Terry Eagleton Ästhetik Terry Eagleton ÄSTHETIK Die Geschichte ihrer Ideologie Aus dem Englischen von Klaus Laermann J. Verlag B. Metzler Stuttgart . Weimar Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Eagleton, Terry: Ästhetik: die Geschichte ihrer Ideologie Terry Eagleton. Aus dem Eng!. von Klaus Laermann. Stuttgart; Weimar: Metzler, 1994 Einheitssacht.: The ideology ofthe aesthetic <dt.> ISBN 978-3-476-00972-2 ISBN 978-3-476-03510-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03510-3 Titel der englischen Originalausgabe: Terry Eagleton, The ideology of the Aesthetic © Terry Eagleton 1990, first published 1990 by Basil Blackwill Ltd Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere rur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1994 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1994 EIN VERLAG DER SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Freie Einzelheiten 13 II Das Gesetz des Herzens: Shaftesbury, Hume und Burke 32 III Das Imaginäre bei Kant 73 IV Schiller und die Hegemonie 107 V Die Welt als Kunstgebilde: Fichte, Sc helling, Hegel 125 VI Der Tod des Begehrens: Arthur Schopenhauer 159 VII Absolute Ironien: Sören Kierkegaard 180 VI Inhaltsverzeichnis VIII Das marxistisch Erhabene 204 IX Wahre Illusionen: Friedrich Nietzsche 243 X Im Namen des Vaters: Sigmund Freud 272 XI Die Politik des Seins: Martin Heidegger 298 XII Der marxistische Rabbi: Walter Benjamin 326 XIII Kunst nach Auschwitz: Theodor W. Adorno 351 XIV Von der Polis zur Postmoderne 376 Literaturverzeichnis 431 Begriffs-und Personenregister 437 Für Toril Einleitung Das vorliegende Buch übergeht viele bedeutende Ästhetiker mit Stillschweigen. Und selbst diejenigen, deren Theorien ich in ihm darstelle, erregten meine interpretatorische Neugier nicht immer mit ihren unmittelbar ästhetisch orien tierten Schriften. Ich versuche vielmehr, durch die Kategorie des Ästhetischen Zugang zu gewinnen zu zentralen Fragen des modernen europäischen Denkens. Ich möchte unter diesem besonderen Gesichtspunkt Aufschluß erhalten über ein breites Spektrum sozialer, politischer und ethischer Probleme. Wer die Geschichte der europäischen Philosophie seit der Aufklärung be trachtet, wird erstaunt sein über den hohen Stellenwert, der in ihr ästhetischen Fragen zugewiesen wurde. Für Kant bedeutet das Ästhetische das Versprechen einer Versöhnung von Natur und Menschheit. Hegel billigt der Kunst in seinem theoretischen System einen minderen Status zu, hält aber dann doch außeror dentlich umfangreiche Vorlesungen über sie. Das Ästhetische muß bei Kierke gaard den höheren Wahrheiten der Ethik und der Religion weichen, steht aber immer wieder im Zentrum seines Denkens. Für Schopenhauer und Nietzsche stellt die Erfahrung des Ästhetischen, trotz des schroffen Gegensatzes zwischen beiden, einen höchsten Wert dar. Den beeindruckend gelehrten Anspielungen von Marx auf Texte der Weltliteratur tritt Freuds bescheidenes Eingeständnis zur Seite, die Dichter hätten alles schon vor ihm gesagt. Und in unserem Jahrhundert gipfeln Heideggers esoterische Meditationen in einer ästhetisierten Ontologie, während das Erbe des westlichen Marxismus von Lukacs bis Adorno der Kunst theoretisch ein Privileg zuerkennt, das bei einer materialistischen Strömung des Denkens auf den ersten Blick überraschen mag.t Selbst in den heutigen Debatten über Moderne und Postmoderne erscheint die ))Kultur« als ein Schlüsselbegriff zur Analyse und zum Verständnis der spätkapitalistischen Gesell schaften. 1 Vgl. Perry Anderson: Considerations on Western Marxism, London 1979, Kap. 4. 2 Einleitung Eine derart überragende Stellung der Ästhetik im Hinblick auf die gesamte moderne europäische Philosophie zu behaupten, könnte angesichts meines Ma terials durchaus ungerechtfertigt erscheinen. Denn beinahe alle Denker, deren Werke ich im vorliegenden Buch erörtere, sind in der Tat Deutsche, auch wenn manche Begriffe, die ich auf ihre Schriften anwende, dem intellektuellen Milieu des modernen Frankreich entstammen. Es mag plausibel erscheinen, daß die idea listische Tönung, die für das deutsche Denken charakteristisch ist, sich ästheti schen Untersuchungen gegenüber aufgeschlossener erwiesen hat als der Ratio nalismus Frankreichs oder der Empirismus Englands. Doch selbst dann hat der Einfluß dieses in erster Linie deutschen Erbes weit über die Grenzen des deut schen Sprachraums hinaus Geltung erlangt. Bezeugt wird das unter anderem durch die englische Tradition der »Culture and Society«-Studien. Das wirft die Frage auf, warum ästhetische Probleme im modernen Europa insgesamt so merk würdig langlebig sind. Warum soll insbesondere der theoretische Nachdruck in der Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik für eine historische Epoche typisch sein, wenn doch von deren kultureller Praxis gesagt werden darf, daß sie viel von ihrer traditionellen