist negative Sach- Wert zu messen. welt. In der Pädagogik geben Ausbreitung der Heimtelear- verhalte. Freizeit gilt dagegen ELISABETH BÜHLER sie Anlass, Perspektiven der beit haben sich aber nicht be- als alleiniger Hort des Bildung neu zu diskutieren. stätigt. Eine Zwischenbilanz. Glücks. Eine Differenzierung. DANIEL TRÖHLER HANS GESER URS SCHALLBERGER RUBRIKEN 58 Das Buch Afghanistan am Scheideweg 60 Bau und Kunst Arbeitsort Museum 59 Porträt Weiterbildungschef Klaus Burri 63 Glosse Im Reich der Alphatiere IMPRESSUM unimagazin Herausgegeben von der Universitätsleitung der Universität Zürich durch unicommunication, Schönberggasse 15a, CH-8001 Zürich, Telefon 01/634 44 30, Fax 01/634 23 46, Internet:http://www.unicom.unizh.ch/magazin/ Leitung:Dr. Heini Ringger (E-Mail heini.ringger@uni- DieZeitschrift derUniversität Zürich com.unizh.ch). Redaktion:Roger Nickl (E-Mail [email protected] ). Gestaltung und DTP-Produktion:Atelier Peter Schuppisser, Zürich. Nr. 3, November 2002 Sekretariat:Claudia Heger. Druck:NZZ Fretz AG. Auflage:20000 Exemplare. Erscheint viermal jährlich. Bildthema/Titelbild: Michael Günzburger. Die Redaktion behält sich die sinnwahrende Kürzung von Artikeln, das Einsetzen von Titeln und Hervorhebungen vor. Beiträge von Dritten müs- sen nicht unbedingt der Meinung der Universitätsleitung der Universität Zürich entsprechen. Alle nicht entsprechend gekennzeichneten Artikel Das Magazin der Universität Zürich wurden exklusiv für dieses Magazin geschrieben. Artikel und Fakten können auch ohne ausdrückliche Genehmigung der Redaktion abgedruckt ist auf dem WWW: werden, sind aber mit dem Hinweis «unimagazin. Die Zeitschrift der Universität, Nr. 3/02» zu kennzeichnen. Davon ausgenommen sind Beiträge http://www.unicom.unizh.ch/ und Illustrationen, die mit einem Hinweis auf ein bestehendes Copyright versehen sind. Belegexemplare sind erwünscht. Die nächste Ausgabe magazin/ des unimagazins erscheint im Februar 2003. Thema: «Life Science». UNIMAGAZIN 3/02 4 BILDTHEMA Zeichnerische Zettelwirtschaft VON ROGER NICKL A m Anfang der Kreativität steht der Zufall. lem Tempo sehr viele Zeichnungen mache», er- Darauf muss man zumindest schliessen, wenn zählt der Künstler. man folgender Anekdote glauben will: Spencer Besondere Aufmerksamkeit schenkt Michael Silver, ein amerikanischer Chemiker, bekam Günzburger dabei der Qualität seines Strichs. 1970 von seiner Firma den Auftrag,einen Super- «Die drohende Routine in der Strichführung ist kleber herzustellen. Das Experiment misslang gefährlich», sagt er, «Striche werden langweilig, zünftig. Anstatt die Dinge auf alle Ewigkeit mit- sobald die Zeichenbewegungen zu regelmässig einander zu verschweissen, liess sie der Leim le- und zu sicher sind.» Deshalb pflegt er die Unsi- diglich leicht zusammenhaften. Als ihm jedoch cherheit. Diese erreicht Günzburger, indem er sich ein Freund, Mitglied in einem Kirchenchor, von ungewohnte Situationen schafft. So arbeitet er seinen Mühen berichtete, die Lesezeichen in sei- etwa bei grossen Blättern zuerst an Skizzen in ei- nem Gesangsbuch zu fixieren, hatte Silver eine nem kleinen Format. Er macht sich klar, wo was zündende Idee. Das Post-it war erfunden. Heute wie gesetzt wird. Erst dann wagt er sich an die sind die bunten Haftzettel aus dem Büroalltag endgültige