J. Buchmann B. Bülow Asymmetrische frühkindliche Kopfgelenksbeweglichkeit Bedingungen und Folgen Untersuchungen zur Bewegungs- und Entwicldungssymmetrie von Kopf, Rumpf und Becken Mit 15 Abbildungen und 121 Tabellen Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Dr. sc. med. Joachim Buchmann Dr. sc. med. Barbara Bülow Klinik für Orthopädie Bereich Medizin der Wilhelm-Pieck-Universität Fiete-Schulze-Str. 45, DDR-2500 Rostock Mathematische Beratung: Prof. Dr. sc. med. Joachim Töwe Abteilung für medizinische Dokumentation und Statistik Bereich Medizin der Wilhelm-Pieck-Universität Rembrandtstr. 16-17, DDR-2500 Rostock CIP-litelaufnahme der Deutschen Bibliothek Buchmann, Joachim: Asymmetrische frühkindliche Kopfgelenksbeweglichkeit: Bedingungen u. Folgen; Unters. zur Bewegungs-u. Entwicklungssymmeirie von Kopf, Rumpf u. Becken / J. Buchmann; B. Bülow. - Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo: Springer, 1989 ISBN-13: 978-3-540-19458-3 e-ISBN-13: 978-3-642-73854-8 DOI: 10.1007/978-3-642-73854-8 NE: Bülow, Barbara Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über setzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungs anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der Fassung vom 24. Juni 1985 zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1989 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Waren- zeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. 2119/3140-543210 - Gedruckt auf säurefreiem Papier Vorwort Dieses Buch ist das Ergebnis einer Auswertung eigener Untersuchungs daten. Sie stammen von offensichtlich gesunden, in ihrer wesentlichen Entwicklung unauffälligen Kindern. Mitteilungen über und eigene Beobachtungen von funktionellen und morphologischen statomotorischen Asymmetrien bei Kleinkindern hat ten uns zum Versuch einer derartigen Longitudinalstudie veranlaßt. Mit ihr wollten wir herausfinden, ob solche frühen Asymmetrien zufallig sind oder ob sie bestimmbaren Verteilungsregeln folgen und ob sie auf zu erwartende Erkrankungen des Halte- und Bewegungssystems hin weisen, vielleicht sogar deren Initialstadien darstellen. Gefunöen haben wir eine statistisch belegbare Musterverteilung von Symmetrieabweichungen, welche die Normalentwicklung von Kopf, Wirbelsäule und Becken bei Kleinkindern kennzeichnen. Diesen Asym metriekombinationen kommt jeweiliger Individualcharakter, nicht aber notwendiger gegenwärtiger oder künftiger Krankheitswert zu. Wir glauben, damit die gelegentlich überbetonte Behandlungsbedürf tigkeit frühkindlicher motorischer Asymmetrieerscheinungen entschei dend eingeengt zu haben. Je nach Interesse findet der Leser praktisch nutzbare oder theoreti sche und diskussionswürdige Informationen. Einige Hinweise seien ge stattet: Alle Einzelheiten zu Untersuchungsbedingungen und zur Untersu chungstechnik werden im Abschnitt 4 dargestellt. Eine zusammenfas sende Erörterung der Entwicklung von Wirbelsäule, Becken und Schä del findet sich in den Abschnitten 2.3.3.1. bis 2.3.3.3. Das passive Bewe gungsverhalten der Wirbelsäule wird in den Abschnitten 5.2.5. bis 5.2.10. und in den Abschnitten 6.1. sowie 6.2. aufgezeigt. Die Bewe gungsausmaße des Hüftgelenkes schildern die Abschnitte 5.2.1. bis 5.2.3. und 6.5.; Abschnitt 5.2.11. und Abschnitt 6.6. erläutern Einzelhei ten der röntgenologischen Beckendarstellung. An dieser Stelle muß an gemerkt werden, daß uns im Untersuchungszeitraum in diesem Zusam menhang aussagefähige Ultraschalldarstellungen des knöchernen Bek kens nicht möglich waren. In den Abschnitten 5.2.4. und 6.4. werden Beobachtungen der Ge sichts- und Hirnschädelentwicklung erörtert. Vorstellungen über die propriozeptive Bedeutung der Wirbelsäule und über die Ursache von Funktionsasymmetrien am Bewegungssystem erläutern die Abschnitte 2.3.4. bis 2.3.6. Die Abschnitte 2.1. bis 2.3.3. schließlich geben eine V Übersicht über allgemeine Symmetrie- und Asymmetrieprobleme und über deren Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Abschließend möchten wir unserer Hoffnung Ausdruck verleihen, daß unsere Beobachtungen und deren Interpretation als Basis für eine praxisrelevante Bewegungs-und Entwicklungsdokumentation, für kriti sche und polemische Standortdiskussionen, aber auch für vertiefende und weiterführende Untersuchungen verstanden werden. Rostock, September 1988 Joachim Buchmann Barbara Bülow VI Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1 2 Symmetrie und Asymmetrie bei Entwicklung, Funktion und Form des menschlichen Halte- und Bewegungssystems 3 2.1 Allgemeine und formale Aspekte von Symmetrie und Asymmetrie belebter Strukturen ............... 