gesellschaftlichen Bedeutung verloren hat und zu einem Zweig der allgemeinen Warenproduktion herabgesunken ist? Eine einfache, aber überzeugende Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der zunehmend abstrakten, technischen Natur des modernen europäischen Den kens. Verglichen mit dessen immer ungreifbarer werdenden Kontexten scheint die Kunst noch von etwas Menschlichem oder Konkretem zu sprechen. Sie scheint uns eine willkommene Exklave gegenüber den entfremdeten Zwängen anderer, spezialisierterer Diskurse zu bieten und inmitten der großen Explosion des Wissens und seiner Arbeitsteilung Reste einer allen gemeinsamen Welt vor zustellen. In bezug auf naturwissenschaftliche oder soziologische Fragen sollen nach allgemeiner Auffassung nur Experten fur eine Stellungnahme qualifiziert sein. Wenn es aber um Fragen der Kunst geht, darf jeder von uns hoffen, sein Scherflein beizutragen. Doch die Eigenart des ästhetischen Diskurses (im Ge gensatz zu den Sprachen der Kunst selbst) besteht darin, daß er zwar in diesem Bereich der Alltagserfahrung verwurzelt bleibt, aber deren angeblich natürlichen, spontanen Ausdruck in den Status einer komplizierten intellektuellen Disziplin erhebt und terminologisch ausarbeitet. Mit der Geburt der Ästhetik beginnt also die Sphäre der Kunst ihrerseits unter jener Abstraktheit und Formalisierung zu leiden, die generell fur moderne Theorien charakteristisch sind. Dennoch erhält sich im Ästhetischen etwas von jener unauflösbaren Besonderheit, die uns als eine Art Paradigma dafur erscheint, wie eine nicht entfremdete Erkenntnis aussehen könnte. Die Ästhetik ist daher stets ein widersprüchliches, sich selbst rückgängig machendes Unternehmen, das durch die Betonung des theoretischen Werts sei ner Gegenstände diese um genaujene Spezifizität oder Unsagbarkeit zu bringen Einleitung 3 droht, die zu ihren kostbarsten Eigenschaften zählt. Gerade die Sprache, wel che die Kunst erhöht, droht unablässig, sie zu unterminieren. Wenn das Ästhetische im Denken der Moderne eine so beherrschende Rolle gespielt hat, so liegt das ohne Zweifel auch an der Vielgestaltigkeit und Wandel barkeit dieses Konzepts. Denn sein Begriff, der eine bestimmte Funktionslosig keit bedeuten soll, hat so vielen unterschiedlichen Funktionen gedient wie nur wenige andere. Sicher werden manche Leser meine Verwendung dieses Begriffs unerträglich locker und weit finden. Und dies nicht zuletzt dann, wenn er gele gentlich mit der Vorstellung eines körperlichen Erlebens verschmilzt. Doch wenn das Ästhetische so nachdrücklich immer erneut zum Thema wird, dann liegt das wohl auch an einer gewissen Unbestimmtheit seiner Erscheinung, die es in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Verbindungen Gestalt annehmen läßt. Zu ihnen gehören u.a. Freiheit und Gesetzmäßigkeit, Spontaneität und Not wendigkeit, Fremdbestimmung und Autonomie, Partikularität und Universa lität. Meine These besteht nun, grob gesagt, darin, daß die Kategorie des Ästhe tischen in der europäischen Moderne deshalb so große Bedeutung gewinnen konnte, weil sie zwar von der Kunst spricht, aber immer auch andere Themen meint, die fUr den Kampf der Mittelklasse um politische Hegemonie von größ ter Bedeutung sind. Denn die begriffliche Konstruktion des ästhetischen Arte fakts ist in der Moderne nicht zu trennen von der Konstruktion der vorherr schend ideologischen Formen der modernen Klassengesellschaft sowie von einer ganz neuen Form menschlicher Subjektivität, die mit dieser Gesellschaftsord nung einhergeht. Aus diesem Grund, und nicht weil Männern und Frauen plötz lich der höchste Wert von Malerei oder Lyrik bewußt geworden wäre, spielt die Ästhetik im geistigen Erbe der Gegenwart eine so auffallend wichtige Rolle. Ich vertrete darüber hinaus die These, daß das Ästhetische in bestimmter Hinsicht eine ungewöhnlich starke Herausforderung der herrschenden ideologischen For men moderner Klassengesellschaften und eine Alternative zu ihnen darstellt. In sofern ist es ein eminent widersprüchliches Phänomen. Wer intellektuelle und geistige Entwicklungen darstellt, weiß eigentlich nie genau, wie weit er in der Geschichte zurückgehen soll. Ich behaupte nicht, daß mit den Diskursen über die Kunst in der Mitte des 18. Jahrhunderts etwas ganz und gar Neues in Erscheinung trat. Manche der von mir vorgestellten ästheti schen Motive ließen sich bis in die Renaissance oder gar bis ins klassische Alter tum zurückverfolgen. Und nur wenig von dem, was über die Selbstverwirkli chung als einem Ziel an sich gesagt wird, wäre Aristoteles nicht vertraut gewesen. Es gibt in der Epoche der Aufklärung keinen theoretischen Umbruch, der zu einem Diskurs über die Kunst gefUhrt hätte, der ohne geistige Vorläufer gewesen wäre. Auf den Gebieten der Rhetorik oder der Poetik erstrecken sich diese De batten weit über die Grenzen des frühesten Zeitraums der vorliegenden Unter-