Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive Herausgegeben von Sonja Lavaert und Winfried Schröder ISBN 978-3-11-055328-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055500-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055336-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: © Sonja Lavaert, Risiera di San Sabba (Privatsammlung) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com. Inhalt Sonja Lavaert – Winfried Schröder Einführung 1 James Schmidt What, if Anything, Does Dialectic of Enlightenment Have to Do with “the Enlightenment”? 11 Gunzelin Schmid Noerr Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der Dialektik der Aufklärung 29 Oliver R. Scholz Nachgedanken zu Nachtgedanken: Die Dialektik der Aufklärung im Rückblick 53 Dietrich Schotte Shadow History witha Hidden Agenda? Francis Bacon als Positivist in der Dialektik der Aufklärung 83 Pierre-François Moreau Adorno und Horkheimer als Spinoza-Leser 113 Sam Fleischacker Kant in the Dialectic of Enlightenment 123 Marcel Hénaff Welches Aufklärungsprojekt? Sade und Kant in der Dialektik der Aufklärung 143 Else Walravens Moses Mendelssohns Idee eines Missbrauchs und einer Korruption von Kultur und Aufklärung. Eine Aufklärungskritik aus aufklärerischer Sicht 179 VI Inhalt Petra Gehring Dialektik oder Parrhesiastik der Aufklärung? Horkheimer/Adorno und Foucault 201 Sachregister 219 Namenregister 223 Zu den Autorinnen und Autoren 227 Sonja Lavaert – Winfried Schröder Einführung Vor inzwischen mehr als 70 Jahren im Druck erschienen, ist die Dialektik der Aufklärung nach wie vor nicht dort angelangt,wo ein Großteil philosophischer TextejenerZeitseineletzteRuhegefundenhat:immusealenFundusderPhilo- sophie des vergangenen Jahrhunderts. Noch immer wird diesem Text aktuelle theoretischeRelevanznichtnurinderPhilosophie,sondernauchindenSozial- wissenschaften, in der politischen Theorie und in der Kulturphilosophie und -kritik attestiert, und es ist festzustellen, dass auch der philosophiehistorische BlickaufdieAufklärungbisheuteoftdurchdiesesBuchbeeinflusstist. Die Dialektik der Aufklärung ist nicht primär ein Buch über die historische Epoche,diedenNamen‚ZeitalterderAufklärung‘trägt.Abereshandeltsichdoch auchumeineAuseinandersetzungmitdenprogrammatischenIdeen,dieinjener Epoche ihren Ursprung haben, und mit einigen ihrer Väter und Protagonisten. Schon im Auftakt stellen die beiden Verfasser klar,dass ihreigentliches Thema „AufklärungimumfassendstenSinnfortschreitendenDenkens“¹,alsodiskursives Denken,RationalitätundderenVerschränkungmitHerrschaftist.²Diebisheute anhaltenden Diskussionen über die Dialektik der Aufklärung gelten weit über- wiegendebendiesersystematisch,nichthistorischangelegtenRationalitätskritik. DieBeiträgedesvorliegendenBandesschaltensichnichtindieseDiskussionein. Sie fragen vielmehr nach der Angemessenheit von Horkheimers und Adornos Interpretationen der Aufklärer und Proto-Aufklärer von Bacon bis Kant. Dies ist ausmehralseinemGrundeangezeigt. ZumeinenverlangtderenormeEinflussderDialektikderAufklärungaufdas geläufigeBildderPhilosophiederAufklärungnacheinerkritischenÜberprüfung. Wenndiesealseineambivalente,fragwürdigeodergarverhängnisvolleStrömung derneuzeitlichenPhilosophieangesehenwird,istsehrhäufigvoneinerAnregung durch die entsprechenden Thesen des Buches von 1947 auszugehen. Der unge- heuerliche Gedanke, dass die Ideale der Aufklärung die fatalen Entwicklungen der Moderne herbeigeführt haben, dass die Aufklärung gar die Mutter des Fa- Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,25:„SeitjehatAufklärungimumfassendsten SinnfortschreitendenDenkensdasZielverfolgt,vondenMenschendieFurchtzunehmenundsie alsHerreneinzusetzen.AberdievollendsaufgeklärteErdestrahltimZeichentriumphalenUn- heils.“ Vgl.auchHorkheimersinseinemBriefanFriedrichPollockvom7.Mai1943verwendeteFormel „die Aufklärung, wie sie sich im ersten Gedanken eines Menschen ausprägte“; Gesammelte Schriften,XII,446. https://doi.org/10.1515/9783110555004-001 2 SonjaLavaert–WinfriedSchröder schismus und des Nationalsozialismus war, ist zu einemverbreiteten Toposge- worden.IhmwärevielleichteineinitialePlausibilitätnichtabzusprechen,wenn denntatsächlicheineabschüssigeBahnvomSapereaudeKantszudenCentvingt journéesdeSodomedesMarquisdeSadeführte,wieHorkheimerundAdornoesin dem„ExkursII:JulietteoderAufklärungundMoral“zubelegenversuchen.