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Aporien atomarer Abschreckung : Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen PDF

32 Pages·2018·0.608 MB·German
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SWP-Studie Peter Rudolf Aporien atomarer Abschreckung Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 15 Juli 2018 Kurzfassung Die nukleare Abschreckung ist wieder da. Gewiss, fort war sie nie, doch in den Hintergrund gerückt – und zumindest in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und kein großes Thema politischer Debatten. Das dürfte sich ändern. Die Hoff- nung, das Abschreckungssystem durch atomare Abrüstung zu überwinden, hat getrogen. Nukleare Abschreckung gewinnt in der Ära beginnender Großmachtkonflikte neue Bedeutung. Die Rüstungskontrolle stagniert, ja erodiert. Der über 30 Jahre alte Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen ist in Gefahr. Die Modernisierung der Kernwaffen- arsenale geht voran. Deutschland ist über die Nato und die nukleare Teilhabe in das nukleare Abschreckungssystem eingebunden. Zur nuklearen Teilhabe gehört bis dato die Fähigkeit zum Einsatz der in Deutschland gelagerten amerikanischen Atombomben. Dafür sorgen bislang atomwaffenfähige Tornado-Jagdbomber, die jedoch in absehbarer Zeit ersetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rückblick und Ausblick auf die nukleare Abschreckung und ihre strategischen, rechtlichen, ethischen und politi- schen Probleme angebracht. Der Blick richtet sich auf die amerikanische Abschreckungspolitik und ihre Rolle im westlichen Bündnis. Mit dieser Analyse atomarer Abschreckung und ihrer Aporien soll Orientierungswissen für die sich abzeichnende neue Nukleardebatte vermittelt werden. SWP-Studie Peter Rudolf Aporien atomarer Abschreckung Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 15 Juli 2018 Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN 1611-6372 Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen  7 Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin  12 Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung  17 Die rechtliche Dimension: Begründungsansätze und ihre Probleme  21 Die ethische Dimension: Legitimationsansätze und ihre Widersprüche  25 Die politische Dimension: Risiken und Kosten des Abschreckungssystems  29 Fazit Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow in der Forschungs- gruppe Amerika Problemstellung und Schlussfolgerungen Aporien atomarer Abschreckung. Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Die nukleare Abschreckung ist wieder da. Gewiss, fort war sie nie, doch in den Hintergrund gerückt – und zumindest in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein ver- schwunden und kein großes Thema politischer De- batten. Das dürfte sich ändern. Die Hoffnung, das Abschreckungssystem durch atomare Abrüstung zu überwinden, hat getrogen. Nukleare Abschreckung gewinnt in der Ära beginnender Großmachtkonflikte neue Bedeutung. Die Rüstungskontrolle stagniert, ja erodiert. Der über 30 Jahre alte Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen ist in Gefahr. Die Modernisierung der Kernwaffenarsenale geht voran. Deutschland ist über die Nato und die nukleare Teilhabe in das nukleare Abschreckungs- system eingebunden. Dazu heißt es im Koalitionsver- trag von 2018: »Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der Nato eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungspro- zessen teilzuhaben.