Gerd Ruebenstrunk Arthur und die Stadt ohne Namen Die Vergessenen Bücher Band 3 Mit Illustrationen von Laurence Sartin Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe arsEdition GmbH, München 2011 © 2011 arsEdition GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Text: Gerd Ruebenstrunk, vertreten durch Agentur Hanauer, München Illustrationen: Laurence Sartin ISBN 978-3-7607-8232-4 www.arsedition.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil-oder strafrecht-lich verfolgt werden. Inhalt Geister der Wüste ................................................. 4 Der Bibliothekar .................................................. 17 Koma ......................................................................... 27 Spurensuche ............................................................ 40 Der verschollene Trommler ............................. 55 Eifersucht ............................................................... 68 b Edinburgh b Neue Bekanntschaften ........................................ 82 König der Dichter ................................................ 107 Warnungen .............................................................. 131 In der Unterwelt ................................................... 151 Wahnsinn ................................................................. 167 Rettung ................................................................... 191 Das Buch der Leere ............................................... 209 Verdammte Seelen ................................................. 244 b Jemen b Streifzug durch Sanaa ......................................... 271 Das Haus der Dschinns......................................... 294 Hayyid und Amina .................................................. 308 Shibam....................................................................... 331 Die Stadt ohne Namen ......................................... 350 Doppeltes Wiedersehen ....................................... 376 Die Entscheidung .................................................. 398 Epilog ....................................................................... 425 Quellen ................................................................... 432 Geister der Wüste Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das Gemäuer vor mir in ein blutrotes Licht. Meine Begleiter hatten sich geweigert, mir weiter zu folgen, und etwa eine Stunde Fußmarsch entfernt ihr Lager aufgeschlagen, wo sie angeblich auf mich warten wollten. Doch ich traute ihren Bekundungen nicht. Wahrscheinlich hatten sie, sobald ich außer Sichtweite war, kehrtgemacht und den Rückweg in die Zivilisation angetreten. Ich war also auf mich allein gestellt. Einen Moment zögerte ich, ob ich weitergehen sollte. Die Warnungen der Einheimischen waren eindeutig gewesen. Es gab Gerüchte über merkwürdige Kreaturen, die in dem Bauwerk hausen sollten. Aber ich war nicht so weit gereist, um kurz vor dem Ziel aufzugeben. Entschlossen zog ich meine Taschenlampe hervor und ging weiter. Die Mauern waren zum größten Teil von Sand bedeckt. Direkt vor meinen Füßen allerdings hatte der Wüstenwind eine Mulde freigelegt, an deren Ende eine dunkle Öffnung gähnte. Es war fast so, als ob mir von drinnen jemand ein Zeichen geben wollte. Das war natürlich Unsinn, aber mich beschlich ein merkwürdiges Gefühl, und ich wünschte 4 mir zum wiederholten Mal, ich wäre nicht allein hierhergekommen, sondern Larissa wäre bei mir, um mir den Rücken zu decken. Ich rutschte dem Eingang mehr entgegen, als ich ging. Dabei gewann ich so viel Schwung, dass ich nicht mehr rechtzeitig zum Halten kam und kopfüber in das Dunkel hineintaumelte. Erst nach ein paar Schritten konnte ich anhalten. Ich drückte mich gegen die Wand und lauschte. Vor mir lag die tiefste Finsternis, die ich jemals gesehen hatte. Obwohl der Eingang kaum zwei Meter entfernt lag, drang kein Sonnenstrahl in den Gang ein. In der Dunkelheit vor mir hörte ich ein leises Surren. Es war ein Geräusch, wie es entsteht, wenn man einen Kunststoff-schlauch im Kreis herumwirbelt. Ich knipste die Taschenlampe an und machte einen vorsichtigen Schritt in den Tunnel hinein. Trotz des Windes draußen war kein einziges Sandkorn hier hereingeweht