3 2.2 Symmetrie und Asymmetrie belebter Strukturen in der stammesgeschichtlichen Entwicklung ............ 4 2.3 Allgemeine Symmetrie und Asymmetrie in Funktion und Form des menschlichen Halte- und Bewegungssystems .. 7 2.3.1 Die Seitigkeit des Menschen ................. 8 2.3.2 Beziehungen zwischen Funktion und Form des Halte- und Bewegungssystems beim Säugling und Kleinkind ..... 10 2.3.3 Symmetrie und Asymmetrie in Funktion und Form des Halte- und Bewegungssystems beim Säugling und Kleinkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13 2.3.4 Die propriozeptive Rolle der menschlichen Wirbelsäule 22 2.3.5 Ursachen für Funktionsasymmetrien an der menschlichen Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26 2.3.6 Übergänge von funktionellen zu morphologisch fixierten Asymmetrien am Halte- und Bewegungssystem beim Säugling und Kleinkind . . . 29 3 AufgabensteUung . . . . . . . 41 4 Material und Methodik ......... . 43 4.1 Untersuchungsgut ............ . 43 4.2 Untersuchungszeitraum ..... 43 4.3 Untersuchungsort 44 4.4 Untersuchungsbedingungen 44 4.5 Untersuchungsprogramm ....... . 44 4.6 Befunddokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 45 VII 4.7 Untersuchungsschritte . . . . . . . . . . . . . 45 4.7.1 Erstuntersuchung (1.-4. Lebenstag) ..... 46 4.7.2 Zweite Untersuchung im Alter von 1 Monat 49 4.7.3 Dritte Untersuchung im Alter von 2 Monaten 49 4.7.4 Vierte Untersuchung im Alter von 3 Monaten 50 4.7.5 Fünfte Untersuchung im Alter von 4 Monaten 50 4.7.6 Sechste Untersuchung im Alter von 9 Monaten 54 4.7.7 Siebente Untersuchung im Alter von 18 Monaten (Abschlußuntersuchung) ........... . 55 4.8 Modelluntersuchungen zur röntgenologischen Beckenprojektion ............... . 55 4.9 Bearbeitung und rechnerische Auswertung der Untersuchungsdaten . . . . . . . . . . . . . . . 56 5 Ergebnisse 57 5.1 Allgemeine Angaben zum Untersuchungsgut 57 5.2 Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen 58 5.2.1 Passive Hüftgelenksabduktion .. 59 5.2.2 Passive Hüftgelenksaußenrotation 60 5.2.3 Passive Hüftgelenksinnenrotation 61 5.2.4 Beurteilung der Himschädelform 62 5.2.5 Beurteilung des Wirbelsäulenverlaufes in passiver Vorbeuge ....................... 62 5.2.6 Beurteilung der passiven Seitneigung in der oberen Halswirbelsäule .................... 63 5.2.7 Beurteilung der Glutealfalten . . . . . . . . . . . . . 64 5.2.8 Beurteilung der passiven Seitneigung der gesamten Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.2.9 Beurteilung des Wirbelsäulenverlaufes im Vertikalhang 65 5.2.10 Beurteilung des Wirbelsäulenverlaufes in gehaltener Horizontallage ....................... 66 5.2.11 Röntgenuntersuchung des Beckens im anterior-posterioren Strahlengang ........................ 67 5.2.12 Beurteilung des lokomotorischen Entwicklungsstandes 75 5.2.13 Beurteilung der Händigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5.2.14 Beurteilung der Gesichtsform .............. 76 5.3 Beziehungen zwischen den einzelnen Untersuchungsergeb- nissen .............................. 77 5.3.1 Beziehungen zwischen der passiven Seitneigung in der obe- ren Halswirbelsäule und anderen Untersuchungsbefunden 77 5.3.2 Beziehungen zwischen dem Wirbelsäulenverlauf in passiver Vorbeuge und anderen Untersuchungsbefunden . . . . .. 84 VIII 5.3.3 Beziehungen zwischen der Form des Gesichtes und anderen Untersuchungsbefunden .......... 90 5.3.4 Beziehungen zwischen Röntgenbefunden am Becken und anderen Untersuchungsergebnissen . . . . . . . . . .. 91 5.4 Ergebnisse der Modelluntersuchungen zur röntgenologi- schen Beckenprojektion 100 6 Diskussion 101 6.1 Funktionelles Symmetrie- und Asymmetrieverhalten der oberen Halswirbelsäule .................... 