³Kurz: Von den Bacon-, Spinoza- und Kant-Interpretationen hängen philosophie- und ideologiegeschichtliche Filiationen ab, deren Konsequenzen überaus weitrei- chendsind.InsbesonderemüsstediegeläufigeSichtgrundsätzlichrevidiertbzw. verworfen werden, dass antiaufklärerische Strömungen wie die Romantik und nationalistischeoderautoritäreIdeologienàladeMaistre⁴fürdiemenschheits- geschichtlichen Katastrophen mitverantwortlich sind, die Horkheimer und AdornobeiderNiederschriftderDialektikderAufklärungvorAugenstanden. Zum anderen sind die philosophiehistorischen Thesen, Analysen und Ex- kurseinderDialektikderAufklärungkeinegelehrteZutat,sonderneinetragende Säule dersystematischangelegtenRationalitätskritikder beiden Frankfurter.Es fällt nicht schwer zu sagen, wie diese ohne den Rekurs auf die historischem Theoriebestände der Aufklärung dastünde: Sie müsste sich auf – vorsichtigge- sagt–gewagteundhochspekulativeThesenstützen:soetwaaufdieBehauptung, dass die „Abstraktion“ und die„Subsumtion“ von EinzeldingenunterUniversa- lien diesen Gewalt antue⁵ sowie auf die Tilgung von Differenzen⁶ und die „Ne- gationjedes Einzelnen“⁷hinauslaufe,oder aufdie höchsteigenwilligeSichtauf die „formale Logik“, die „die große Schule der Vereinheitlichung“⁸ und der „Triumph der repressiven Egalität“⁹ sei. Angesichts dieser Pauschalität und GroßformatigkeitihrerThesenwarendiebeidenFrankfurtergutberaten,esnicht Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,104ff. Vgl. Sternhell, Les anti-Lumières. Une tradition du XVIIIe siècle à la guerre froide. Das weit ausgreifendePanoramagegenaufklärerischerIdeologien,dasSternhellentwirft,legtdiesege- läufigeSichtnahe,auchwennSternhellselbstsichnichtexplizitindiesemSinneüberdieDia- lektikderAufklärungäußert. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 35: „Die Abstraktion, das Werkzeugder Auf- klärung,verhältsichzuihrenObjektenwiedasSchicksal,dessenBegriffsieausmerzt:alsLi- quidation.“;vgl.50:„dieSubsumtiondesTatsächlichen“. Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,34:„Wasanderswäre,wirdgleichgemacht.“; vgl.auch35:„Aufklärung[…]schneidetdasInkommensurableweg.NichtbloßwerdenimGe- danken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen.“ Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,35. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 29; vgl. auch 36: „Die Allgemeinheit der Ge- danken,wiediediskursiveLogiksieentwickelt,dieHerrschaftinderSphäredesBegriffs,erhebt sichaufdemFundamentderHerrschaftinderWirklichkeit.“ Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,35. Einführung 3 bei deren systematisch-spekulativer Darlegung zu belassen, sondern die Stich- haltigkeit und die Sachhaltigkeit ihrer Rationalitätskritik anhand historischer Referenztheorien zu belegen. Kritiker der Dialektik der Aufklärung haben nicht seltenAnstoßdarangenommen,dassdiebeidenVerfasserThesenwiedievonder „IdentitätvonHerrschaftundVernunft“¹⁰imModusderbloßenBehauptungund der rhetorischen Beschwörung vorgetragen hätten.Tatsächlich jedoch beziehen Horkheimer und Adorno sich nicht allein auf die Rationalität in abstracto (die „Aufklärung“ im Sinne des Auftakt-Satzes des Buches), sondern auch auf kon- krete Theorien der historischen Aufklärung (sie sprechen präzisierend von der „AufklärungderneuerenZeit“¹¹),und sie taten dies auseinemargumentations- strategisch nachvollziehbaren Grund: Anhand der Texte von Bacon, Spinoza, Kant und de Sadeließ sichgünstigenfalls die verhängnisvolle Dynamikder Ra- tionalitätadoculosdemonstrieren.FürHorkheimerundAdornosinddieTexteder Aufklärungsphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts auch insofern wertvolle BelegefürihreRationalitätskritik,alserstinihnen–undzwarnichtnurbeide Sade–dieimbegrifflich-diskursivenDenkenimmerschonangelegte„Radikali- tät“¹²offenzutagetritt. DasBild,dasHorkheimerundAdornoinihremBuchvon1947vonderAuf- klärung des 17. und 18. Jahrhunderts gezeichnet haben, ist, auch wenn es an Einsprüchen nicht gefehlt hat¹³, bis heute höchst einflussreich. Auch manchen Autoren,diedersystematischenRationalitätskritikderbeidenFrankfurterindif- ferentoderskeptischgegenüberstehen,geltenderenInterpretationenderAnreger undProtagonistenderAufklärung–vonBaconüberSpinozabiszuKantundde Sade – häufig als bedenkenswert.