worden. Der Boden war so glatt und sauber, als hätte man ihn in den vergangenen Jahrhunderten täglich mehrfach poliert. Nach drei Schritten hörte ich hinter mir ein rasselndes Geräusch. Ich fuhr herum und sah gerade noch den letzten Rest Tageslicht unter einem Tor verschwinden, das sich von oben über den Eingang herabsenkte. Mit einem lauten Krachen fiel es zu. Nun war mir der Rückweg abgeschnitten. Ich setzte meinen Weg in das Innere des Bauwerks fort. Der Tunnel schien endlos zu sein, und ich hatte das Gefühl, dass er mich tiefer unter die Erde führte. Nachdem ich vielleicht zehn Minuten so gegangen war, bemerkte ich in der Ferne einen Lichtschein. Ich blieb stehen und knipste die Taschen-5 lampe aus. Das Surren war jetzt lauter geworden und nicht nur in meinen Ohren vernehmbar. Nein, ich konnte es in meinem ganzen Körper spüren, so wie das Geräusch eines Bohrers beim Zahnarzt. Der Gang machte kurz vor mir einen Knick. Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Nach wenigen Metern mündete er in einen größeren Raum, aus dem auch der Lichtschein und das Surren kamen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich bis zur Öffnung vor. Vor mir lag eine gewaltige Halle. Sie war so hoch, dass ich ihre Decke nicht sehen konnte. An ihren Wänden waren Fackeln befestigt, die sie in ein flackerndes Licht tauchten. Auf der gegenüberliegenden Seite, die bestimmt fünfzig Meter weit entfernt war, entdeckte ich eine Reihe von schwarzen Rechtecken. Das waren offenbar die Türen, die weiter ins Innere hineinführten und die ich erreichen musste. Zu meiner Rechten und Linken erstreckte sich die Halle so weit, dass kein Ende zu erkennen war. Der riesige Raum war völlig leer. Es gab keine Verzierungen an den Wänden, keine Säulen, die die Leere durchbrochen hätten, keinerlei Mobiliar, Skulpturen oder sonstige Zeichen seiner Bewohner. Zugleich verlieh diese Abwesenheit von Dingen der Halle etwas Unheimliches. Wer mochte so etwas bauen – und warum? Ich wollte gerade aus meiner Deckung treten, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Aus einer der Türöffnungen auf der gegenüberliegenden Seite traten acht Gestalten. Sie befanden sich recht weit von mir entfernt, und in dem flackernden Licht konnte ich nur sehen, dass sie al-6 lesamt in rote Roben gekleidet waren, die ihnen bis zu den Füßen reichten. Ihre Köpfe wurden von Kapuzen verhüllt. Sie schritten langsam bis zur Mitte der Halle und bildeten dort einen Kreis. Was genau sie dort taten, vermochte ich nicht zu erkennen. Keiner von ihnen sagte etwas oder gab sonst ein Geräusch von sich, und wenn, dann so leise, dass ich es wegen des Surrens nicht hören konnte. Da sie keine Anstalten machten, wieder zu gehen, und ich nicht mehr viel Zeit hatte, beschloss ich, die Halle trotzdem zu durchqueren. Sie schienen so beschäftigt zu sein, dass sie mich hoffentlich nicht bemerken würden. Vorsichtig glitt ich aus der Türöffnung und drückte mich gegen die Wand, an der ich mich Schritt um Schritt entlang-schob, bis die Gestalten in den roten Roben nur noch wie winzige Spielzeugfiguren erschienen. Dann holte ich tief Luft, stieß mich von der Wand ab und sprintete zur anderen Seite der Halle. Obwohl ich geduckt lief, fühlte ich mich wie auf einem Prä- sentierteller. Die Sekunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte die gegenüberliegende Wand fast erreicht, als ich einen überraschten Ruf vernahm. Ich riskierte einen Blick. Die Gestalten hatten ihren Kreis aufgelöst und schauten jetzt alle in meine Richtung. Eine von ihnen hob den Arm und deutete damit auf mich. Dann setzten sie sich in Bewegung. Keuchend erreichte ich die Türöffnung. Einen Moment stützte ich mich mit der Hand an den Steinen ab und holte tief Luft. Ein letzter Blick in die Halle zeigte mir, dass die Roben bereits bedrohlich nahe gekommen waren. Sie bewegten sich weitaus schneller, als ich erwartet hatte. 