Ausführung in Originalgrösse. Die nicht mehr wegzudenken. Sie dokumentieren die kreative Unberechenbarkeit kommt unter diesen Spuren vergangener Telefongespräche und ver- neuen Bedingungen wieder mit ins Spiel. weisen auf künftige Termine. Als Erinnerungs- Verdichtete Geschichten stützen kleben die kleinen Ordnungshüter an Computerterminals und Schreibmatten, in Agen- Seit 1996 sind Michael Günzburgers Zeichnun- den und an Pinnwänden. gen regelmässig an Ausstellungen zu sehen. Mit Post-its bilden auch die Grundlage für die zunehmendem Erfolg: Aufgrund seiner bisherigen zeichnerischen Installationen, die der aus Bern Arbeiten wurde ihm dieses Jahr ein Kunststipen- stammende Künstler Michael Günzburger für dium des Kantons Aargau verliehen. Bei einem dieses «unimagazin» geschaffen hat. Reduzierte, grösseren Publikum hat sich Günzburger bereits zuweilen witzig bis skurille Auslegeordnungen zuvor einen Namen als Illustrator einer 2001 re- aus dem gegenständlichen Nahbereich von Ar- gelmässig in der WoZ erschienenen Kolumne des beitsplätzen. Wichtig sind Günzburger dabei oft Autors Lukas Bärfuss sowie als Comicszeichner nicht die realen Gegenstände und Werkzeuge – beim Berner Ausgehmagazin «Bewegungsmelder» «die sindja bereits da» –, sondern ihre subjektiv gemacht. Vom Erzählen von Bildstories ist er mitt- wahrgenommene Form. «Mir geht es darum, den lerweile aber abgekommen. «Ich bin immer mehr Betrachtern die Stimmung eines Objekts zu ver- dazu übergegangen, Geschichten auf Einzelblät- mitteln», erklärt der 28-jährige Zeichner. Die tern maximal zu verdichten und das Erzählen dem Gegenstände sollen nicht immer klar erkennbar Betrachter selbst zu überlassen», sagt Günzbur- sein. Im Gegenteil, durch ihre Deutungsoffenheit ger. Die Geschichten sollen im Kopf jedes Einzel- und Ambivalenz sollen sie subjektive Assozia- nen entstehen. tionen ermöglichen. Auf das Individuelle dieses Neben dem Zeichnen beschäftigt sich Michael Blickes verweist auch der Collagecharakter der Günzburger seit längerem auch mit der Gestaltung Post-it-Arrangements: die Sujets entstehen aus am Computer. Vor zwei Jahren hat er deshalb mit mehrteiligen Wahrnehmungsfragmenten. einem Partner die Designfirma «while you wait» (www.wyw.ch) gegründet, die unter anderem für Unberechenbarer Strich den Internetauftritt der diesjährigen 1.-August- Ihre Faszination und Kraft beziehen die Arbeiten Feier an der Expo verantwortlich zeichnete. Auf Michael Günzburgers aus dem Weglassen und der der einen Seite der Pinselstift,auf der anderen die Andeutung. Aus der Spannung auch zwischen den Computertechnik – schliessen sich diese beiden wenigen, klar gesetzten Linien und dem sie um- Gestaltungsmittel nicht gegenseitig aus? «Nein», gebenden weissen Blatt – dem unbeschränkten sagt Michael Günzburger, «der Umgang mit dem Möglichkeitsraum, aus dessen Tiefe sich die Computer ist für mich letztlich genauso affektiv zeichnerische Form kristallisiert. Die Reduktion wie derjenige mit Pinsel und Papier.»Vorausge- ist dasResultat einer allmählichen künstlerischen setzt,man beherrsche dieTechnik,sei auch hier das Annäherung an den Gegenstand. «Ich arbeite Unberechenbare möglich. Der Zufall, der offen- mich an ein Thema heran, indem ich in schnel- sichtlich so massgeblich ist für die Kreativität. UNIMAGAZIN 