Mathematik im Kontext Ivo Schneider Archimedes Ingenieur, Naturwissenschaftler, Mathematiker 2. Auflage Mathematik im Kontext Herausgeber: DavidE.Rowe KlausVolkert DieBuchreiheMathematikimKontextpubliziertWerke,indenenmathematischwichtigeund wegweisendeEreignisseoderPeriodenbeschriebenwerden.NebeneinerBeschreibungder mathematischenHintergründewirddabeibesondererWertaufdieDarstellungdermitden EreignissenverknüpftenPersonengelegtsowieversucht,derenHandlungsmotivedarzustellen. DieBüchersollenStudierenden,MathematikerinnenundMathematikernsowieanMathematik InteressierteneinentiefenEinblickinbedeutendeEreignissederGeschichtederMathematik geben. WeitereBändedieserReihefindenSieunterhttp://www.springer.com/series/8810 Ivo Schneider Archimedes Ingenieur, Naturwissenschaftler, Mathematiker 2. Auflage IvoSchneider MünchnerZentrumfürWissenschafts-und Technikgeschichte München,Deutschland ISSN2191-074X ISSN2191-0758(electronic) MathematikimKontext ISBN978-3-662-47129-6 ISBN978-3-662-47130-2(eBook) DOI10.1007/978-3-662-47130-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliertebibliografischeDatensindimInternetüberhttp://dnb.d-nb.deabrufbar. SpringerSpektrum DieersteAuflageerschien1979bei„WissenschaftlicheBuchgesellschaft“,Darmstadt ©Springer-VerlagBerlinHeidelberg2016 DasWerkeinschließlichallerseinerTeileisturheberrechtlichgeschützt.JedeVerwertung,dienichtaus- drücklichvomUrheberrechtsgesetzzugelassenist,bedarfdervorherigenZustimmungdesVerlags.Das giltinsbesonderefürVervielfältigungen,Bearbeitungen,Übersetzungen,MikroverfilmungenunddieEin- speicherungundVerarbeitunginelektronischenSystemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk be- rechtigtauch ohnebesondere Kennzeichnung nicht zuderAnnahme, dasssolcheNamenimSinneder Warenzeichen- undMarkenschutz-Gesetzgebung alsfreizubetrachtenwärenunddahervonjedermann benutztwerdendürften. DerVerlag,dieAutorenunddieHerausgebergehendavonaus,dassdieAngabenundInformationenin diesemWerkzumZeitpunkt derVeröffentlichungvollständigundkorrektsind.WederderVerlagnoch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit,Gewähr für den Inhalt des Werkes,etwaigeFehleroderÄußerungen. Planung:AnnikaDenkert GedrucktaufsäurefreiemundchlorfreigebleichtemPapier. Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com) Vorwort zur II. Auflage Mein 1979 erschienenes Buch über Archimedes war, dem Reihentitel „Erträge der Forschung“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft geschuldet, zunächst ein Bericht über die bis dahin erzielten Ergebnisse der Archimedesforschung. Unter der Voraus- setzung, dass der Bericht dem damaligen Forschungsstand weitgehend entspricht, was Wilbur Knorr in seiner 1987 erschienenen kommentierten Bibliographie zur Archi- medesforschung bestätigt hat, bleibt er unabhängig von dem inzwischen erreichten Forschungsstand ein gültiges Dokument. Natürlich ist die Archimedes-Forschung in den seither vergangenen 36 Jahren nicht stehen geblieben. Allerdings hat sich an den von Archimedes selbst stammenden Quellen nicht viel geändert trotz des seit 1998 der ForschungwiederzugänglichenPalimpsests,dergroßeTeiledervonHeibergalsKodexC bezeichnetenSammlungArchimedischerSchriftenausdem10.Jahrhundertenthält.Die beiden nur in diesem Palimpsest zu findenden Texte der so genannten Methodenschrift undeinesStomachionbetiteltenFragmentswarenbereitsHeibergbeiseinenBesuchenin Konstantinopel in den Jahren 1906 und 1908 zugänglich. Ob sich an der Edition dieser beiden Texte Wesentliches gegenüber der