« Zur nuklearen Teilhabe gehört bis dato die Fähigkeit zum Einsatz der in Deutschland gelagerten amerikanischen Atombomben. Dafür sor- gen bislang atomwaffenfähige Tornado-Jagdbomber, die jedoch in absehbarer Zeit ersetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rückblick und Ausblick auf die nukleare Abschreckung und ihre strategischen, rechtlichen, ethischen und politischen Probleme angebracht. Der Blick richtet sich auf die amerikanische Abschreckungspolitik und ihre Rolle im westlichen Bündnis. Mit dieser Analyse atomarer Abschreckung und ihrer Aporien soll Orientierungs- wissen für die sich abzeichnende neue Nukleardebat- te vermittelt werden. Im Rahmen der »erweiterten Abschreckung« haben amerikanische Kernwaffen die Funktion, mögliche Aggressoren vor Angriffen auf verbündete Staaten abzuschrecken. Das Problem, diese Funktion unter den Bedingungen wechselseitiger atomarer Vernich- tungsfähigkeit glaubwürdig zu erfüllen, hat die ame- rikanische Nukleardoktrin sowohl auf deklaratori- scher als auch auf operativer Ebene geprägt. Abschre- ckung im amerikanischen Verständnis beruht auf der SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen Fähigkeit, über vielfältige, abgestuft einsetzbare nu- Counterforce-Strategien sollen einen Ausweg aus kleare Optionen zu verfügen, die sich in erster Linie dem moralischen Dilemma nuklearer Abschreckung gegen die militärischen Fähigkeiten eines potentiellen eröffnen. Der grundsätzliche Einwand, so wird be- Gegners richten. Mit dieser Counterforce-Orientierung hauptet, verliere seine Gültigkeit, wenn Atomwaffen soll die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsdrohung so eingesetzt werden können, dass Zivilisten nicht erhöht und im Falle eines Krieges der Schaden für die mit Absicht angegriffen werden und Abschreckung USA und Verbündete begrenzt werden. die gegnerische Bevölkerung nicht als Geisel nimmt. Aus der strategischen Logik einer so verstandenen Doch diese Argumentation ist widersprüchlich: Einer- Abschreckung folgt die Notwendigkeit, für möglichst seits wird der einzigartige Charakter atomarer Waffen alle Szenarien Optionen an der Hand zu haben, die bestritten, wenn die Möglichkeit ihres ethisch und denen des Gegners entsprechen. In einem Konflikt humanitär-völkerrechtlich zu rechtfertigenden Ein- soll die eigene Handlungsmöglichkeit erweitert und satzes behauptet wird. Andererseits heißt es, nukleare der Gegenseite die Bürde weiterer Eskalation auferlegt Abschreckung funktioniere, weil sie auf dem Risiko werden. Dieser Logik zufolge, die sich in der jüngsten unkontrollierbarer Eskalation und unkalkulierbarer Überprüfung und Darlegung der amerikanischen Nu- Kosten beruhe. Nicht minder inkohärent ist die so- kleardoktrin, der Nuclear Posture Review vom Febru- genannte interimsethische Position, die sich im Zuge ar 2018, widerspiegelt, benötigen die USA eine Band- der letzten breiten öffentlichen nuklearethischen breite möglichst kontrolliert einsetzbarer atomarer Debatte in den frühen 1980er Jahren, hauptsächlich Optionen, darunter vor allem Kernwaffen geringerer in den großen Kirchen, herausgebildet hatte. Danach Sprengkraft. Die Hoffnung ist, dass so in einem Krieg sei es möglich, zwischen der Abschreckungsdrohung die nukleare Eskalation kontrollierbar bleibt. Schon und dem Einsatz von Kernwaffen zu trennen. Eine zu Zeiten des Ost-West-Konflikts erwies sich die Be- Drohung mit dem alleinigen Ziel der Kriegsverhütung grenzbarkeit und Beendigung eines nuklear geführ- galt im Sinn einer Notstandsethik als bedingt hin- ten Krieges als Problem, auf das die amerikanischen nehmbar, der Einsatz von Atomwaffen indes fast Planer nur eine Antwort hatten: möglichst viele flexi- immer als verboten. ble Optionen, darunter auch die Fähigkeit zu Prä- Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts war emptivschlägen gegen die gegnerischen Atomwaffen. die Erwartung verbreitet, dass die auf der wechsel- Durch das Zusammenwirken zielgenauer atomarer seitigen Vernichtungsfähigkeit beruhende nukleare und konventioneller Waffen sowie durch Fortschritte Abschreckung dauerhaft einen Krieg verhindern bei der Bekämpfung von strategischen U-Booten und könne. Zweifellos wirkte die