3/02 6 ARBEITSGESCHICHTE Zöpfe der Prinzessin VON YUSUF YESILÖZ D er Heimleiter hatte am Montag im Zimmer weder rauche noch Alkohol trinke. Ich gab ihm mit acht Kajütenbetten das Taschengeld das Geld und bot ihm sogar etwas mehr an. fürdie Asylbewerber so sorgfältig verteilt, wie «Kauf dir doch lieber auch eine Tageskarte, wenn er die Zöpfe einer Prinzessin ausgeben statt mir mehr Geld zu geben, und begleite mich würde: Er setzte sich auf eine Bettkante, die auf meiner Reise», schlug er vor, stellte aller- Mappe auf den Schenkeln. Er legte eine Fünf- dings gleichzeitig die Bedingung, ich müsse zigernote auf die Mappe, darauf eine Zehner- während des Vorstellungsgesprächs meinen note, dann einen Zweifränkler und am Schluss Mund halten. Denn wenn der Chef mein bes- einen Franken. Nach jedem fertigen Geldstapel seres Deutsch höre, würde er sicher lieber mich murmelte er seine berühmten Worte «soodeli statt ihn einstellen wollen. Ich versprach ihm, und voilà». Nachdem jeder Asylbewerber mit ihn zu begleiten, in der Metzgerei nicht zu seiner Unterschrift bestätigt hatte, das Taschen- sprechen und ihm auch mein Wörterbuch, das geld für zwei Wochen entgegengenommen wir im Durchgangszentrum unterdessen «den zuhaben, händigte der Heimleiter das Geld aus. Koran» nannten, zu geben. Memet, der Jüngere, beteiligte sich danach Wenn ich schon Geld übrig hätte, sagte für einmal nicht am Kartenspiel und kaufte sich Memet, könne ich ihm ja etwas fürs Telefonie- von seinem Taschengeld drei Tage hinterein- ren geben. Ich solle ihn zur Post begleiten, wo ander eine Thurgauer Tageskarte für die Bahn. er aus einer Kabine seiner Frau anrufen könne. Er besuchte zahlreiche kurdische Flüchtlinge, Wir liefen zur Post und Memet, wie wir ihn die in diesem Kanton lebten und arbeiteten, und kannten, begann mit einem Lied: «Reyhan, du, bat sie um Hilfe bei der Arbeitssuche, damit das Bergmädchen, ich opfere dir das ganze auch er aus dem Durchgangszentrum austreten Volk, mein Schmerz ist tief, ich denke oft an könne. Der Heimleiter hatte Anfang Jahr allen, dich…» Wir lachten beide, als er damit fertig die sich schon drei Monate oder länger im war. Es sei das einzige Lied, das er könne, sagte Durchgangsheim aufhielten, einen Zettel aus- er. In der Telefonkabine schrie er so laut, dass gehändigt, damit sie in bestimmten Branchen die Passanten auf der Strasse sich umdrehten wiein der Gastronomie, im Gartenbau oder im und uns anschauten. «Frau, kratze meine Worte Pflegebereich eine Arbeit suchen konnten. Ich in dein Gehirn! Hör zu, Frau, hör zu,was ich sollte auch so einen Zettel bekommen, aber erst sage, ist honigsüss!» sagte er, «morgen gehe ich wenn ich in meinem Fluchtland sechs Monate mich vorstellen, es ist sicher, dass der Mann geschlafen habe. mich anstellt. Er wäre blind, wenn er jemand Memet hatte Glück; am dritten Tag seiner Kräftigen und Aufrichtigen wie mich nicht Arbeitsuche hatte ein Kurde, der acht Monate anstellen würde.» Memet musste schreien und zuvor in die Schweiz gekommen war, ihm mit- seinen Satz mindestens viermal wiederholen, geteilt, dass beim Metzger im Dorf,wo er ar- offenbar war die Verbindung nicht optimal. beitet, eine Stelle frei wäre. Er solle sich mel- «Sag dem Krämer, diesem Nichtbeschnittenen, den. Den Namen des Dorfes konnten