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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 PDF

209 Pages·2009·4.48 MB·German
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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 1 Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 Herausgegeben von Sieglinde und Fritz Mierau [editionKONTEXT] 2 3 Inhalt „... seelische Glanzlichter in die Gemüter zu setzen.“ Das Vermächtnis eines Lehrers 7 Briefe 1960 17 1961 49 1962 73 1963 97 1964 123 1965 151 1966 173 1967 199 1968 213 1969 239 1970 273 1971 295 1972 317 1973 339 1974 351 1975 361 Die Vorbereitung dieser Edition erfolgte mit einer Förderung des Regierungspräsi- 1976 375 diums Leipzig aus Mitteln des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus, Dresden, Chronik 383 und die Herstellung dieser Edition mit Unterstützung der Sächsischen Landesstelle Register 397 für Museumswesen, Chemnitz. Danksagung 415 Abbildungsnachweis 416 ISBN 3-931337-41-3. Erste Auflage. © KONTEXTverlag, Berlin 2004. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung Torsten Metelka, unter Verwendung von Mate- rialien aus dem Nachlaß Arthur Pfeifers. Satzgestaltung Torsten Metelka. Herstel- lung Drukarnia Art-Druk Rafa Bartnicki, Szczecin. ł 4 5 „... seelische Glanzlichter in die Gemüter zu setzen.“ Das Vermächtnis eines Lehrers 1 Vor wenigen Jahren entdeckt, erwiesen sich die nahezu 3ooo Briefe meines sächsischen Kunsterziehers Arthur Pfeifer, die er aus Waldheim an seine Leipziger Freundin, die Lehrerin Gertrud Schade, schrieb, sofort als ein menschliches Zeugnis von einzigartigem Rang. Wie hier ein Siebzig-, Achtzig-, endlich Neunzigjähriger in der liebenden Sorge um die geistige Erwe- ckung und Entfaltung seiner Freundin und ihrer jungen Töchter alle seine Kräfte einsetzte, um die Familie vor der verödenden Bildungspraxis der DDR zu schützen, das blieb über den un- mittelbaren Anlaß, über Zeit und Region hinaus bewegend und beherzigenswert. Mit Humor, Selbstironie und sächsischer Gemütsstärke se- hen wir den Waldheimer Briefschreiber gegen Dummheit, Bor- niertheit und Banausentum zu Felde ziehen. Und so erhebt sich aus den Berichten vom Waldheimer Alltag und den Glossen zur deutschen und internationalen Lage, aus Gedanken zur Lek- türe und Ratschlägen für die Erziehung, aus Selbstbesinnung und Rückblick auf ein lebenslanges Lehrerdasein das Bild eines Weisheitsfreundes und Lebenslehrers, den ich als den heimli- chen Philosophen von Waldheim zu den großen Sachsen des 2o. Jahrhunderts zähle. Die Zeit der Briefe sind die dramatischen Jahre der gewalt- samen Stabilisierung der DDR: vom Mauerbau 1961 über die militärische Unterdrückung der Prager Reformversuche 1968, die zeigte, was auf politischen Ungehorsam stand, bis zur of- 6 7 fenen Spaltung der Gesellschaft durch die Ausbürgerung Wolf ker ausgefüllt. Noch sechs Jahre nach dem Umzug nach Leipzig Biermanns 1976. spürt man den Schmerz der Trennung, wenn er am 22. Sep- Wie verhielt man sich in einem Staat, der dem Einzelnen tember 1966 nach einer verzweifelten Klage über die geistige den Zugang zur Welt, zur Welt der Gedanken, zur Welt der Bü- Verwüstung Deutschlands bedauernd hinzusetzt: „Entschul- cher beschränkte, wenn nicht verwehrte? Wohl sehen wir den dige dieses – ich hab hier niemand, mit dem ich darüber re- Schreiber der Briefe darauf bedacht, den Mängeln und Zwän- den kann.