wechselseitige Verwund- Cyberwarfare haben sich die Möglichkeiten, gegne- barkeit in Krisen mäßigend auf die Staatsführungen rische Kernwaffen zu neutralisieren, derart erweitert, in Washington und Moskau. Doch die Abschreckungs- dass in der amerikanischen Diskussion von der beziehung zwischen den USA und der Sowjetunion »Counterforce Revolution« gesprochen wird. blieb von Instabilitätsrisiken belastet. Beide Seiten Die am Counterforce-Ansatz orientierte Zielplanung fürchteten, die andere könnte in einer ernsten Krise soll den Einsatz von Atomwaffen in einer Weise den Präemptivschlag erwägen. Aufgrund von Fort- ermöglichen, die grundlegenden Normen des huma- schritten bei der Cyber-Kriegsführung, aber auch bei nitären Völkerrechts nicht widerspricht, also dem weitreichenden zielgenauen konventionellen Waffen, Unterscheidungs- und dem Verhältnismäßigkeitsge- Anti-Satelliten-Waffen, der (amerikanischen) Raketen- bot genügt. Rechtmäßig ist nukleare Abschreckung verteidigung und autonomen Waffensystemen könn- aus dieser Sicht dann, wenn ein rechtskonformer te die strategische Stabilität in Zukunft eher noch Einsatz möglich ist. Ein solcher Legitimierungsansatz gefährdeter sein. Zu rechnen ist auch mit einer weite- stellt darauf ab, dass Atomwaffen kleinerer Spreng- ren, aus der Zeit des Ost-West-Antagonismus bekann- kraft zielgenau gegen militärische Objekte eingesetzt ten Entwicklung, nämlich dass sich das Sicherheits- werden können. Der Begriff »militärisches Objekt« dilemma verschärft und die Rüstungskonkurrenz wird aber in einem sehr weiten, völkerrechtlich strit- angeheizt wird. Denn Abschreckung setzt die Aggres- tigen Sinne verwandt. Unkontrollierbare Folgen von sivität des potentiellen Gegners voraus. Solange er Atomwaffeneinsätzen, das heißt radioaktiver Fallout über militärische Fähigkeiten verfügt, die in einer und Strahlung, bleiben in diesem Rechtfertigungs- Worst-case-Analyse als bedrohlich erscheinen, bleibt ansatz zudem genauso ausgeblendet wie die kumula- er der potentielle Aggressor, der abgeschreckt werden tiven Wirkungen fortgesetzter »kleinerer« Einsätze. muss. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 6 Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Die Nato versteht sich nach wie vor als »nukleares Atomwaffen Gefechtsfeldwaffen kurzer Reichweite Bündnis«. Im Falle einer Bedrohung der fundamen- verstanden, im Unterschied zu strategischen Waffen talen Sicherheit eines Mitgliedstaates besitzt es, wie großer Reichweite. Will man ein einfaches pragmati- etwa im Abschlussdokument des Brüsseler Gipfel- sches Kriterium anwenden, dann lassen sich als takti- treffens vom Juli 2018 zu lesen, die Fähigkeit und die sche oder nichtstrategische Waffen all jene bezeich- Entschlossenheit, einem Gegner inakzeptable Kosten nen, die nicht von den einschlägigen amerikanisch- aufzuerlegen.1 Besser lässt sich der Gehalt nuklearer sowjetischen und amerikanisch-russischen Verträgen Abschreckung kaum auf den Punkt bringen. Ab- zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen (SALT- schreckung soll die Absichten des potentiellen Geg- Verträge, START-Verträge) erfasst wurden.3 ners, seine Kosten-Nutzen-Kalkulation, beeinflussen; Für die abschreckungspolitische Bedeutung takti- Verteidigung soll im Falle des Versagens der Abschre- scher, auf dem Boden verbündeter Staaten stationier- ckung die eigenen Kosten und Risiken begrenzen. ter Kernwaffen werden üblicherweise drei Gründe Im Kontext nuklearer Abschreckung dienen Kern- angeführt.4 Erstens können sie möglicherweise im waffen dazu, dem Gegner die Möglichkeit einer relativ Sinne der »Abschreckung durch Erfolgsverweigerung« überschaubaren Kosten-Nutzen-Kalkulation zu ent- (»deterrence by denial«) direkte militärische Funktio- ziehen und die Ungewissheit über die Gesamtkosten nen haben.5 Zweitens erhöhen