wir er soll euch weiterhin Lebensmittel auf Kredit beide nicht aussprechen, Memet hatte ihn auf geben. Bald, von meinem ersten Lohn, sende einem Zettel. Wir nannten es das Dorf des ich ihm sein Geld. Ich schicke ihm sogar den Kurden. europäischen Zylinder, von dem er immer Am Abend vor seinem Vorstellungsge- träumt. Er soll auch zuden Gendarmen gehen spräch fragte mich Memet, ob ich ihm siebzehn und von sich aus diesen Gaunern Geld geben, Franken für eine neue Tageskarte leihen könn- damit sie euch in Ruhe lassen. Er muss den te, er wisse, dass ich noch Geld hätte, da ich Kommandanten hinhalten…» Wir liefen nach seinem Telefon nach Hause, Memet sang sein Lied, er schien ganz glücklich zu sein, ihm fehlte Der kurdische Schriftsteller Yusuf Yesilöz nur noch das Fliegen. lebt in Winterthur. Seine Texte schreibt er auf Am nächsten Morgen weckte ich ihn. Me- Deutsch. Zuletzt erschien von ihm der Roman met rasierte sich, wusch sich und zog Meleks «Der Gast aus dem Ofenrohr» im Rotpunktverlag, neue Jacke an. Er sah aus wie einer, der auf Zürich 2002. Brautschau geht. Mulla, der Zimmerälteste, der UNIMAGAZIN 3/02 8 ARBEITSGESCHICHTE schon Deutsch konnte, sollte dem Heimleiter solle übersetzen, ich sei krank, könne kein sagen, ich sei nach draussen gegangen, falls die- Deutsch und sei bloss hier, weil mir sonst im ser nach mir fragen sollte. Doktor Wirz habe Durchgangszentrum langweilig wäre. Der an- mir geraten zu reisen und mich möglichst oft dere Kurde meinte, dass er das alles nicht über- an der frischen Luft aufzuhalten, weil diese für setzen könne, und wandte sich der Frau zu, die ein Magengeschwür Balsam sei. Im Zug, schon unterdessen Gläser mit Cola für uns füllte. zu dieser frühen Morgenstunde, sang Memet «Kollege, Kollege!» «Ja, ja, schön», sagte die sein Lied. Die Mitreisenden schauten uns so er- Frau und stellte zum Glück keine weiteren Fra- staunt an, als ob wir gerade aus dem Irrenhaus gen mehr, aber Memet wurde von beiden, ausgebrochen wären. Mann und Frau, von unten bis oben gemustert. Der Chef der Metzgerei, der dicker war als Ich merkte, wie er zitterte. unser Mulla, und seine kleine, etwas mollige Der andere Kurde schilderte Memet, was zu Frau bedienten in rot-weiss gestreiften Anzügen tun sei, Memet würde genau die gleiche Arbeit die Kundschaft, als wir eintraten. Sie fragten verrichten wie er. Sie würden mit dem Chef zum uns etwas. Wahrscheinlich wollten sie wissen, Schlachthof fahren, das Fleisch putzen, den was wir kaufen wollten. Memet nannte seinen Schlachthof putzen, das Fleisch transportieren Namen, sonst nichts. Nachdem die Frau und und am Abend die Metzgerei putzen. Es sei eine der Mann etwas besprochen hatten, sagte die anstrengende Arbeit, aber die Frau des Chefs Frau: «Ahaaa…» Sie sprach weiter – für uns zu sei sehr nett und der Chef eigentlich auch. Man schnell, wir verstanden nichts. Ich nahm das habe für jeden Arbeiter ein Zimmer in einem Wörterbuch aus meiner Jackentasche und Haus am Rande des Dorfes, dort sei es ange- reichte es ihr. Die Frau sprach weiter, während nehm, ausser wenn die Inder, die auch im sie das Wörterbuch zugeklappt in der Hand Schlachthof angestellt wären, einen Topf voll hielt, und betonte jede Silbe. Ich hörte «zwei Zwiebeln brieten. Dann stinke das ganze Haus Uhr» heraus. Natürlich