Barbara Seewald Aphasie und Natürlichkeit Psycholinguistische Studien Herausgegeben von Gert Rickheit und DieterMe tzing In der Reihe "Psycholinguistische Studien: Normale und pathologische Spra che und Sprachentwicklung" werden Arbeiten veröffentlicht, welche die For schung in diesen Bereichen theoretisch oder empirisch vorantreiben. Dabei gibt es grundsätzlich keine Beschränkung in der Wahl des theoretischen An satzes oder der empirischen Methoden. Sowohl Beobachtungs- als auch expe rimentelle Studien sollen in dieser Reihe erscheinen, ebenso Arbei~en, die Sprachverarbeitungsprozesse mit Hilfe von Computern simulieren, sofern sie nicht nur lauffähige Systeme darstellen, sondern auch deren empirische Vali dität aufzeigen. Im Bereich der pathologischen Sprache sollen neue Diagnose- und Therapie verfahren sowie Erklärungsansätze für bestimmte Formen sprachlicher Ab weichungen oder abweichender Entwicklungen in die Reihe aufgenommen werden. Arbeiten, die die normale Sprachverwendung thematisieren, sollen neue Einsichten in die Mechanismen und das Funktionieren der sprachlichen Kommunikation vermitteln. Die Studien, die die Sprachentwicklung zum Gegenstand haben, sollten sich thematisch auf die normale oder auf die gestörte Entwicklung der Sprache konzentrieren und die empirischen Befunde auf entsprechende theoretische Konzepte beziehen. Barbara Seewald Aphasie und Natürlichkeit Abbauhierarchien im Bereich der Grammatik Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Alle Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 1998 Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbe sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. http://www. westdeutschervlg.de Höchste inhaltliche und technische Qualität unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produk tion und Verbreitung unserer Bücher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf säu refreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschweißfolie besteht aus Po lyäthylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen. Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden ISBN 978-3-531-13269-3 ISBN 978-3-322-93551-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93551-9 Für Frida, Clemens und Peter, die dafür sorgten, daß die Prioritäten meines Lebens bewahrt blieben Inhalt Einleitung ............................................................................................................ 11 1. Grammatische Kategorien und ihre Funktion .................................................. 17 1.1 Die Funktion sprachlicher Zeichen ........................................................ 17 1.2 Die Funktion von Grammatik ................................................................ 20 1.3 Die Funktion von Verbalkategorien ....................................................... 21 1.4 Verbalkategorien, Semiotik und Aphasie ............................................... 23 2. Grammatische Hierarchien .............................................................................. 25 2.1 Entstehung des Hierarchiegedankens ..................................................... 25 2.2 Markiertheit und Natürlichkeit.. ............................................................ 27 2.2.1 Die Anfange der Markiertheitstheorie ............................................ 27 2.2.2 Untersuchungen zu Abbauhierarchien im Bereich der Grammatik .................................................................................... 30 2.2.3 Natürlichkeit. ................................................................................. 33 2.2.4 Markiertheitsabbau ........................................................................ 37 2.3 Markiertheit und Grammatik ................................................................. 39 2.4 Markiertheit und Verbalkategorien ........................................................ 40 2.5 Markiertheit, grammatische Kategorien und Aphasie ............................ 45 3. Der Untersuchungsbereich: Temporalität, Modalität und Aspektualität.. .......... 48 3.1 Aspekt ................................................................................................... 48 3.2 Tempus ................................................................................................. 52 3.3 Modus ................................................................................................... 57 3.4 Lexikalische Deixis: Temporaladverbien und Modalwörter ................... 60 4. Untersuchung von Verbalkategorien bei Agrammatismus ................................ 62 4.1 Methode ................................................................................................ 62 4.2 Probanden ............................................................................................. 63 4.2.1 Aphasiker ...................................................................................... 63 4.2.2 Vergleichspersonen ........................................................................ 68 4.3 Aufbau der Untersuchung ...................................................................... 68 4. 3.1 Untersuchungsmaterial und Durchführung .................................... 68 4.3.2 Datenerhebung .............................................................................. 74 5. Darstellung und Diskussion der Ergebnisse ...................................................... 77 5 .l Infinite Formen/ Aspekt ........................................................................ 81 5.2 Tempus ................................................................................................. 87 5.2.1 Präsens .......................................................................................... 88 5.2.2 PAST ............................................................................................. 91 5.2.3 Futur.. ............................................................................................ 96 5.2.4 Plusquamperfekt .......................................................................... 101 8 Inhaltsverzeichnis 5.3 Modus ................................................................................................. 102 5.4 Zusatzbefund schwerer Agrammatismus .............................................. llO 5.5 Substitutionen und Markiertheit... ........................................................ ll2 5.6 Norninalisierungen .............................................................................. 