“ gen eines zunehmend reglementierten Alltags wirksam zu be- gegnen. Worauf es ihm jedoch vor allem ankam, war, sich nicht 3 mit dem Überleben zu begnügen, gar in innerem Aufruhr sich Drastisch wie er war, hüllte Arthur Pfeifer den Schmerz der zu verzehren, sondern angesichts aller Nötigung entschlossen Trennung in das Gewand rücksichtsloser Selbstbezichtigung. und kräftig für die Stärkung der Person zu sorgen. Unter dem Was liege schon an ihm, dem „hinfälligen Greis“, dem „wack- 26. August 196o findet sich seine oberste Maxime: „Wenn die ligen Gestell“ und „alten Knacker“, dem „leergeräumten Stein- Gemeinschaft gedeihen soll, muß erst der Einzelne für sich al- bruch“, der „klapprigen Ruine“! Sei er nicht „überständig alt lein sich zu einem Wertfaktor entwickeln.“ geworden“, eine „unerwünschte Versteinerung aus vergange- ner Epoche“, von „Altersblödsinn“ heimgesucht, gleichsam der 2 „geborene Nichtsnutz“? Auch an dem Lehrer Pfeifer läßt er kein Schwer zu sagen, ob der Umstand, dem wir die Fülle und gutes Haar. Er wird nicht müde, sich einen „verkalkten Kunst- Lebendigkeit der Briefe verdanken, ein glücklicher Zufall ge- erzieher“ und „armen Teufel aus der Provinz“ zu nennen, einen nannt werden darf. „minderen Magister“ und „pedantischen Schulmeister“, der Der Sechsundsiebzigjährige sieht sich in einem Moment diese ewigen „Lehrbriefe“ aus Waldheim schreibt. von der ihm am nächsten stehenden geistigen Partnerin ge- Bis in das übermütig-wehmütige Spiel mit den Bedeutun- trennt, als er das Schwinden seiner Kräfte erleben muß. Die Fa- gen des Wortes „aufgeben“, das zum einen sein tägliches Post- milie Schade zieht 196o von Waldheim nach Leipzig. Was seit geschäft, zum anderen sein bedrohtes seelisches Gleichgewicht über zehn Jahren im vertrauten Gespräch mit der 33 Jahre Jün- meinte, wurde die Klage darüber laut, von der Freundin ge- geren bewegt worden war, geriet nun in die Briefe, die in den trennt zu sein. Am 18. Oktober 1960 fügt er sich in das Unabän- ersten Jahren täglich, vielfach zweimal am Tage zwischen Wald- derliche, wenn er zu einer aufzugebenden Sendung nach Leip- heim und Leipzig gewechselt wurden. Ohne die Trennung hätte zig schreibt: „Am liebsten schlüpfte ich selber in den großen es die Briefe nicht gegeben, die wir nun als Arthur Pfeifers Be- Briefumschlag – aber wie soll ich mich dann aufgeben. (Eigent- kenntnisse und Vermächtnis lesen. lich hab ich mich schon aufgegeben.)“ Die Sorge um die junge Lehrerin und ihre beiden Töchter hatte Arthur Pfeifers Leben seit 1947, da er ihr in einem kri- 4 tischen Augenblick als Leiter der Waldheimer Volksschule ge- Sicher darf man davon ausgehen, daß das so raffinierte holfen hatte, ihre Gesundheit wiederherzustellen, immer stär- wie riskante Lamento nicht nur Abwehrzauber gegen die wirk- 8 9 lichen Beschwerden des Alters war, sondern in gleichem Maße Waldheim wurde Arthur Pfeifers Schicksal. – und aus dem Zauber erwachsend – Redefigur, Stilmittel der Hier hat er seine Familie gegründet, mit seiner Frau zwei Altersepistel, Baustein für einen „spritzigen Brief“, der dem Kinder großgezogen, sein Lehramt ausgeübt und 1914 das Schreiber bis zuletzt vorschwebte. Das groß entfaltete Bild Buch „Technik