verriet ich nicht, dass jeweils tagelang. ich etwas verstanden hatte. Offenbar hatte auch Memets Augen funkelten, als er von seiner Memet «zwei Uhr» verstanden. Er wandte sich zukünftigen Tätigkeit hörte. «Im Dorf habe ich an mich und sagte in einem Tonfall, der verriet, sogar Ochsen geschlachtet, das kann ich auch dass er sich ungerecht behandelt fühlte: «Die- hier tun.» Darauf grinste der andere Kurde se Gurke hat mir nicht gesagt, ich solle erst um undstellte seine Zahnlücken zur Schau: «Hier zwei kommen. Er hat nur gesagt, komm mor- schlachtet man nicht. Die Tiere werden mit gen!» Mit Gurke meinte er den anderen kurdi- einem Schuss in den Kopf getötet. Man will kein schen Angestellten der Metzgerei. Wir drehten fliessendes Blut sehen.» Memet starrte den Chef uns um, «Danke» konnten wir beide sagen, und an. «Das ist ja mundar, unrein!» warteten bis fünfvor zwei am Bahnhof, wo die Später nahm der Chef Memets Zettel ent- Reisenden uns Fremdlinge anstarrten. Dann gegen, den ihm der Heimleiter mitgegeben liefen wir den gleichen Weg, die Hauptstrasse hatte, und sagte, es sei in Ordnung. Er werde entlang, zurück zur Metzgerei, während Me- morgen mit dem Heimleiter sprechen, Memet met sein Liebeslied sang. könne am Ersten des kommenden Monats be- Der andere Kurde war nun auch da. Er ginnen. Er müsse aber zuerst zwei Tage schnup- grinste, in seinem Mund fehlten zwei Schnei- pern. Bis wir das alles verstanden hatten, blät- dezähne. Er sagte, er habe gehört, wir seien zu terten wir und auch der Chef minutenlang im früh dagewesen. Der Chef habe ihn zum Über- Wörterbuch. Memet war glücklich, und wir setzen geholt, obwohl er auch nicht viel verste- kehrten wieder nach Frauenfeld zurück. Er he. Die Frau des Metzgers bat uns in den hin- meinte, dass ich ihm Glück gebracht hätte. teren Raum der Metzgerei, sie wollten von dem Lachend sagte er,erwürde mirvon seinem ers- anderen Kurden wissen, wer ich wäre und war- ten Lohn eine Flasche Alucol-Sirup kaufen und um ich mitgekommen sei. Bevor ich etwas ant- darüber hinaus aus dem Koran zitieren, dann worten konnte, sagte Memet dem Kurden, er würde ich geheilt. UNIMAGAZIN 3/02 DISKUSSION 9 Gestern Lebensstelle, morgen Lebensunternehmer Wie sieht das Arbeiten in Zukunft ten auch Angestellte am besten alleine, und man kann es nicht aus? Gerät die Work-Life-Balance wie selbständige «Entrepreneurs» befehlen. Man kann es nur ermög- aus dem Gleichgewicht, oder ent- funktionieren. lichen, insbesondere durch Selbst- wickeln wir uns alle zu hoch mo- MARGIT OSTERLOH: Der Anteil an bestimmung und Partizipation in tivierten Lebensunternehmern? Wissensarbeit wird zunehmen. der Arbeit sowie durch faire Be- Eine Diskussion mit den Wissen- Der Fokus wird sich vom Indivi- handlung. schaftlerinnen und Wissenschaft- duum auf das Team verlagern. lern Gudela Grote, Margit Oster- loh, Matthias Kunz und Alexander Salvisberg. ALEXANDER SALVISBERG TEXT UND MODERATION: «Man kann sich schon BRIGITTE BLÖCHLINGER fragen: Wer sind denn heute die Helden der An den Arbeitnehmer, die Ar- beitnehmerin von heute werden Arbeit? Das sind doch die, höchste Anforderungen gestellt. die zweihundert Prozent Wie sieht der optimale Arbeit- arbeiten und sich kaum zu nehmer in zehn Jahren aus? Hause blicken lassen.» MATTHIAS KUNZ: Die Anforderun- gen