sie das Risiko unkon- einer Aggression zu erhöhen.2 trollierbarer Eskalation. Dies entspricht der Logik der Diese Funktion, nämlich die Folgen einer Aggres- Abschreckung als »Wettstreit in der Risikobereitschaft« sion unkalkulierbar und inakzeptabel zu machen, (»competition in risk taking«). In diesem Verständnis erfüllen im Rahmen der sogenannten erweiterten geht es nicht so sehr um militärische Erfolge auf dem Abschreckung vor allem die amerikanischen Atom- Schlachtfeld, sondern um die Entschlossenheit, Risi- waffen. Deren Aufgabe beschränkt sich also nicht ken einzugehen und sich in einen Prozess zu be- darauf, einen Aggressor vor einem Angriff auf die geben, der nicht zu beherrschen ist und am Ende zu USA abzuschrecken. Auch Angriffe auf verbündete hohen Kosten führen könnte, was wiederum keine Staaten sollen auf diese Weise verhindert werden, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. Die 3 Siehe Amy F. Woolf, Nonstrategic Nuclear Weapons, Wash- Abschreckungsdrohung stützt sich in letzter Instanz ington, D.C.: Congressional Research Service (CRS), 21.2.2017 auf die strategischen Atomwaffen der USA. Allerdings (CRS Report), S. 6ff. ist die Unterscheidung zwischen strategischen und 4 Zum Folgenden siehe Todd S. Sechser, »Sharing the Bomb: nichtstrategischen (taktischen) Atomwaffen nicht How Foreign Nuclear Deployments Shape Nonproliferation trennscharf. Traditionell wurden unter taktischen and Deterrence«, in: The Nonproliferation Review, 23 (2016) 3– 4, S. 443–458. 5 Zur Unterscheidung zwischen »deterrence by denial« und 1 Nato, Brussels Summit Declaration. Issued by the Heads of State »deterrence by punishment« siehe Glenn H. Snyder, »Deter- and Government Participating in the Meeting of the North Atlantic rence and Power«, in: Journal of Conflict Resolution, 4 (1960) 2, Council in Brussels, 11-12 July 2018, Brüssel, 11.7.2018. Die For- S. 163–178: »In military affairs deterrence by denial is ac- mulierung entspricht derjenigen früherer Verlautbarungen. complished by having military forces which can block the 2 Die klassische Unterscheidung zwischen Abschreckung enemy’s military forces from making territorial gains. Deter- und Verteidigung findet sich bei Glenn H. Snyder, Deterrence rence by punishment grants him the gain but deters by and Defense: Toward a Theory of National Security, Princeton, NJ: posing the prospect of war costs greater than the value of Princeton University Press, 1961, S. 3ff. the gain.« (S. 163). SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 7 Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Seite will. Ziel ist also, das gemeinsame Interesse an politischer Druck, daran etwas zu ändern, bestand der Vermeidung eines Atomkrieges zum eigenen Vor- nicht, abgesehen von der versandeten deutschen teil zu manipulieren.6 Drittens hat die Vornestatio- Initiative in den Jahren 2009/10 zum Abzug der ame- nierung taktischer Nuklearwaffen Signalfunktion rikanischen Atomwaffen aus Deutschland. In der gegenüber einem Gegner. Allianzpolitisch dienen sie Nato wurden Nuklearfragen möglichst ohne große auf diese Weise der Versicherung verbündeter Staaten. öffentliche Aufmerksamkeit behandelt; in den Selbst wenn ihre abschreckungspolitischen Funktio- Gesellschaften der Mitgliedstaaten war die nukleare nen obsolet sein könnten, ließe sich – so eine häufig Abschreckung nach Ende des Ost-West-Konflikts geäußerte Befürchtung – eine Veränderung des kaum mehr ein Thema.9 Status quo als politisch bedenkliche Botschaft deuten. In Westeuropa wurden taktische Atomwaffen in Die Rolle der erweiterten den 1950er Jahren als Gegengewicht zur konventio- Abschreckung prägte und prägt die nellen Überlegenheit des Warschauer Pakts statio- amerikanische Nukleardoktrin in niert. Für die Nato hat die nukleare Abschreckung hohem Maße. seitdem große