Gerhard Plumpe Ästhetische Kommunikation der Moderne Band 1: Von Kant bis Hegel Gerhard Plumpe Ästhetische Kommunikation der Moderne Band 1: Von Kant bis Hegel Westdeutscher Verlag Alle Rechte vorbehalten © 1993 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12393-6 ISBN 978-3-663-01433-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01433-1 Inhalt Einleitung .................................................... 7 Ästhetik und Literaturwissenschaft ............................. 7 Ästhetische Grundfragen ..................................... 11 Ästhetik als Philosophie ...................................... 15 Systemtheoretische Voraussetzungen ............................ 22 Vor der Ästhetik: Die Künste und das Schöne ................... 25 Das System der Künste ...................................... 26 Die Idee des Schönen ........................................ 36 Ausdifferenzierung der Kunst ................................. 39 Ausdifferenzierung ästhetischer Kommunikation: Kant ........... 47 Die Rationalität ästhetischer Kommunikation .................... 52 Kants Theorie der Kunst und des ~ünst1ers ..................... 66 Kunst als Umwelt: Schönheit und Moral ....................... 86 Programme ästhetischer Kommunikation I: Schillers Therapeutik der Moderne .................................................. 107 Die Erfahrung der Revolution ................................. 109 Anthropologische Grundlagen ................................. 117 Die Autonomie ästhetischer Kommunikation .................... 125 Die Aufgaben der modernen Kunst ............................ 128 Programme ästhetischer Kommunikation 11: Friedrich Schlegels Poctik zwischen Fragment und Mythos .......................... 151 Antike und Moderne. .. . . . ... .. .. . . . .... . . . . ... . . ... . . . . . . . . . 153 Kunst ist Kunst ............................................. 160 Entdifferenzierung: "neue Mythologie" ......................... 166 5 Program me ästhetischer Kommunikation 111: Schellings Philosophie der Welt-Kunst o.o................................. 173 Die Höchstplazierung der Kunst im "System des transzendentalen Idealismus" o.o.............................................. 175 Die Stellung der Kunst im Identitätssystem o.o.................. 179 Das Absolute und die Kunst: Die Mythologie o.o................ 183 Schellings Konzept einer neuen Mythologie o.o.................. 189 Schellings Philosophie der Dichtung o.o........................ 194 Program me ästhetischer Kommunikation IV: Schopenhauers Willenstherapeutik o.o......................................... 212 Schopenhauers philosophische Position o.o...................... 217 Die Kunst und der KÜllstler o.o............................... 232 Die Hierarchie der KÜllste und die Musik o.o................... 244 Historisierung ästhetischer Kommunikation: Hegel o.o............ 251 Hegels Systemkonzeption o.o.................................. 252 Notwendigkeit und Möglichkeit einer Philosophie der Kunst o.o... 262 Das "Schöne" in Natur und Kunst o.o.......................... 267 Kunst - Geschichte o.o....................................... 278 Die Kunstformen: symbolische, klassische, romantische Kunst o.o.. 285 Das "Ende der Kunst" o.o.................................... 300 Theorie der Literatur o.o..................................... 304 Hegels Theorie der literarischen Gattungen o.o.................. 322 Die Kunst nach dem "Ende der Kunst" o.o..................... 352 Bibliographie o.o.............................................. 356 Personenregister 359 Sachregister o.o............................................... 362 6 Einleitung Ästhetik und