Heibergschen von 1913 geändert hat, wird ersteinebisjetztnichtvorliegendeendgültigeNeueditionzeigenkönnen.Grundsätzlich ist der Palimpsest heute etwa wegen der nach 1908 erfolgten Übermalungen und durch Schimmelfraß eingetretenen Schäden in einem wesentlich schlechteren Zustand als ihn Heiberg noch vorfand. Trotz der inzwischen verfügbaren technischen Methoden, mit denen kleinste im Pergament verbliebene Pigmentreste der im 10. Jahrhundert verwen- deten Eisengallustinte sichtbar gemacht werden können, hatte Heiberg sogar in einigen Teilen bessere Voraussetzungen, den zur Neubeschriftung mit einem liturgischen Text im 13. Jahrhundertausgelöschten Text der ursprünglichenBeschriftung aus der zweiten Hälftedes10.Jahrhundertszuerschließen. Essei auch daraufhingewiesen,dass sowohlHeibergals auch denheutigenBearbei- tern dieser Texte in vielen Fällen nur Reste von Wörternoder auch nur von Buchstaben zur Verfügungstanden bzw. stehen. IhreErgänzungzu einem sinnvollen Text erforderte underfordertnebenentsprechendenphilologischenKenntnissenundVertrautheitmitder DiktionvonArchimedesaucheinhohesMaßanIntuition,derenErgebnisfastimmernur einengewissenGradvonWahrscheinlichkeitbeanspruchenkann. V VI VorwortzurII.Auflage Auch wenn in jüngster Zeit als besonderes Erfordernis der Forschung die Berück- sichtigungdesKontextes,indemgriechischeMathematikerwieArchimedesihreWerke schufen,betontwird,hatsich auchhier andendafürzuständigenQuellenseit 1978we- nig geändert. Ergänzend zu den seit langem verfügbaren Texten antiker Ingenieure und BaumeisterwieKtesibiosoderVitruv,Naturwissenschaftler,vorallemAstronomen,His- toriker, Philosophen, Schriftsteller oder Dichter könnten allenfalls die Befundejüngerer archäologischerForschungfürdieRekonstruktioneinessolchenKontextesherangezogen werden.AberzurBeantwortungvonFragen,dieetwadieVersorgungderBewohnervon Syrakus,einerderbevölkerungsreichstengriechischenStädte,wennnichtgarderdamals größtengriechischenStadtdesMittelmeerraumes,betreffen,gibtesseitensderArchäolo- giekeineneuenErkenntnisse.Dabeiistklar,dassalleinderWasserbedarfeinerStadtmit einigen hunderttausend Einwohnern ohne entsprechende technische Einrichtungen und ohneeinedafürzuständigeOrganisationnichtbefriedigtwerdenkonnte.Währendfürdas antike Rom und Pergamonzumindest die Zuführungdes Trink- und Badewassers durch Aquäduktebzw.Druckwasserleitungenbelegtist,weißmanüberdieVerteilungdesQuell- wassersetwadesArethusa-BrunnensinSyrakusimEinzelnenbisheutenichts.Dabeibot diese reiche Handelsstadt nicht nur hinsichtlich ihrer Wasserversorgung eine Fülle von Problemen,dienurdurcheinenichtmehrgeringeAnzahlvonFachleutengelöstwerden konnten.WieweitArchimedesdaranalsein,wievonPlutarchbehauptet,demHerrscher nahestehenderBeraterbeteiligtwar,istnichtbekannt.VondenantikenHistorikernwird überwiegendnuraufseineLeitungderVerteidigungderStadtgegendiebelagerndenRö- merindenJahren213und212vorChristushingewiesen. WahrscheinlichgemachtetwadurcheinenBerichtvonCicerosinddiealsKriegsbeute nach Rom gebrachten beiden von Archimedes konzipierten Planetarien. Sie waren wie dasjüngerevorderInselAntikytheragefundene,alsPlanetariumdienendeInstrumentaus einemMetallwieBronzegefertigt.DieHerstellungeinessolchenInstrumentserforderte übermathematisch-astronomischehinausfeinmechanischeundvorallemmetallurgische Kenntnisse. Dazu musste esin der Stadt diedafürnötigenFacharbeiter undWerkstätten gegeben haben. Auch die Verarbeitung von Edelmetallen für die Prägung von Münzen