an die Hard Skills, das heisst an die Ausbildung, werden auch weiterhin kontinuierlich zuneh- men. Die lebenslange Weiterbil- dung wird bestimmt noch zent- Nehmen wir als Beispiel die Ar- Nicht jeder spürt beim Arbeiten raler werden – eine recht neue beit von Modedesignern, die eine die «Flow Experience». Wie wir- Entwicklung übrigens, erst seit neue Kreation aushecken: In ken sich die hohen Anforderun- ungefähr zehn Jahren taucht im ihrem kreativen Prozess wird nie gen auf die Persönlichkeit der ein- Stelleninseratemarkt die Forde- auseinander dividiert werden zelnen Individuen aus? rung nach Weiterbildung in grös- können, wer genau welchen Input serem Ausmass auf. Dann werden zum gemeinsamen Output beige- GUDELA GROTE:In einer unserer Un- Motivation und Identifikation tragen hat. Weil bei Wissensarbeit tersuchungen haben wir unter an- mit der Arbeit und der Betriebs- die individuelle Leistung im Team derem Personen befragt, die be- kultur vor allem im Dienstleis- schwer zugerechnet werden kann, wusst keine geradlinige Laufbahn tungsbereich noch wichtiger wer- müssen Teammitglieder auch eingeschlagen, sondern zum Teil den. stärker als bei traditioneller Ar- sichere Stellen aufgegeben haben, ALEXANDER SALVISBERG: Die An- beit intrinsisch motiviert sein. Das um flexiblere Arbeitsformen aus- forderungen an die Soft Skills sind bedeutet, dass sie weniger durch probieren zu können. Entspre- aber nicht wirklich gestiegen, die externe, insbesondere monetäre chend gut konnten sie mit Unsi- Werte haben sich einfach ver- Anreize motiviert sind. Vielmehr cherheiten umgehen – wie es von schoben: von zuverlässig, seriös, ziehen sie aus der Arbeit selbst vielen Arbeitgebern heute ja ge- treu, ehrlich zu anpassungsfähig, Befriedigung, weil sie herausfor- fordert wird. flexibel, sich selbst motivieren, dernd ist und ihnen Spass macht. Doch das ist bei weitem nicht selbst Ziele setzen können, ini- Sie ermöglicht, was Motiva- die Mehrheit; viele Menschen tiativ und teamfähig. Heute soll- tionsforscher «Flow Experience» können und wollen sich nicht genannt haben, also ein Voll-in- auf neue Arbeitsmodelle einlas- der-Arbeit-Aufgehen. Ein solches sen, sondern suchen eine sichere Brigitte Blöchlinger ist freie überdurchschnittliches Engage- Arbeit im traditionellen Sinn; in Journalistin. ment wächst natürlich nicht von den neuen Arbeitsformen sehen unimagazin3/02 10 DISKUSSION sie keine Chance für sich, sondern tung von stumpfsinniger, harter men gegründet als während des eine Überforderung – da sind die physischer Arbeit zu beobachten, IT-Booms. Es gibt nach wie vor Unternehmen gefordert, sie müs- gleichzeitig werden an die geistige viele Leute, die ihre Pläne erfolg- sen ihre Erwartungen besser ver- Arbeit höhere Ansprüche gestellt reich weiterverfolgen – mit rea- mitteln und geeignete Strukturen – im Grossen und Ganzen sehe ich listischeren Vorstellungen aller- schaffen, damit ihre Angestellten die Entwicklung positiv. dings. Es ist also nicht so, dass bis mit den neuen Anforderungen vor zwei Jahren die totale Eupho- wachsen können. Bis Frühling 2000 herrschte auch rie herrschte und jetzt Katerstim- in der Schweiz dank dem IT- mung. Man gewinnt den Eindruck, dass Boom eine geradezu amerika- OSTERLOH: Man muss unterschei- das Arbeiten für alle