Literaturwissenschaft Der nachfolgende Versuch einer Geschichte ästhetischer Kommunikation der Mo derne fand sein erstes Motiv in einem Ungenügen der literaturwissenschaftlichen Lehre. So wenig es an profunden Einzelstudien zu bedeutenden ästhetischen Theorien mangelt, so sehr fehlt eine aktuelle deutschsprachige Darstellung der Ästhetik, die deren philosophische Beobachtung der Kunst und Literatur seit ihrer Ausdifferenzierung zu einem "autonomen" Kommunikationssystem im 18. Jahrhundert rekonstruierte. Ist ein solcher Rekonstruktionsversuch für die wis senschaftliche Beschäftigung mit Kunst und Literatur aber überhaupt noch sinn voll? Sind die Ergebnisse der ästhetischen Beobachtung von Literatur für deren theoretische Analyse eigentlich relevant? Die Antwort auf solche Fragen scheint zunächst auf der Hand zu liegen: Literatur ist doch ein Teilgebiet der "Kunst", und was "Kunst" ist, das sagt uns die Ästhetik. Unsere Bewertung literarischer Texte bedarf sinnvoller Kriterien, und die liefert uns die Ästhetik. Die meisten literarischen Werke sind ohne angemessene Kenntnis des ästhetischen Horizonts, in dem sie entstanden sind, nicht richtig zu verstehen: Schiller ohne Kant, Thomas Mann ohne Schopenhauer, Gottfried Benn ohne Nietzsche'- das scheint ein Un ding zu sein. Die Ästhetik gibt der Literaturwissenschaft also eine Art Grund; sie definiert "Kunst", begründet unsere kritischen Werturteile und macht eine tragfähige Deutung der überlieferten Werke so allererst möglich. Sie bestimmt Gegenstand und Methode der literaturwissenschaftlichen Forschung. In Gestalt der Ästhetik begründet die Philosophie offensichtlich die Möglichkeit der Lite raturwissenschaft, und so versteht es sich von selbst, daB eine Geschichte äs thetischer Kommunikation notwendig ist; es ist nützlich, den Grund zu kennen, auf dem man steht. Wir könnten also einfach mit der Darstellung der Ästhetikgeschichte beginnen, wenn da nicht doch einige Zweifel und Bedenken blieben, die das Einfache in dem Verhältnis von Ästhetik und Literaturwissenschaft in Frage stellen und einige zusätzliche Überlegungen erforderlich machen. Wir erwarten von der Ästhetik eine Bestimmung des Kunstcharakters von Literatur und eine Fundierung unserer Werturteile, aber werden wir nicht enttäuscht? Wo wäre denn eine ästhetische Theorie, die eine Bestimmung des "Künstlerischen" oder gar des "Schönen", die eine Begründung literarischer Werturteile wagte, ohne zugleich Widerspruch, Kopfschütteln oder gar Gelächter auf sich zu ziehen? Es existiert für die Ge genwart keine philosophische Konzeption, die das, was wir von ihr fordern - uns zu sagen, was Kunst ist oder was unser Geschmacksurteil begründbar macht -, 7 stimmig und überzeugend fertig brächte. Diese Kraftlosigkeit der philosophischen Ästhetik zeigt sich vor allem darin, daS sie die Wirklichkeit der Kunst in der Vielfalt ihrer Spielarten und Möglichkeiten zu verfehlen scheint, wenn sie be stimmen will, was "Kunst" wirklich und wesentlich sei. Dies läSt sich an den vielleicht bedeutendsten ästhetischen Entwürfen unseres Jahrhunderts, an denen von Heidegger und Adomo, leicht einsichtig machen: Die Stärke dieser Entwürfe - eine markant konturierte, forciert normative Position zu formulieren - ist zu gleich ihre Schwäche. Für Heidegger waren etwa Thomas Mann, Brecht oder Döblin keine wirklichen "Dichter"; Adomo verabscheute alles "Leichte" und grenzte noch den Jazz von seriöser Kunst ab. Dieser Sachverhalt ist nur dann kein Problem, wenn man sich in der glücklichen Lage befindet, die normativen Definitionen oder Werturteile Heideggers und Adomos zu teilen, wenn man die Welt wie sie sieht und Gefallen an George oder Schönberg, nicht aber an Tu