101 6.2 Funktionelles Symmetrie- und Asymmetrieverhalten der Gesamtwirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105 6.3 Symmetrie- und Asymmetrieverhalten der Glutealfalten 110 6.4 Symmetrie und Asymmetrie an Hirn- und Gesichtsschädel 111 6.5 Funktionelles Symmetrie- und Asymmetrieverhalten der Hüftgelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6.6 Röntgenologisch dokumentiertes Symmetrie-und Asymme- trieverhalten des Beckens ................... 119 6.6.1 Unabhängig von der Projektion gefundene Pfannenpara- meter ....................... 119 6.6.2 Beurteilung der Beckenprojektion ....:.. 120 6.6.3 Beckenprojektion und Pfannendachparameter 122 6.6.4 Beckenprojektion und klinische Befunde 123 6.7 Lokomotorische Entwicklung 125 6.8 Händigkeitsentwicklung 125 7 Schlußfolgerungen 127 8 Zusammenfassung 129 9 Literaturverzeichnis 135 10 Tabellarischer Anhang 159 11 Sachverzeichnis.... 167 IX 1 Einleitung Im Laufe des ersten Lebensjahres erlernt der Mensch den Einsatz seines Halte und Bewegungssystems, den zielgerichteten Gebrauch wesentlicher körperlicher Ausdrucks- und Handlungsfähigkeiten. Er entwickelt artspezifisches Halte- und Bewegungsvermögen in engem Wechselspiel von neurophysiologischen Rei fungsvorgängen auf der Basis genetisch verankerter Grundmuster in Anpassung an vielfaltige Umwelteinflüsse. Dabei sorgen genetischer Code auf der einen und die Summe aller Umweltreize auf der anderen Seite für eine die Persönlichkeit charakterisierende Modifikation des menschentypischen Grundprinzips: Jeder Mensch verfügt über seine nur ihm eigene körperliche Gestalt, über seine nur ihm eigene Haltungs- und Bewegungsprägung. Äußerer Bau und Gebrauch des menschlichen Körpers folgen dem weite Ge biete der belebten Natur beherrschenden ,Rechts-Links-Prinzip'. Es ist gekenn zeichnet durch Spiegelbildlichkeit einer rechten und einer linken Körperhälfte, durch sog. bilaterale Symmetrie. Alle wesentlichen Formelemente am menschli chen Halte- und Bewegungssystem sind rechts u!ld links gleich, verhalten sich spiegelbildlich symmetrisch. Die im Dienste von Haltung und Bewegung stehen den Funktionen beider Körperhälften unterliegen der gleichen Grundkonzeption. Diese allgemeine Symmetrie ist allerdings nicht mehr als eine mit Einschrän kung geltende Regel: Jedes Individuum zeigt im Kindesalter geringfügig erschei nende, im Erwachsenenalter deutlichere Abweichungen von diesem Prinzip. Sol che Abweichungen äußern sich als Asymmetrien von Funktionen und von For men. Einige Asymmetrien gelten als genetisch bedingt. Die den Menschen von allen anderen Säugern unterscheidende, populationsbeherrschende Rechtshändigkeit mit allen Bedingungen und Konsequenzen ist hier einzuordnen. Bei anderen Asymmetrien scheinen Umweltfaktoren eine Rolle zu spielen. Angenommen werden solche Einflüsse auf die Ausbildung bestimmter Seitenungleichheiten am Gesichtsschädel, an der Wirbelsäule, am Becken. Hier nun verläuft eine Grenze des Bereiches ausschließlich anthropometrisch interessanter Erörterungen. Seitenungleichheiten von Haltung und Stellung der Wirbelsäule und des Beckens können nämlich überleiten zu Formabweichungen, denen Krankheitscharakter zukommt. Der die körperliche und funktionelle Ausformung von Kindern verfolgende Arzt steht vor einer Problemkonstellation, die er mit gezielten Fragen eingrenzen sollte: Wo und wann im frühkindlichen Alter prägen sich Asymmetrien am Halte und Bewegungssystem aus? Wo und wann überschreiten solche Asymmetrien den als physiologisch gelten den Normbereich? 1 Wo und wann im frühkindlichen Alter müssen Assymmetrien am Halte- und Bewegungssystem als Vorstufen von Gestaltsänderungen mit Krankheitswert gelten? Wo bestehen und wann zeigen sich Zusammenhänge, vielleicht sogar Abhän gigkeitsverhältnisse zwischen Asymmetrien einzelner Abschnitte des Halte- und Bewegungssystems ? Letztlich sind diese Fragen auf einen gemeinsamen Kern gerichtet. Dessen Formulierung lautet: Zu welchem frühkindlichen Entwicklungszeitpunkt können welche Asymme trien am Halte- und Bewegungssystem Krankheitswert gewinnen, somit erhöhte ärztliche Aufmerksamkeit erfordern, vielleicht sogar zu therapeutischem Han deln zwingen? Mögliche Antworten auf diese Fragen zu finden ist Ziel und Inhalt der vorge legten Untersuchungen. 2