oderdieberühmte,heutez.T.skeptischbeurteilteGeschichtedervonArchimedesberich- tetenAufdeckungdesBetrugseineGoldschmiedslegtzumindestnahe,dassinderStadt diedafürnotwendigenpersonellenundtechnischenVoraussetzungengegebenwaren.Dies giltnatürlichauchfürdieregeBautätigkeitvonHieronII.unddenBauvonHandels-und Kriegsschiffen, mit dem Archimedes auch in Verbindunggebracht wurde. Für die Akti- vitäten von Astronomen und Mathematikern wie Archimedes sollte man, wenn man für die erforderliche Ausbildung nicht zu Lehrern und Institutionen außerhalb von Syrakus zugehengezwungenwar,zumindestübereine,vielleichtauchnurkleineFachbibliothek in Syrakusverfügthaben.Dass für alldies, durchausnichtüberraschend,Bestätigungen durchdieArchäologiefehlen,sollnurbesagen,dassvondieserSeiteeineHilfestellungzur RekonstruktiondesgefordertenKontextes,zunächstverstandenalsdieGesamtheitderfür dasWirkenvonArchimedesrelevantenmateriellenBedingungen,nichtzuerwartenist. VorwortzurII.Auflage VII Beispielewiediesegenügen,umdarzutun,dasssichauchindieserHinsichtdieQuel- lenlage seit 1978 nicht wesentlich verändert hat. Inwieweit allerdings die verfügbaren Quellen seither tatsächlich und in welcher Form genutzt wurden, ist eine andere Frage, aufdieichzurückkomme.Zunächstsollabergefragtwerden,obmeinArchimedes-Buch von1979auchheutenochBedeutungunddamitverbundenInteressebeanspruchenkann. VonwissenschaftlicherRedlichkeitabgesehen,diejazueinerkorrektenBerücksichtigung frühererreichter Befundeverpflichtet,ist dieAntwortdarauf vor allem abhängigdavon, obundwenn,wieweitfrühereForschungsergebnissedurchneuereUntersuchungenaußer Kraftgesetztwerden.EinKriteriumdafür,dasseinfrüheresErgebnisweilnunangeblich obsoletnichtmehrerwähntwerdensollte,istdievomAutorgewählteDarstellungsform. DadieAnzahlderjenigenständigabnimmt,diealtgriechischeoderimdorischenDia- lekt, wie er im Syrakus von Archimedes üblich war, abgefasste Texte lesen oder gar verstehen können, sind die meisten der an der Mathematik des Archimedes Interessier- ten auf eine Übersetzung in eine ihnen geläufige Sprache angewiesen. Ihnen wird eine solche Übersetzung, auch wenn sie die Schritte der Argumentation mit Hilfe der beige- fügtengeometrischenDarstellungenmiteinigerMühenachvollziehenkönnen,oftfremd erscheinen, weil sie dem durch ihremathematische Ausbildungnahegelegten Vorgehen nicht entspricht. Unter Verzicht auf griechische mathematische „Authentizität“ werden solche Leser versuchen,eine weitere Übersetzung in die ihnen geläufigemathematische Sprache zu erhalten und sich damit möglicher Weise von der Denk- und Vorgehenswei- segriechischerMathematikerentfernen.Dievonfrüheren,vorallemausderMathematik kommenden Historikern stammende Behauptung, dass einem Großteil der griechischen MathematikeineAlgebrazugrundelag,diedieGriechenhintereinerreingeometrischen Darstellungversteckten,wurdevonSabetaiUnguruineinemumfangreichenArtikelvon 1975alsunhistorischundunprofessionellvehementzurückgewiesen.UngurusArbeitvon 1975 führte zu einer heftigen Reaktion von renommierten Mathematikern wie B.L. van der Waerden undAndréWeil undschließlich 1979zu einer Erwiderungvon Unguru,in derereinevölligeNeufassungdergriechischenMathematikforderte. ZurBeurteilungderAngemessenheitoderauchUnangemessenheiteinersolchenFor- derunggilt es z.B. zu unterscheiden,ob ein Autor den Inhalteines griechischen mathe- matischenTextesetwaimGewandderAlgebraunterHinweisaufdieeigentlichzugrunde liegendegeometrischeArgumentationimOriginaldarstellt,oderoberbehauptet,dieal- gebraischeDarstellungentsprechedereigentlichenDenkweisederGriechen. Dievor1975erschienenenArbeitenvielerHistoriker,insbesonderedasinArtikelnvon 