der geistigen Arbeit“ verfaßt. Hier hat der er- der Hinfälligkeit machte es ihm möglich, um so eindrucksvol- fahrene Erzieher zur Zeit der Weimarer Republik an der säch- ler den Alltag eines Virtuosen zu schildern, der eine beklagens- sischen Schulreform mitgewirkt und zwölf Jahre lang die städ- wert seltene Kunst ausübte: die Kunst der Menschenbehand- tische Volkshochschule geleitet. Von Waldheim aus brach er lung. Da war Arthur Pfeifer in seinem Element, da gab er sich nach Holland, Frankreich, England, Österreich, in die Schweiz die passenderen Namen. Er sah sich als „Ermittler“, als „Wei- und die Tschechoslowakei auf, um mit der Autorität des streit- chensteller“, als „Orakel von Delphi“; sein Türschild könnte baren Pazifisten und der Kompetenz des Sprachkundigen an lauten „,Auskunftei“ oder „Rat in Alltagsfragen“. Prinzen- oder den Debatten des Internationalen Versöhnungsbundes teilzu- Prinzessinnenerzieher in der Goethezeit gewesen zu sein, hat nehmen. Aus Waldheim wurde er von den Nazis vertrieben er sich gut vorstellen können. Nichts brachte den Lehrer so in und nach Zschopau, später Oederan versetzt. Sein Sohn Hans Rage wie die Schreckensvision, die Erziehung geriete vollends mußte für zwei Jahre ins Zuchthaus Waldheim, weil er als Kom- in die Hände des „Erziehungsingenieurs“, der die Zöglinge mit munist die deutsche Übersetzung eines Artikels aus der eng- der „Memorierramme“ traktiert. Am Fehlen des Erlebens schei- lischen Presse über die Hintergründe des Reichstagsbrandpro- tere die Schule. „Man sollte immer daran denken“, mahnt er zesses in der Stadt verteilt hatte. Nach Waldheim kehrte Arthur am 4. November 1963, „seelische Glanzlichter in die Gemüter Pfeifer im Mai 1945 zurück, wo ihm 1946 die Leitung der Volks- zu setzen.“ schule übertragen wurde. So gab es eigentlich keinen Waldheimer, der Arthur Pfei- 5 fer nicht als Schüler, Kollege, Freund oder Gesprächspartner Briefe aus Waldheim. Sie kamen nicht nur aus Waldheim, sie begegnet wäre. Er kannte die Lehrer, Ärzte, Unternehmer und handelten von Waldheim, vom Dasein eines Waldheimers, und Gewerbetreibenden von Waldheim. Er kannte den Buchhänd- Waldheim sorgte für die besondere Leuchtkraft der „Glanzlich- ler, den Pfarrer, den Kantor, den Friedhofsgärtner. Auch küm- ter“, die Arthur Pfeifer in die Gemüter zu setzen bestrebt war. merte er sich um das geistige Erbe Waldheims, vor allem um In Dresden geboren und auf das Lehrerseminar gegangen, die Waldheimer Arbeiten Georg Kolbes, des großen deutschen war Arthur Pfeifer – nach kurzem Studium in Leipzig – 19o8 Bildhauers, der aus der Stadt stammte und dem man hier neu- Bürger von Waldheim geworden und hat die alte sächsische estens wieder die gebührende Beachtung schenkt. Stadt an der Zschopau nur unter Zwang während der natio- In einem weiteren Kreise kamen die Freunde aus der Zscho- nal-sozialistischen Herrschaft vorübergehend verlassen. Bis zu pauer Verbannungszeit hinzu, Kurt Schumann und Helmut Sei- seinem Tod 1976 wohnte er unterhalb des Wachbergturms am del, die er regelmäßig besuchte, sowie die Goethe-Freunde, oberen Ende der Turmstraße; das Haus trägt heute eine Erin- mit denen er über die Weimarer Goethe-Gesellschaft verbunden nerungstafel. war. Und in einem weitesten Zirkel verkehrte Arthur Pfeifer mit 10 11 den dankbar verehrten