7 Ich gab mir einen Ruck, knipste die Taschenlampe wieder an und verschwand in dem dunklen Korridor, der vor mir lag. Sollte es sich dabei um eine Sackgasse handeln, war ich unweigerlich verloren. Nach wenigen Metern gabelte sich der Weg. Beide Ab-zweigungen sahen absolut identisch aus. Ich entschied mich für den linken Gang. Soweit ich es im auf und ab wippenden Lichtkegel der Lampe erkennen konnte, war dieser Tunnel eine genaue Kopie desjenigen, der mich zur großen Halle geführt hatte. Das war ein guter Schutzmechanismus: Wenn alle Wege gleich aussahen, machte das die Orientierung für Ortsfremde deutlich schwieriger. Ich befürchtete, dass meine Verfolger dieses Problem nicht hatten. Der Gang führte leicht aufwärts. Nachdem ich mehrere Minuten ohne Pause gelaufen war, hielt ich an und lauschte. Nichts zu hören. Ob ich die Roben abgeschüttelt hatte? Zur Sicherheit leuchtete ich den Tunnel hinter mir aus. Nichts zu sehen. Erleichtert atmete ich durch. Dann konnte ich mich ja wieder dem Zweck meines Aufenthalts hier zuwenden. Ich ging langsam weiter. Diesmal ließ ich den Lichtkegel rechts und links über die Wände gleiten, um auch nichts zu übersehen. Und tatsächlich: Nach einigen Schritten stieß ich auf eine Öffnung, die nicht viel höher als einen halben Meter war und die ich beim schnellen Vorbeilaufen sicher nicht bemerkt hätte. Kurz entschlossen ließ ich mich auf die Knie sinken und kroch in den Tunnel hinein. Nach einigen Minuten stand ich in einem weiteren Gang. Das Surren schien von rechts zu kommen, also wandte ich mich nach links, denn eines wusste 8 ich genau: Das, was ich suchte, würde ich in der großen Halle nicht finden. Kurz darauf öffnete sich der Gang zu einem kreisrunden Raum von vielleicht zehn Metern Durchmesser, der keinen anderen Zugang besaß. Er war in ein fahles Licht getaucht, dessen Quelle ich nicht ausmachen konnte. An der Wand rechts von mir ragte ein Podest in die Höhe, auf dem eine kleine Statue stand. Sie stellte ein Wesen dar, das auf den ersten Blick aussah wie ein Stier. Allerdings einer mit zwei Köpfen und nahezu menschlichen Zügen. Ich packte die Taschenlampe in meine Umhängetasche und näherte mich dem Podest. Einen Moment zögerte ich. Was geschah wohl, wenn ich die Statue von ihrem Standort nahm? Würde mich ein Schauer von Eisenpfählen durchbohren oder ein Felsbrocken niederwalzen, wie ich es schon oft in Filmen gesehen hatte? Noch einmal ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten, ohne etwas Verdächtiges zu erkennen. Dann streckte ich meine Hand aus, hob die Figur vorsichtig herunter und verstaute sie in meiner Tasche. Ein leises Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Vor mir standen meine Verfolger in den roten Roben. Wie sie so lautlos und schnell hereinkommen konnten, wusste ich nicht. Mir war nur klar, dass ich mich in einer ziemlich schlechten Lage befand, denn sie hatten sich in einem Halbkreis zwischen mir und dem Ausgang aufgebaut. Die dunklen Schatten der Kapuzen ließen nicht erkennen, was sich darunter verbarg. Waren es Gesichter? Oder vielleicht etwas Schrecklicheres, das ich lieber nicht sehen wollte? 9 Hektisch suchte ich meine Umgebung nach einem Fluchtweg ab. Dabei schob ich mich langsam so weit von den roten Gestalten weg, wie es möglich war. Ich hatte beinahe die Wand hinter dem Podest erreicht, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich blieb stehen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Die Gestalten nutzten meine momentane Verwirrung aus. Unter ihren Gewändern zogen sie kurze, mit merkwürdigen Verzierungen versehene Stäbe hervor und streckten sie in meine Richtung. Einer meiner Gegner stieß einen gutturalen Laut aus. Die Stäbe begannen zu leuchten. Die Lichtstrahlen vereinigten sich zu einer gleißenden Kugel. Ich versuchte noch auszuweichen, aber es war zu spät. Die Kugel flog mit rasender Geschwindigkeit auf mich zu und wuchs dabei immer mehr an. Eine Sekunde später hatte sie mich bereits erreicht. Das war das Ende. Eine gewaltige Explosion dröhnte in meinen Ohren. Dann wurde es um mich herum schwarz. ij Ich nahm die Kopfhörer ab, warf den Controller auf den Tisch und drehte mich zu Larissa um. »Ich hätte es diesmal fast geschafft«, sagte ich. »Wenn du mich nicht gestört hättest ...« Sie versetzte mir einen freundschaftlichen Knuff gegen die Schulter. »Du weißt doch, dass du Desert Ghosts ohne meine Hilfe nicht gewinnen kannst«, grinste sie. 10 »Stimmt nicht«, widersprach ich. »Ich war schon fast durch. »Ja, ja, das habe ich gesehen! Erwischt haben sie dich, weil du nicht schnell