1938bis1944vonE.J.DijksterhuisinholländischerSpracheerschieneneWerküberAr- chimedes, das 1958 in überarbeiteter Form ins Englische übersetzt und erneut 1987 mit dererwähntenBibliographievonKnorrveröffentlichtwurde,sindfreivonBehauptungen obiger Art. Dijksterhuis hat sich darin ausdrücklich von der durch Unguru viele Jahre später kritisierten Übersetzung griechischer geometrischer Darstellung in algebraische Symbolik als der griechischen Denkweise nicht entsprechend distanziert. Unter sorgfäl- tiger Berücksichtigung der Eigenart griechischer geometrischer Denkweise hat er eine VIII VorwortzurII.Auflage eigeneSymbolikeingeführt,mitderBegriffewieetwaRechteckmitdenSeitenaundb, Kreis mit dem Durchmesser d oder das Verhältnis zweier homogener Größen A und B dargestelltwerden. Ohne jede Rücksicht darauf hat sich eine Gruppe heutiger Historiker die Forderung UngurusnacheinerNeufassungdergriechischenMathematikzueigengemachtundsich damit ein Alibi zu verschaffen versucht, früher erzielte Ergebnisse wider jede wissen- schaftlicheRedlichkeitzuignorieren. Im Folgendensollen ausgewählte Beispiele von Ergebnissen der inzwischen erwach- senen neuen Generation von Historikern der griechischen Mathematik als Brücke zum heutigen Wissensstand dienen. Der prominenteste Vertreter dieser neuen Generation ist sicherlich Reviel Netz, der bei Unguru in Tel-Aviv und später bei Lloyd in Cambridge studierthat.NetzhatineinerspeziellArchimedesgewidmetenArbeitvon1999dasdurch den erhaltenen Text nahe gelegte Verständnis der Lösung eines von Archimedes formu- lierten Problems als ein algebraisches Problem in Frage gestellt. Es handelt sich dabei um die Teilung einer Kugel durch eine Ebene in zwei Segmente in einem gegebenen Verhältnis. Netz machte die Formulierung der Lösung durch Eutokios für das von ihm kritisierte Verständnis verantwortlich. Eutokios, der Kommentator einiger Schriften des Archimedes, lebtemehr als sieben Jahrhundertenach Archimedes. Der Zeitraum schien Netzausreichend,umeinenentsprechendenWandelinderDarstellungsformdesBeweises alstypischfürEutokiosabernichtfürArchimedeszuerklären. Netz hat in seinem Buch The shaping of deduction in Greek mathematics von 1999 behauptet,dassnahezu allevoretwa 1975erschienenenDeutungengriechischer Mathe- matikentwederalswildeSpekulationenoderalsunhistorischeMachwerkezurückzuwei- sen sind. Es sei erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Netz in diesem Buch und in anderen Arbeiten wiederholt eigene Argumente als unbewiesene, weil u.U. letztlich unbeweis- bare Hypothesen und damit als spekulativ bezeichnen musste. In einer späteren Arbeit von2011hater sogareinenSatzin derMethodenschriftdesArchimedesineiner Weise gedeutet,dieverschiedeneKollegenihrerseitsalswildeSpekulationenablehnen.Eshan- delt sich dabei um eine Rückprojektiondes mit dem Mächtigkeitsbegriff für unendliche Mengen von GeorgCantor verbundenenaktualUnendlichenauf Archimedes unter Um- gehungallerhistorischerforderlichenZwischenschritte.Grundlagefürdiesevonseinem sonstigen Vorgehenvöllig abweichendeDeutung ist eine der wenigen Ergänzungenund Änderungender Methodenschriftgegenüberder von Heiberg edierten Fassung in einem 2011veröffentlichtenvorläufigenText.Dort(S.119)findetsich,wennmandiemitdiesen ErgänzungenverbundenenFragezeichenunberücksichtigtlässt,dreimalimGriechischen ein Ausdruck,denman Deutsch mit„sind