cholsky oder an Pop-Musik findet. Wenn man die Überzeugungen Heideggers oder Adomos nicht teilt und andere Vorlieben hat, findet man bei ihnen kaum AufschluS über die Gründe dieser Vorlieben, da man sich kaum wird einreden lassen wollen, ein Banause zu sein, dem der Sinn für "wahre" Kunst abgehe! Wir spitzen diese Beobachtung zu der These zu, daS die philosophische Ästhetik in der Vielzahl ihrer Stimmen und die Lebenswirklichkeit der Kunst in Spannung zueinander stehen; die Ästhetik scheint auSerstande zu sein, einen Kunstbegriff zu formulieren und zu begründen, der der phänomenalen Vielfalt des "Künst lerischen" in unserem Leben gerecht würde und zwanglos zu ihm paSte. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Wo philosophische Ästhetik Wesensde finitionen überhaupt noch wagt, muS sie sich mit dem ärgerlichen Sachverhalt herumschlagen, daS es Phänomene gibt, die viele Menschen als künstlerisch relevant oder als "schön" wahmehmen und die doch den ästhetischen Wesens bestimmungen und Definitionen von "Kunst" zuwiderlaufen. Eine Spannung von Kunst und Ästhetik existiert nun gewiS, seit es überhaupt eine philosophische Rede über Lebensphänomene gibt, die wir "künstlerisch" nennen. Diese Spannung hat freilich erst in unserem Jahrhundert die Ausma6e eines "dramatischen" Konflikts gewonnen, was sicher damit zusammenhängt, daS die Formenvielfalt und der Ausdrucksreichtum der Künste in einem Ma6e zugenommen haben, das man vorher für ausgeschlossen hielt und das es immer aussichtsloser erscheinen läSt, ein Kunstkonzept philosophisch begründen zu kön nen, das auch nur annähernd all diesen Formen und Möglichkeiten Rechnung trüge. Dieser Tatsache entspricht, daS es an Ästhetiken mangelt, die den syste matischen Anspruch der groSen historischen Entwürfe von Kant und Schelling, von Hegel oder Schopenhauer in der Gegenwart aufrecht halten. Die Ästhetik als philosophische Disziplin beschäftigt sich heute in erster Linie mit der Re konstruktion ihrer eigenen Geschichte, oder sie analysiert den tatsächlichen Ge brauch ästhetischer Termini und sieht in beiden Fällen von normativen Kunst definitionen oder der Begründung von Werturteilen ab. Als Geistesgeschichte der ästhetischen Doktrinen und als sprachanalytische "Metaästhetik" scheint sie 8 der Einsicht Rechnung zu tragen, daB jeder Versuch einer nonnativen Rede der Philosophie über Kunst an dieser selbst scheitert. Steht es aber so urn die philosophische Ästhetik, dann muB man die Frage wiederholen: Welche Bedeutung hat die Ästhetik für die Literaturwissenschaft, wenn wir von ihr weder verbindlich erfahren, was der Ausdruck "Kunst" bedeuten solI noch was wir beanspruchen, wenn wir sagen, dieser Text oder jene Strophe seien schön. Man könnte jetzt genau entgegengesetzt antworten als zu Beginn: Glaubten wir zunächst, die Ästhetik sei gleichsam der Grund der Literaturwis senschaft, so entdecken wir nun die "Grundlosigkeit" dieses Grundes und können sagen: Literaturwissenschaft kommt ohne Ästhetik aus; sie bedarf anderer "Fun damente" , etwa solche linguistischer, soziologischer oder psychologischer Art - oder auch eines Grundes, den sie aus sich selbst herausstellt. Zweifellos erweckt die moderne Literaturwissenschaft den Eindruck, als sei ihr die Preisgabe genuin ästhetischer Reflexionen nicht schwer gefalIen, als sei gleichsam der Ballast antiquierter philosophischer Fragestellungen und Probleme über Bord geworfen worden, was die Fahrt der Wissenschaft in unbekannte, aber reizvolle und span nende Gewässer beschleunigt habe. Die sprachliche Struktur literarischer Texte, ihre komplexe Rhetorik, ihre Stellung in der Welt der Medien, die Soziologie literarischer Geschmacksbildung, der