116 5.7 Lexikalische Deiktika in den Bereichen Temporalität und Modalität ............................................................................................. 117 5.8 lmplikationen des Markiertheitskonzepts für Forschung, Diagnostik und Therapie ..................................................................... 121 5. 9 Abschließende Betrachtung und Ausblick auf zukünftige Forschungsinhalte ................................................................................ 127 6. Zusammenfassung .......................................................................................... l30 Literatur ............................................................................................................. 136 Anhang A: Tabellen .............................................................................................. 143 B: Verwendete Verbformen im Untersuchungsteil STIM .......................... 160 C: Verwendete Stimulusabbildungen ........................................................ 175 D: Isolierte Partizip li-Formen .................................................................. 181 Vorwort Bei der Entstehung der vorliegenden Arbeit haben mich zahlreiche Menschen unterstützt, denen ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Allen voran möchte ich meinen Probanden für ihr Vertrauen und ihr Engagement danken. Ohne ihren Einsatz, den einige unter erschwerten persönlichen Bedingungen leisteten, hätte das Vorhaben nicht realisiert werden können. Meine Betreuer Elisabeth Leissund Horst-Haider Munske standen mir mit ihrem reichen Erfahrungsschatz zur Seite und ließen mir gleichzeitig einen maximalen Freiraum. Ihnen danke ich für ihren fachlichen und persönlichen Respekt. Für den Entwurf und den Aufbau der Untersuchung gaben Wolfgang U Dressler und Jacqueline A Stark eine wertvolle Starthilfe. Luise Springer und Martina Penke verdanke ich wertvolle fachliche Hinweise und Auskünfte. Mit ihrer Bereitschaft, problematische Punkte zu diskutieren, trugen Sabine Engel, Dong Ying Hong, Gabriele Diewald, Annegret Ott, Doris Weber und Silke Kruse dazu bei, daß aus einem vorsichtigen Versuch ein spannendes Unternehmen wurde. Mein besonderer Dank gilt Hildegard Weeg, Michael Tielemann und Ingrid Stockinger, die mit Engagement und Akribie einen beträchtlichen Teil der Korrekturarbeiten übernahmen. Monika Bihler war mir mit ihrer fundierten Kritik eine wichtige Unterstützung. Kurt Meidenbauer und die Aphasikerselbsthilfegruppe Nürnberg, die logopädische Praxis Susanne Bachern und Evi Finkbeiner sowie Theodor R v. Stockert und die Logopädinnen der neuropsychologischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses Erlangen waren mir bei der Vermittlung von Probanden eine unerläßliche Hilfe. Finanziell unterstützt wurde die Arbeit durch ein Stipendium aus dem Hochschulsonderprogramm li (HSP li) der Universität Erlangen-Nürnberg. Meinen Eltern danke ich für alle sichtbare und unsichtbare Unterstützung. Sie standen mir sowohl durch ihre Zuversicht als auch durch tatkräftige Enkelfürsorge zur Seite. Besonders bedanken möchte ich mich schließlich bei meinem Mann Peter, der in bewundernswerter Ausdauer der Arbeit zu einer leserfreundlichen Optik verhalf und mich mit seiner Liebe und seinem Humor durch die Arbeit begleitete. Einleitung Die Beschreibung von aphasischen Sprachstörungen beschäftigt Neurologen, Sprachwissenschaftler und Psychologen seit mehr als einem Jahrhundert. Während insbesondere in der Anfangsszeit das Interesse an der Lokalisation psychischer Funktionen im Gehirn die Aphasieforschung motivierte, stand in den letzten Jahren der Entwurf von Sprachverarbeitungsmodellen im Vordergrund. Die Suche nach einem Mechanismus der Steuerung aphasischer Abbauprozesse ist trotz der langjährigen Forschungstradition ohne befriedigende Ergebnisse geblieben. Längst ist klar, daß aphasische Fehlbildungen nicht willkürlich auftreten, sondern sich durch ein regelmäßiges Muster auszeichnen. Wenngleich aphasische Phänomene - seien sie semantischer, syntaktischer oder grammatischer Natur - mittlerweile sehr detailliert beschrieben werden, steht bislang eine umfassende Erklärung dafür aus, warum Fehlbildungen in genau dieser Regelhaftigkeit auftreten. Die vorliegende Arbeit vertritt den Standpunkt, daß die Lösung dieser überfalligen und komplexen Frage im neurolinguistischen Alleingang nicht möglich ist. Es wird davon ausgegangen, daß über die pathologischen Evidenzen hinaus weitere linguistische und nicht-linguistische Quellen herangezogen werden müssen. Dazu gehören neben fundierten Grundlagen seitens der linguistischen Theoriebildung sowie kognitions- und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen auch die Beschreibung sprachlicher Prozesse, wie sie bei Sprachwandel, Spracherwerb und Kreolsprachen stattfinden. Damit ist die vorliegende Arbeit an die Schnittstelle zwischen theoretischer Linguistik und Aphasiologie einzuordnen. Diese Interdisziplinarität vereinigt zwei Forschungsperspektiven. Auf der einen Seite steht der Versuch, aphasische Störungen mit Hilfe von Modellen aus der theoretischen Linguistik zu beschreiben und zu erklären. Auf der anderen Seite werden gestörte Prozesse der Sprache als Evidenz für die linguistische Theoriebildung verwendet, das heißt, es wird erprobt, ob sich theoretische Modelle nicht nur in ungestörter Sprache, sondern auch in der Sprachpathologie bewähren. Für die Beschreibung und Erklärung aphasischer Störungen wird ein Ansatz aufgegriffen. der bereits in den dreißiger Jahren entwickelt wurde. Er erfuhr - mit Ausnahme des Bereichs phonologischer Störungen - in der Aphasieforschung bislang wenig Aufmerksamkeit, was neben methodischen Mißverständnissen vermutlich auch forschungspolitischen Gründen zuzuschreiben ist. Bei besagtem Ansatz handelt es sich um die aus dem funktionalen Strukturalismus entstandene Markiertheilstheorie (JAKOBSON 1957/1971, MAYERTHALER 1977). Gemäß dieser Theorie besteht eine natürliche Sprache nicht aus gleichrangigen. nebengeordneten Elementen, sondern ist in ihrem Aufbau hierarchisch strukturiert. Die entscheidende Bedingung dieser hierarchischen Organisation wird in der Anordnung der Sprachelemente in sogenannten "binären Oppositionen" gesehen. Für den hierarchischen Aufbau der Sprache werden vor allem solche Oppositionen verantwortlich gemacht, deren Pole eine unterschiedliche Wertigkeit bzw. Markiertheil aufweisen. Das markierte Element einer solchen Opposition weist eine