ihrerAnzahlnachgleich“wiedergebenkann; SubjektwärendabeijeweilszweiMengenvonSchnitten,dienachNetz„klaralsunendlich anzusehensind“(Netz2011,S.304),obwohlimTextjedeexpliziteAussagedarüberfehlt. Aberselbstwennmandieszugesteht,fehltjedeRechtfertigungfürdiedamitverbundene Behauptung,dass Archimedes’ Mathematik weit über dieErrungenschaftendes 17.und 18.JahrhundertshinausbisindieSphärederAuseinandersetzungenumdieMengenlehre unddamitverbundenumdasaktualUnendlicheGeorgCantorsreicht. VorwortzurII.Auflage IX MindestensebensovielErstaunenhatdieDeutungvonNetzdessehrkurzenStomachi- onbetiteltenFragmentsindemPalimpsestausgelöst.DerkurzeerhalteneTextbetrifft14 Flächenstücke, elf Dreiecke, zwei Viereckeund ein Fünfeck, die sich zu einem Quadrat zusammensetzenlassen.DerersteTeildeseinleitendenSatzesbesagt,dassdieseFlächen- stücke eine ποικίλα θεωρία (poikila theoria) gewähren, was dem optischen Hintergrund derursprünglichenWortbedeutungentsprechendzunächstmit„bunter,verschiedenartiger Anblick“wiedergegebenwerdenkann.IndiesemSinnistderSatzoffenbarspäterinder Antike von Autoren wie Marius Victorinus verstanden worden, die aus den 14 Flächen- stückeneinZusammensetzspielausden14jetztelfenbeinernenFlächenstückenmachten, mitdemverschiedeneFigurenwieeinElefantgebildetwerdensollten. Heiberg hat der lateinischen Übersetzung von poikila theoria mit multiplex quaestio entsprechenddieStellealsvielfältigeFragestellungodervielfältigesProblemaufgefasst, waswiederumverschiedeneDeutungenzulässt.DemvonHeibergediertenTextfehltaber nachNetzdiezentraleAussage,diezusammenmitihremBeweisseineAbfassungrecht- fertigen würde. Eine solche Aussage findet sich allerdings in einer von Heinrich Suter 1899herausgegebenenarabischenFassungdesStomachions.DortheißtesnachderKon- struktion der 14 Teile des Quadrats: „Wir beweisen nun, dass jeder der vierzehn Teile zumganzenQuadratinrationalemVerhältnisstehe“.DieseAussagepasstgutzudemBe- strebenvon Archimedes,dieVerhältnisseverschiedenerKörperwie KugelundZylinder odervonFlächenwieParabelsegmentundeinbeschriebenemDreieckgleicherGrundlinie und Höhe sowie von Streckenabschnitten, in die eine Achse wie die Seitenhalbieren- de eines Dreiecks durch den Schwerpunkt geteilt wird, als rational nachzuweisen. Netz sahoffenbardieinderarabischenFassungdesStomachionsenthalteneFassungalsnicht spektakulärgenugfür dieinzwischen gewecktenErwartungenan.Schließlich waren die überweitmehrals einJahrzehntdauernden,vonvielen PersonendurchgeführtenArbei- tenandemPalimpsestvoneinemunbekanntgebliebenenMäzeningroßzügigsterWeise gefördertworden. Vor diesem Hintergrunderschien Netz dieim arabischen Textenthal- tene Lösung als zu trivial für ein Genie wie Archimedes. Deshalb musste mit Hilfe von MathematikernundComputerspezialisteneinProblemkonstruiertwerden,dasdenmathe- matischenFähigkeitenvonArchimedesangemessenundsensationslüsternenJournalisten ausreichendaufregenderschien.Eserübrigtsichdabeieigentlichfestzustellen,dassfürdie AnerkennungeinesfachlichenErgebnissesoderauchnurderPlausibilitäteinerHypothese nichtrelativleichtzumanipulierendefachfremdeJournalisten,sondernalleinkompetente Fachkollegenzuständigseinkönnen.EinzigeGrundlageaberfürdasVorgehenvonNetz im FalldesStomachionsisteinebeiHeibergfehlendeErgänzung,derendeutscheÜber- setzung lautet: „Es gibt also keine kleine Anzahl von Figuren aus denselben“. Zentral fürdiesePassageistderAusdruck„keinekleineAnzahl“,wobeifürAnzahldasgriechi- scheWortπλῆθος(plethos)steht.DiesesWortistnachdenverfügbarenAbbildungender