Lehrern und Anregern, mit dem Ethiker junger Amseln, deren Eltern sich an seinem Fenster eingenistet Friedrich Wilhelm Foerster und dessen Bruder, dem Gartenphi- hatten, und daraus entstand tatsächlich ein Büchlein für seine losophen Karl Foerster, mit Hermann Hesse und den bewähr- Enkel in Nürnberg. ten Mitstreitern aus dem Internationalen Versöhnungsbund, der Ging es hier vom Kleinen ins Große, so galt umgekehrt das- Lehrerin Gerda Baumann und dem Pfarrer Alfred Dedo Müller. selbe. Noch das Entfernteste sah er in die Nähe dringen und Jedem stand es frei, geistige Freude und geistigen Gewinn die alltäglichen Entschlüsse und Geschäfte prägen. „Sind wir aus dem Verkehr mit dem Mann von der Turmstraße zu ziehen. ein Spiel von jedem Druck der Luft?“, pflegte Arthur Pfeifer mit Faust zu fragen. Er spürte diesen Druck im Seelischen, Wirt- Arthur Pfeifer besaß die seltene Gabe, zwischen dem Heimat- schaftlichen und Politischen ebenso wie im Atmosphärischen. lich-Regionalen und dem Globalen, zwischen Waldheim und der Wer sich an Arthur Pfeifer um Auskunft wandte, mußte ge- Welt zu vermitteln. Scherzhaft nimmt er es sogar mit dem Kos- wärtigen, die zur Rede stehende Sache gleich viel grundsätz- mos auf, wenn er im Brief vom 17. September 1976 schreibt: licher angepackt zu finden, als er selber das vielleicht gewollt „Im ,All‘ bin ich auch in meiner Stube.“ hatte. Atombombenversuche, „Prager Frühling“, Mondlandung, Computertechnik, Europaunion oder Vietnamkrieg – immer sah 6 Arthur Pfeifer Aspekte, die zu seiner Zeit kaum ins Bewußt- Charme und lebendige Dauer verdanken Arthur Pfeifers sein drangen. Wenn er seine Ansichten gern als die Privatmei- Briefe dieser Kunst, zwischen Waldheim und der Welt zu ver- nungen eines kleinen Mannes aus der sächsischen Provinz be- mitteln. Kein Ereignis war zu gering, als daß es nicht in sei- zeichnete, dann zeigt sich heute, wie genau der empfindsame nen weitreichenden Folgen beobachtet werden konnte und es Mann auf die leisesten Schwankungen im Gleichgewicht der war gerade das Hauswirtschaftlich-Praktische, was den Philo- Welt reagierte. sophen herausforderte. Wie er die Erschütterung von dem Erdbeben im 6ookm ent- Viele Male entwarf er in Gedanken Bücher, meist Bilderbü- fernten Triest wahrnahm, so spürte er die ungeahnten Konse- cher, die im Waldheimer Alltag die Welt aufscheinen lassen wür- quenzen der technischen und politischen Erschütterungen – im den. „Weltgarten am Fenster“ könnte der Bericht von einer bo- Positiven wie im Negativen: tanischen Weltreise heißen, in dem alle als Zimmerpflanzen ge- Im Juni 1962 galt das für die Verseuchung der Atmosphäre pflegten Gewächse in ihrer heutigen Gärtnerzüchtung und an durch die Atombombenversuche. ihrem Heimatort abgebildet würden, etwa die Usambaraveil- Im November 1968 für die Aussichtslosigkeit der militäri- chen, die in Ostafrika so üppig wachsen wie in Deutschland schen Aktion gegen die Freiheitsbestrebungen in Prag. die Buschwindröschen. Denkbar wäre auch, in dieser Art die Im Juli 1969 für die „ungeahnten Folgerungen“ aus der „Entwicklung einer Krokuspflanze“, das Phänomen der opti- amerikanischen Mondlandung, einer Organisationsleistung, schen Täuschungen, das Sonnenlicht oder den verborgenen Zu- die sich auf das „Ziel eines friedlichen Zusammenlebens“ hätte sammenhang von Kristallbildung und Komposition von Musik richten können, aber doch nur eine Weltraumverschmutzung zu behandeln. Einmal fotografierte Arthur Pfeifer die Aufzucht größten Stils einleitete. 