anspruchs- nisch anmutende Aufbruchsstim- den, von welchem Optimismus voller wird. Oder täuscht das? mung, viele gründeten eine eigene man spricht: jenem, viel Gewinn Firma und wurden CEO, selbst zu machen, oder in vernünftigem Rahmen selbständig zu arbei- ten. Vielleicht besinnen sich die Leute heute wieder mehr auf die Arbeitsinhalte und nicht so sehr auf das schnelle, ganz grosse GUDELA GROTE Geld. «Hohe Ansprüche an die Arbeit müssen nicht Historisch betrachtet, nimmt die negativ sein. Sie sind auch Menge von Arbeit ab; die Ar- eine Chance, eigene Kom- beitszeit schrumpft, die Bedeu- petenzen zu entwickeln.» tung der Freizeit steigt. Schaut man sich jedoch gewisse Berufs- zweige an, sieht man sich einem Heer von Überstundenmachern gegenüber. Wie schätzen Sie die- se widersprüchlichen Trends ein: Nimmt die Bedeutung der Arbeit zu oder ab? SALVISBERG: Autonomie, Flexibi- wenn sie keine entsprechende Er- KUNZ: In den Achtzigerjahren kam lität, Entscheidungsfähigkeit, po- fahrung mitbrachten.Wie viel von – unter anderem vertreten von sitiver Umgang mit Unsicherhei- diesem Optimismus wird sich in André Gorz – die Meinung auf, ten – das sind ja alles Parameter, die mittlerweile doch eher düster die industrialisierte Gesellschaft die nicht nur in der Arbeit wirkende Zukunft hinüberretten rationalisiere sich zu Tode. Heu- zunehmend von Bedeutung sind. lassen? te wissen wir, dass das ein Mythos In allen Bereichen unseres Lebens ist. Die Arbeitsgesellschaft wird haben wir ja mittlerweile keine GROTE: Heute werden gar nicht mit Sicherheit nicht aussterben. andere Wahl als zu wählen, müs- markant weniger Start-up-Fir- Speziell bei interessanten Jobs lei- sen wir uns als unsere eigenen «Lebensunternehmer» bewähren. KUNZ: Was sich jedoch ändert, ist Gesprächsteilnehmer das Tempo, mit dem einmal ge- GUDELA GROTE ist Direktorin des In- MARGIT OSTERLOH ist Direktorin des setzte Werte zerstört und durch stituts für Arbeitspsychologie der ETH Instituts für Betriebswirtschaftliche For- Zürich. schung an der Universität Zürich. neue ersetzt werden. Das versetzt viele in Stress. FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE: FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE: Auswirkungen der Arbeitsflexibilisierung Organisationsforschung, Motivations- GROTE: «Anspruchsvolle» Arbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung, und Wissensmanagement, Technolo- braucht aber nicht automatisch Wechselwirkung von Organisation und gie- und Innovationsmanagement, Frau- negativ konnotiert zu sein. Als Technologie, Sicherheitsmanagement. en in Unternehmen. Arbeitspsychologin kann man es MATTHIAS KUNZist wissenschaftlicher ALEXANDER SALVISBERG ist Assistent auch so sehen: Werden höhere Mitarbeiter am Soziologischen Institut am Soziologischen Institut der Univer- Ansprüche an mich gestellt, steckt der Universität Zürich und Geschichts- sität Zürich. auch mehr Chance für die eigene lehrer. FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE: Kompetenzentwicklung darin. FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE: Arbeitsmarkt und sozialer Wandel, Schlüs- Arbeitsmarkt und Zeitgeschichte. selqualifikationen in Stelleninseraten. OSTERLOH:Es ist auch eine Entlas- UNIMAGAZIN 3/02
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