StelleimPalimpsestkaum,wennüberhaupterkennbar.GrundlagefürdieSuchenachdie- semNetzsinnvollerscheinendenTextundverbundendamitdas„Sehen“und„Erkennen“ der obigen Ergänzung war das von den mit der Suche beauftragten Mathematikern und Computerspezialisten angebotene Problem. Das einem Zirkelschluss vergleichbare Vor- X VorwortzurII.Auflage gehen musste schließlich die Behauptung rechtfertigen, dass es sich bei dem zentralen ProblemdesStomachionsnurumdenNachweisderrelativgroßenAnzahlvonMöglich- keitenhandelnkann,ausden14TeilendesQuadratsneueKonfigurationendesQuadrats zubilden.TatsächlichkannmandasQuadratauf17152Weisenausden14,eigentlichelf Teilen konfigurieren, weil drei Paare der 14 Teile bei den Konfigurationen nie getrennt werdenkönnen.SiehtmanvonBewegungen(Drehungen)ab,derenErgebnisjeweilsals äquivalentmiteinerGrundlösungangesehenwerdenkann,bleibennochimmer536ver- schiedene solcher Grundlösungen übrig. Die zur Ermittlung dieser Zahlen notwendigen kombinatorischenMethodenmusstenalsonachNetzArchimedesbekanntgewesensein, waswiederumfürNetzdieNeuschreibungderGeschichteder(griechischen)Mathematik mehr als dringlich erscheinen ließ. Aus diesem vergleichsweise Nichts an Aussage eine beiArchimedes mehroder minder vollentwickelte Kombinatorikzu folgern,ist gemes- senandemfrüherenAutorengegenübererhobenenVorwurfwilderSpekulationziemlich erstaunlich. Niemand wird vernünftigerweise annehmen, dass nach vielen Jahrhunderten nur die bestenTextegriechischerMathematiküberliefertwurden.Esistvielmehrdamitzurech- nen,dassdurchverschiedeneEreignisse, wiedieofterwähntenZerstörungengroßeran- tiker Bibliotheken, auch hervorragendeWerke für immer verloren gingen. Aber wie der zufälligeFunddesAntikythera-InstrumentsdasWissenumdiefeinmechanischenFertig- keiten griechischer Instrumentenmacher nahezu schlagartig auf eine wesentlich höhere Stufehob,bedürfteesimFalldervorgelegtenDeutungdesStomachionseinesganzkon- kreten,bisheutefehlendenTextes,derArtundUmfangderbehauptetenkombinatorischen KenntnissevonArchimedesbelegt. Im Gegensatz zu der Bereitschaft, Archimedes ohne jede Evidenz Kenntnis und An- wendungkombinatorischerMethodenzuzutrauen,verschwindetderhistorischeArchime- des bei Netz im diffusen Licht des wenigen, was man allgemein über soziale Herkunft, Ausbildung und Betätigungsmöglichkeiten griechischer Mathematiker der Antike weiß oder auch nur vermutet;dies obwohl über Einzelheiten der Biographievon Archimedes anders als im Text des Stomachions konkrete, wenn auch unterschiedlich glaubwürdige AngabenvonverschiedenenantikenAutorenverfügbarsind. Dieser Haltungentsprichtauchdas2008erschieneneBuchvonMaryJägerArchime- desandtheRomanimagination.Jägernähertsichauskulturgeschichtlicher,insbesondere literaturgeschichtlicher Sicht den verschiedenen Archimedesbildern von Autoren, ange- fangenmit Vitruv undCicero bis Petrarca. Beiihr verschwindendievon den genannten Autoren berichteten biographischen Details über Archimedes hinter der Funktion, als Spiegel für die eigene, etwa von dem jeweiligen Autor kulturell höher bewertete römi- sche Identität zu dienen. So wird Archimedes in der Goldkranzgeschichte als ein nackt durch die Straßen von Syrakus rennender und Heureka schreiender Mann im denkbar größtenGegensatzzudenVerhaltensnormenderrömischenElitederAugustuszeitdurch Vitruvdargestellt.AuchCicerogingesbeidemBerichtüberseineWiederentdeckungdes vondornigemGestrüppüberwuchertenGrabesvonArchimedesim SyrakusnachJägers InterpretationvorallemumseineIdentifikationmitderRolleeinesVertretersdesinzwi-
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