12 13 Im Juni 197o für die Revolution in der Unterrichtsmethodik auf die unerschöpflichen Möglichkeiten persönlicher Entfaltung durch die „Lernmaschinen“, die Computer, auf die er in Berich- in Stille und Verborgenheit. ten über die Internationale Lehrmittelmesse in Basel aufmerk- „,Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst‘, sagt Goethe, sam wurde. der davon etwas verstand“, schreibt der Siebenundsiebzigjäh- Im Januar 1972 für die Gründung der „Vereinigten Staaten rige seiner Freundin am 19. Juni 1961. „Das bedeutet also, daß von Europa“ in Brüssel, ein Ereignis, das „in den künftigen Ge- zuviel Sturm das Leben selber bedroht und seinem eigentli- schichtsbüchern ein bemerkenswertes Datum sein“ dürfte. chen Zwecke entfremdet, es soll genossen werden! Dir wird Im März 1975 endlich für die dank der Fernsehreportage ga- man da noch einige Lektionen erteilen müssen.“ rantierte gefahrlose „Genießbarkeit“ der Verbrechen des Viet- namkrieges. 8 „Die technische Entwicklung rast davon mit der Barbarei, Die Briefe Arthur Pfeifers befinden sich mit den Gegenbrie- weil der Beherrschung der äußeren Natur die der inneren nicht fen von Gertrud Schade heute in der Obhut des Waldheimer parallel lief“, heißt es am 7. November 1967. „Freundeskreises ‚Arthur Pfeifer‘ e.V.“, der auch die mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek des Lehrers betreut. 7 Unterstützt von Gertrud Schades Tochter, der Musikerin und Als Photograph, Buchbinder, Blumenmaler, Mikroskopierer, Malerin Gisela Neuenhahn, dem Vereinsvorsitzenden Rechtsan- Kristallograph und Kalligraph in vielerlei Handwerk gut bewan- walt Gottfried Schlesier und seiner Frau Christine Schlesier ha- dert, schätzte Arthur Pfeifer die Segnungen der Technik viel zu ben die Herausgeber zusammen mit Sibylle Mierau die 3ooo sehr, als daß er etwa einer Technikfeindlichkeit das Wort hätte Briefe gelesen, annotiert und mit einem Personenregister ver- reden können. Was ihn beunruhigte und quälte, war der gefähr- sehen. liche Irrglaube, technische Überlegenheit führe mit der Zeit auch Das Ergebnis dieser Lektüre befindet sich als Datei beim zu größerer Freiheit der Person. Das Gegenteil sei der Fall. Verein. Die Herausgeber hätten den oft überraschenden Gedan- Geblendet vom Glanz der Erfindungen, verfalle der Mensch kengängen, den Verknüpfungen von Weltgeschehen und per- leicht einem versklavenden Neuerungswahn, der sich am ver- sönlichen Reminiszenzen nicht mit dem erhofften Gewinn fol- hängnisvollsten im Temporausch äußere. gen können, wären nicht viele von Arthur Pfeifers Verwandten, Wie ein roter Faden zieht sich die Mahnung durch diese Lehrerkollegen, Schülern, Freunden und Bekannten bereit ge- Briefe: Haltet inne! Gemach! Besinnt euch! Seid unzeitgemäß! wesen, mit Erinnerungen und eigenen Nachforschungen das Gönnt euch Muße! Spielt Haydn und lest Stifter! Haltet euch an Ihre zur Aufklärung beizutragen. Ihnen gilt der herzliche Dank das Schöne! Bildet euch in der Stille! der Herausgeber, die hier nun ihre Auswahl aus dem Briefwerk Diese Botschaft zu bekräftigen ist auch der tiefste Sinn der vorlegen. erlesenen Zitate, mit denen der Schreiber seine Briefe in so rei- Es handelt sich bei der Auswahl grundsätzlich um Auszüge. chem Maße versieht. In Zeiten, da der Einzelne sich über Ge- Durch eckige Klammern sind lediglich Auslassungen in einem bühr bedrängt und eingezwängt findet, geben sie den Blick frei fortlaufenden Briefteil gekennzeichnet. 