Reflex sozialer Kämpfe in der fiktiven Welt der Texte, sie selbst als Schauplatz des Begehrens, der Passionen, aber auch der Sublimierungskünste ihrer Autoren - der Fragen sind viele, und die Litera turwissenschaft erfindet immer neue hinzu. Ob die untersuchten Texte "schön" sind und etwas mit "Kunst" zu tun haben, scheint demgegenüber eine zweitrangige Frage von durchaus altmodischem Zuschnilt. So erscheint die Relevanz philo sophischer Ästhetik für die aktuellen Aufgaben der Literaturwissenschaft gering und alIenfalIs in historischer Perspektive von Belang, soweit in die überlieferten Werke Elemente der ästhetische Rede strukturbildend eingegangen sind. Hier gehört die philosophische Rede aber allein in den Objektbereich der Literatur wissenschaft, als eines ihrer Themen im Umkreis der Stoff- oder Problemge schichte, und nicht in den Begrundungszusammenhang der Möglichkeit von Li teraturwissenschaft selbst. In diesen Begründungszusammenhang gehört aber in elementarer Weise die Gegenstandsbestimmung der Literaturwissenschaft. Wissenschaft ist stets Wis senschaft "von etwas", sie bedarf eines Objekts, für das sie in besonderer Weise zuständig ist. Daher sollte man vermuten, daB die Wissenschaft von der Literatur eine Vorstellung davon hat, was ihr Gegenstand ist. Denn ohne eine solche Vor stellung wäre im Prinzip die Identifizierung von sprachlichen Phänomenen - ob mündlichen, schriftlichen oder anders konservierten - als Literatur unmöglich. Es bedarf eines Kriteriums, um aus der Welt der Zeichen das auszusondern, was man als Literatur bearbeiten will. Die Angabe eines solchen Kriteriums trilt nun mit dem Anspruch auf, daB es generelle Geltung haben solI, d.h. nicht nur ab und zu, hier und da gilt, sondern daB es im Handlungsfeld der Wissenschaft, der es die Auswahl der Objekte ermöglicht, unbedingt gilt. An diesem Anspruch auf generelle Geltung ändert auch der Umstand nichts, daB in aller Regel nicht 9 nur eines, sondern mehrere solcher Kriterien in Umlauf sind; sie stehen zueinander - wenigstens theoretisch - in konfliktueller Beziehung; sie kämpfen um Konsens. Wir sind nun davon überzeugt, daB bei der Bestimmung eines solchen ge genstandskonstituierenden Kriteriums ein "ästhetisches Restproblem" existiert, das wahrscheinlich irreduzibel ist. Das im Normalbetrieb der Literaturwissen schaft waItende Kriterium kann man konventionelI nennen; es lebt von der Tra dition, was nicht von vornherein heiBen solI, daB es falsch oder unbegründbar sei; es tritt nur mit der Suggestion auf, daB gar kein Begründungsbedarf bestehe. Diesem Normalbetrieb, der sich in gelehrten Editionen, gewichtigen Kommen taren und vielbändigen Literatur- und Gattungsgeschichten Respekt verschafft, stehen abweichende Positionen gegenüber, die antikonventionelle, traditionskri tische Kriterien zur Gegenstandsbestimmung der Literaturwissenschaft ins Feld führen, gelegentlich den Zorn der Verwalter des Normalbetriebs auf sich ziehen, aber in aller Regel doch zu einer "friedlichen Koexistenz" finden und den Plu ralismus einer liberalen Literaturwissenschaft erweisen. Wir meinen, daB auch diese antikonventionellen Ansätze in der Literaturwissenschaft, die etwa unter Titeln wie Post- und Neostrukturalismus oder Dekonstruktivismus in Umlauf sind - um von ihren Vorgängern wie Ideologiekritik, Strukturalismus oder Re zeptionstheorie ganz zu schweigen -, ein "ästhetisches Restproblem" haben, wenn sie ihr Kriterium reflektieren, das ihnen die Auswahl der Forschungsobjekte mög lich macht. 