politisch-symbolische Bedeutung ge- wonnen. Daran änderte sich auch nichts, als in den Die Rolle der erweiterten Abschreckung prägte und frühen 1990er Jahren die Administration unter dem prägt die amerikanische Nukleardoktrin in hohem Präsidenten George H. W. Bush die taktischen Atom- Maße. Diese zeichnet sich seit mehr als vier Jahrzehn- waffen aus Europa abzog, mit Ausnahme jener 160 ten durch beachtliche Kontinuität aus. Das gilt sowohl bis 200 amerikanischen Atombomben vom Typ B61, für die deklaratorische als auch für die operative die auf Stützpunkten in Belgien, Deutschland, Italien, Nuklearpolitik. Deklaratorische Politik soll potentiel- den Niederlanden und der Türkei stationiert sind.7 len Gegnern, aber auch verbündeten Staaten die eige- Sie hatten zwar eigentlich keine militärische Funk- nen Fähigkeiten und Absichten vermitteln. Sie soll tion mehr,8 verkörperten aber weiterhin die ameri- politische und perzeptorische Wirkungen erzielen kanische Nukleargarantie auch in einer Zeit, als die und enthält ein gewisses Maß an Zweideutigkeit, um Bedrohung längst verschwunden und ein wieder- für den Ernstfall die eigene Flexibilität zu erhalten. erstarkendes Russland nur eine ferne Möglichkeit Deklaratorische Politik sollte aber auch nicht zu weit war. Auch wenn in den Jahrzehnten nach Ende der von dem abweichen, was tatsächlich operativ geplant Ost-West-Konfrontation rational wenig für die fort- ist.10 gesetzte Präsenz taktischer Nuklearwaffen sprach, Die Kontinuität deklaratorischer Politik seit Ende sorgten jedoch ihre symbolische Bedeutung und die des Ost-West-Konflikts gilt in wichtigen Punkten auch auf Konsens ausgerichteten Entscheidungsverfahren für die Amtszeit von Präsident Barack Obama. Dieser der Nato dafür, dass der in den frühen 1990er Jahren machte sich zwar die Vision einer atomwaffenfreien etablierte Status quo fortdauerte. Ein nennenswerter Welt zu eigen und wollte die vertraglich geregelte Abrüstung vorantreiben, aber an den Pfeilern der 6 Thomas C. Schelling, Arms and Influence, New Haven/ London: Yale University Press, 1966, bes. Kap. 3; dazu 9 Trine Flockhart, »NATO’s Nuclear Addiction – 12 Steps besonders Robert Jervis, The Illogic of American Nuclear Strategy, to ›Kick the Habit‹«, in: European Security, 22 (2013) 3, S. 271– Ithaca, NY/London: Cornell University Press, 1984, S. 126– 287. Siehe auch Martin A. Smith, »To Neither Use Them nor 146. Lose Them: NATO and Nuclear Weapons since the Cold 7 Siehe Woolf, Nonstrategic Nuclear Weapons [wie Fn. 3], War«, in: Contemporary Security Policy, 25 (Dezember 2004) 3, S. 13ff. S. 524–544; Michael Paul, Atomare Abrüstung. Probleme, 8 »Given the above-mentioned insight that nuclear weap- Prozesse, Perspektiven, Bonn: Bundeszentrale für politische ons have to be militarily usable (in a plausible manner) in Bildung, 2012 (Schriftenreihe Bd. 1248), S. 39–45. order to have a political deterrence effect, the conceptual 10 So Paul H. Nitze, »Atoms, Strategy and Policy«, in: plausibility of NATO’s nuclear bombs on European soil in Foreign Affairs, (Januar 1956), S. 187–198. Dort findet sich today’s security environment is close to nil.« Karl-Heinz die klassische Unterscheidung zwischen »declaratory policy« Kamp/Robertus C. N. Remkes, »Options for NATO Nuclear und »action policy«, die im heutigen Sprachgebrauch eher Sharing Arrangements«, in: Steve Andreasen/Isabelle als »employment policy« oder »operational policy« bezeich- Williams (Hg.), Reducing Nuclear Risks in Europe. A Framework net wird. Grundsätzlich zum Charakter und der Funktion for Action, Washington, D.C.: Nuclear Threat Initiative, 2011, von »declaratory policy« siehe auch Snyder, Deterrence and S. 76–95 (83). Defense [wie Fn. 2], S. 240f, 246. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 8

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