14 15 Die Textgestalt der Briefe folgt in Rechtschreibung und Zei- 1960 chensetzung den Originalen. Stillschweigend korrigiert wurden allein offensichtliche Verschreibungen des Verfassers und Häu- fungen von Gedankenstrichen, nicht dagegen unbedeutende Abweichungen bzw. absichtlich aktualisierende Veränderungen von Zitaten, die Arthur Pfeifer meist aus dem Kopf wiedergibt. Die behutsame Kommentierung konzentriert sich auf den Nachweis von Zitaten, auf Auskünfte über Arthur Pfeifers Ver- wandten-, Freundes- und Bekanntenkreis, auf Hinweise zu sei- Waldheim, den 4. Februar ner Tätigkeit im Internationalen Versöhnungsbund sowie An- Heute war ich bei Pause1, ihm Hausbuch und Schlüssel zu gaben zu ihm persönlich nahestehenden Opfern des Nazire- geben und Eure Abschiedsgrüße zu bestellen; ich habe das mit gimes. entsprechenden Worten getan, daß dem alten Mann die Tränen Für die Lektüre der Briefe möge nun gelten, was Arthur kamen und er beteuerte, wie gern er Euch in dem Hause ge- Pfeifer in einer freilich heiklen Lage am 12. Dezember 1968 habt hat. Er stand an der Kreissäge – die keinerlei Schutzvor- schrieb: „Ob einer, falls er meine Briefe durchleuchtet, erleuch- richtung hatte – und sägt daran den ganzen Tag und Tag für tet ist, wird von ihm selber abhängen.“ Tag seine Fabrikeinrichtung zu Feuerholz, auch eine traurige Beschäftigung, die Geräte zu vernichten, mit denen man seinen Fritz Mierau Lebensunterhalt verdiente. Dann hab ich die letzte Rechnung des Wasserwerkes über- wiesen, Quittung lege ich bei (aber laßt Euch nicht einfallen, das Geld zu schicken, das freß ich bei Euch ab!) Aber Ihr mögt die Quittung eine Zeit aufheben, damit die Leute nicht noch mal was fordern. Den Strombetrag überweise ich, da es mir – trotz des Erkletterns eines dreistöckigen Hauses und Herumfra- gens nicht gelang, den sagenhaften Elektrizitätswerk-Winkler zu ermitteln. Quittung folgt; Kasse Donn. nachm. geschlossen. Den Rock wird Markert fertig machen, so daß ich ihn mitbrin- gen kann. Was ist nun etwa noch zu erledigen? Schreibt getrost, was etwa nötig oder erwünscht ist; es wird alles bestens besorgt. 1 Otto Pause, Hauswirt von Gertrud Schade (1917–1978) in Waldheim, Härtelstraße 34, ehemaliger Mitinhaber der Zigarrenfabrik Pause und Leonhard. 16 17 1960 Johann Peter Hebel Jetzt will ich erst mal in meiner Bude aufräumen, wo seit 4 den, wie ein Weinkenner die Sorten bestimmen kann. Und da Wochen alles liegen geblieben ist und ein holländischer Still- packt mich manchmal ein Ingrimm, daß wir diese Kunstschätze leben-maler hunderte von Motiven finden könnte des unge- Italiens nur in ärmlichen Photographien oder überhaupt nicht wöhnlichen Beisammenseins der Dinge. Zwischen Lessing und zu sehen bekommen. Es ist vieles zum Rasendwerden. Erasmus lehnt eine Reißschiene, Symbol für die Rechtwinklig- Übrigens: Du hast noch nicht alles eingeräumt: Hier ist in- keit der beiden Geister – aber sie gehört doch nicht dahin. Und