1 Das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Ästhetik ist nach diesen Vor überlegungen also einigermaBen paradox zu nennen. Auf der einen Seite scheint die philosophische Ästhetik unfähig, konsensfähige Kriterien für die Unterschei dung von Kunst und Nicht-Kunst anzugeben und unser Werturteil zu orientieren; sie wird von der Wirklichkeit der Kunst meist düpiert und dementiert. Auf der anderen Seite schei nt die Literaturwissenschaft ästhetische Kriterien zu benötigen, um überhaupt angeben zu können, für welchen Gegenstand sie sich zuständig fühIt, mit welchen Verfahren sie arbeiten will und wie sie zu Werturteilen kommen soll, die mehr sind als beliebige Meinungen. An dieser Disproportion von Angebot und Bedarf gibt es nichts zu beschönigen: daB die Ästhetik als philosophische Disziplin in einer "Krise" sei, ihren Höhepunkt längst hinter sich habe und von einer grandiosen Vergangenheit lebe, hört man allerorts.2 Es fragt sich freilich, ob dies im FalIe des Verhältnisses von Epistemologie und naturwissenschaftlicher Forschung oder im FalIe der Beziehungen von Ethik und Politik wesentlich anders ist. Wenn die Literaturwissenschaft ohne ästhetische Kriterien nicht auskommt, die Philosophie diese in der Gegenwart aber nicht zureichend zur Verfügung stellen kann, dann gründet die Literaturwissenschaft auf fragwürdigem Grund; Man vergleiche etwa die "ästhetischen" Normen, die einen Literaturwissenschaftler wie Paul de Man auf die Lektüre solcher Autoren wie Rilke und Proust, Kleist oder Baudelaire ver pflichten. P.d.M.. Allegorien des Lesens. Frankfurt/M. 1988. 2 Vgl. z.B. A. Giannarás: Ästhetik heute. München 1974. 10 es besteht AnlaB zu der Vermutung, daB sie ihre Axiome vom Traditionsbestand der Ästhetik oft unbefragt borgt und an dessen Fragwürdigkeit teilhat. Ästhetische Grundfragen Von dieser Problemskizze möchten wir vorerst Abstand nehrnen und statt dessen in einer zweiten Vorüberlegung das "Feld des Ästhetischen" provisorisch ab stecken, d.h. danach Ausschau halten, welche Fragen traditionell als "ästhetische" verstanden werden, auch wenn die Antworten schwierig sind. Es geht uns in diesem zweiten Schritt also um eine .. Topographie" des ästhetischen Feldes. Um die Sache nicht zu abstrakt werden zu lassen, nehmen wir als Ausgangspunkt der Überlegung ein berühmtes Gedicht von Rilke: .. Archaïscher Torso Apollos" . Es handelt sich also um ein beschädigtes Standbild, um den Rumpf des grie chischen Gottes der .. KÜDste"; das Gedicht stammt aus dem zweiten Teil der .. Neuen Gedichte" und ist 1908 entstanden: WIR kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brost dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trog. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultem durchsichtigem Sturz und flirnmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändem aus wie ein Stem: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du muSt dein Leben ändem. (1) Wir möchten Rilkes Gedicht nicht interpretieren, sondern lediglich formal fragen, wo im Umgang mit ihm Probleme auftauchen, die genuin "ästhetisch" zu nennen sind. GewiB noch nicht dort, wo man gelehrt kommentiert, also etwa herausfindet, welches Bildwerk im Louvre Rilke .. inspiriert" haben mag, ob es tatsächlich der frühgriechischen - der .. archaischen" - Zeit zuzurechnen ist und den Gott Apollon überhaupt darstellt. Auch das gelehrte Wissen um den EinfluB Rodins auf Rilke oder seine Kenntnis der modernen Poetik des Fragments schafft noch keine eigentlichen ästhetischen Probleme. Gleiches gilt für die Kommen tierung der Sonettform, der Reimhandhabung, selbst noch der metaphorischen Technik. Der dichteste Kommentar, der alles zusammenträgt, was man sachlich über dieses Gedicht wissen kann - alle biographischen, kunstgeschichtlichen und poetologischen Tatsachen -, erzwingt närnlich keineswegs jene Lese- oder 11