¹⁴ Verstärkend dürfte in dieser Hinsicht die postmoderne Rationalitätskritik¹⁵ seitden 1960er Jahrengewirkt haben.Die Be- rührungspunkte der Dialektik der Aufklärung mit einigen Arbeiten Michel Fou- Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,142f. Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,115. Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,115. Vgl.Nielsen,„EnlightenmentandAmoralism“;O’Neill,„EnlightenmentasAutonomy“;Nei- man,EvilinModernThought,170–196;Williams,„AnEnlightenmentCritiqueoftheDialecticof Enlightenment“;Mensching,„HatderMarquisdeSadedieVernunftentlarvt?ZueinemKapitelder DialektikderAufklärung“;Domenech,L’éthiquedesLumières. Vgl.Crocker,NatureandCulture.EthicalThoughtintheFrenchEnlightenment;Kondylis,Die AufklärungimRahmendesneuzeitlichenRationalismus,490ff.;Dorschel,NachdenkenüberVor- urteile,151ff. Vgl.Wilson,„PostmodernismandtheEnlightenment“;Wellmer,ZurDialektikvonModerne undPostmoderne. 4 SonjaLavaert–WinfriedSchröder caults¹⁶ (der das Buch erst sehr spät kennengelernt hat¹⁷) sind teilweise bemer- kenswert.WerFoucaultsSurveilleretpunirvon1975zurHandnahm,bekamdort anhandvonBenthamsPanopticon¹⁸vorgeführt,wie,sozusagenineinemdialek- tischen Umschlag,eine humanitäreIntention(die von Benthamvorgeschlagene Strafvollzugsreform) in ihr Gegenteil (Techniken lückenloser Überwachungund derTotalverlustvonPrivatheit)degenerierte.EsdürfteübrigensBenthamsPole- mikgegendieMenschenrechteals„nonsenseuponstilts“¹⁹sein,dieHorkheimer undAdornoimAugehaben,wennsiediemoraldestruktiveTendenzderAufklä- rungmitdenWortenkommentieren:„IhreneigenenIdeenvonMenschenrechten ergehtesnichtandersalsdenälterenUniversalien“.²⁰ Vgl.„EntretienavecMichelFoucault“,892:„Encequimeconcerne,jepensequelesphilo- sophesdecetteécole[sc.l’écoledeFrancfort]ontposédesproblèmesautourdesquelsonpeine encore:notamment,celuideseffetsdepouvoiravecunerationalitéquis’estdéfiniehistorique- ment,géographiquement,en Occident, àpartirdu XVI°siècle. L’Occident n’auraitpas puat- teindrelesrésultatséconomiques,culturelsquiluisontpropres,sansexercicedecetteforme particulière de rationalité. Or comment dissocier cette rationalité des mécanismes, des pro- cédures,destechniques,deseffetsdepouvoirquil’accompagnentetquenoussupportonssimal enlesdésignantcommelaformed’oppressiontypiquedessociétéscapitalistesetpeut-êtreaussi de sociétés socialistes? Nepourrait-on pasenconclure quelapromesse del’Aufklärungd’at- teindrelalibertéparl’exercicedelaraisons’est,aucontraire,renverséedansunedominationde laraisonmême,laquelleusurpedeplusenpluslaplacedelaliberté?[…]ceproblème[…]aété[…] signaléparHorkheimerparanticipationsurtouslesautres[…]c’estl’écoledeFrancfortquia interrogé,àpartirdecettehypothèse,lerapportàMarx.“Vgl.Erdmann/Forst/Honneth(Hrsg.), EthosderModerne:FoucaultsKritikderAufklärung. Vgl.„EntretienavecMichelFoucault“,893:„Sij’avaislucesœuvres,ilyauntasdechosesque jen’auraispaseubesoindedire,etj’auraisévitédeserreurs.Peut-êtreque,sij’avaisconnules philosophesdecetteécolequandj’étaisjeune,j’auraisététellementséduitpareuxquejen’aurais rienfaitd’autrequedelescommenter.“ Bentham,PanoptikumoderdasKontrollhaus;vgl.Brunon-Ernst(Hrsg.),BeyondFoucault:New Perspectives on Bentham’s Panopticon. – Ganz ähnlich hat vor wenigen Jahren ein Historiker (AndreasSchlieper)ineinemBuchmitdemsprechendenTitelDasaufgeklärteTötendieGuillotine sozusagenindenRangeinesrealenEmblemsderAufklärungerhoben.Auchhierbegegnenwir demselbenParadox:LeitendwarfürdenErfinderderHinrichtungsmaschinezweifellosdieAb- sicht,denStrafvollzugdurchdieAbschaffungderbisdahinüblichenMarterqualenzuhumani- sieren.AberdasErgebniswarendiequantitativenExzesseseriellenTötensimterreurderFran- zösischenRevolution.SchliepernenntdieGuillotinegradezuein‚InstrumentderAufklärung‘, wenngleichbeimThema‚AufklärungundTodesstrafe‘zunächsteinmalanCesareBeccariaund sein epochales Buch Delle delitti e delle pene und seine Kampagne gegen die Todesstrafe zu denkenist. Bentham,Rights,Representation,andReform:NonsenseuponStiltsandOtherWritingsonthe FrenchRevolution,364;vgl.Waldron,NonsenseuponStilts. Horkheimer/Adorno,DialektikderAufklärung,28.