zwischen noch ein Bilderkasten für Landschaften fertig gewor- so bin ich ein Mosaik aus lauter Ungehörigkeiten – aber das den, und zwei (für Tiere und Pflanzen) stehen noch bevor. Aber wird anders und morgen geht das Ordnungstiften los, wahr- das soll ja nur Deine Ordnung erleichtern, ohne Dir den Raum scheinlich mit dem Effekt, daß dann nichts mehr auffindbar zu beengen. In Stupsens6 Regal möchte also noch für drei Käs- sein wird. ten Platz bleiben. Hans2 erhielt vom FDGB3 einen 14 Tage-Erholungsaufent- Sorgt mir, daß ich nur gesunde Menschen antreffe, wenn halt in der SR und schrieb heute eine Karte aus Spindelmühl ich zu Euch komme! Č im Riesengebirge, 4 Stunden von der Schneekoppe und 2 Allen die herzlichsten Grüße! ½ Stunden vom Geburtsort meines Vaters4 entfernt. Vielleicht hat (Eben steht schrägüber der Essenkehrer mit Cylinder als er Zeit, mal den Heimatort seiner Voreltern aufzusuchen, der schönes Schattenbild vor dem opalfarbigen Winterhimmel und sonst für uns unzugänglich ist. Ich wäre sonst auch gern mal fegt schorn. Das mag Glück für Euch bedeuten!) durch jene Ferienlandschaft meiner Kinderzeit geschlendert, wenn sich auch in 70 Jahren dort vieles sehr gewandelt hat. 9. Februar Um mich sollst Du Dir keine Sorgen machen, ich habe al- Ich las heute bei Johann Peter Hebel, der 1760 geboren les gut überstanden und werde schon wieder völlig in Form wurde – also die Zeitverhältnisse von vor 200 Jahren erlebte: kommen; ich lege mich abends beizeiten lang und lese in „Gerne erleichtern wir uns und beschönigen zwar unsere Ar- Burckhardt’s „Cicerone“5, in dem die Werke von über 1100 beitseligkeit mit der Gemeinstelle, daß die Not die wohlthä- Künstlern besprochen werden, soweit sie Burckhardt hat se- tige Weckerin unserer Kräfte sei und Übung durch Arbeit sie zur hen können. Ich staune immer wieder über diese Fülle von Wis- Vollkommenheit ausbilde. Schön gesagt, wenns nicht am Tag sen, Erinnerung an Gesehenes, Unterscheidungsvermögen, Stil- läge, was bei diesem nordischen Unfug herauskömmt. Nur we- gefühl. Er bringt es fertig, an einem mehrfigurigen Monument nige von uns erfahren etwas von der Bildung, der Aufklärung festzustellen, von wem die einzelnen Gestalten geschaffen wur- und dem Lebensgenusse, der allen gebührt. Die meisten übri- gen leben und sterben etwas besser als das Tier, ohne Charak- 2 Hans Pfeifer (1908–2002), Sohn von Arthur Pfeifer, stellvertretender Direktor und ter, ohne Vaterlandsliebe und Mut, ohne Tugend. Auch die we- Leiter der Kartenabteilung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. nigen bringens nicht weit. – Wir halten uns für die gelehrteste 3 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Nation. Wir sinds auch leider, wenigstens die schreib- und le- 4 Josef Pfeifer (1856–1942), geb. in Oberrochlitz im Riesengebirge, Glas- später Porzel- lanmaler, s. Brief vom 27. April 1973. 5 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. 6 Kosename für Gertrud Schades Tochter Gisela. 18 19

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Da war Arthur Pfeifer in seinem Element, da gab er sich seine opera quae supersunt (leider nicht omnia) zu bekommen. Vielleicht erfahre Gestern eine „Leseprobe“ aus dem „Archipel“2 Spinoza, Baruch (Benedict) 315.
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