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Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens PDF

154 Pages·2004·0.6 MB·German
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Elisabeth Zöller Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens Mit einem Nachwort von Ernst Klee Fischer Schatzinsel Unterrichtsbegleitmaterial und weiterführende Literaturhinweise zu diesem Buch finden Sie unter www.fischerschatzinsel.de 2. Auflage: Dezember 2004 Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, August 2004 © 2004 Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Lektorat: Katja Massury Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-85156-4 Lehrer Heimann hat Anton immer mehr auf dem Kieker. Er gibt Strafarbeiten, wenn Anton zuckt. Er schlägt, wenn Anton schweigt. Er lacht ihn aus, wenn er stottert. Er spottet, wenn Anton rechnet. Einer wie Anton hat in der Schule nichts zu suchen. Einer wie Anton hat eigentlich überhaupt kein Recht zu leben. Denn Anton ist leicht behindert, und es ist das Jahr 1941. Elisabeth Zöller wurde 1945 in Brilon geboren. Sie studierte Deutsch, Französisch, Kunstgeschichte und Pädagogik in München, Münster und Lausanne. Sie arbeitete fast 20 Jahre lang als Lehrerin an verschiedenen Gymnasien. Seit 1989 ist sie freie Schriftstellerin. Immer wieder hat sie sich in ihren Kinder- und Jugendromanen mit dem Thema Gewalt auseinander gesetzt und mit Titeln wie »Schwarzer, Wolf, Skin« (unter dem Pseudonym Marie Hagemann erschienen) oder »Anna rennt« große Erfolge erzielt. Im Programm der Fischer Schatzinsel wurde von ihr unter anderem der Jugendroman »Auf Wiedersehen, Mama« (Bd. 80509) veröffentlicht. Unter dem Namen »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« wurde 1939 eine Organisation geschaffen, die geisteskranke und missgebildete Kinder, zunächst bis zum Alter von drei Jahren, erfasste, später auch ältere. Die als »lebensunwertes Leben« deklarierten Kinder kamen in so genannte Kinderfachabteilungen von Heil- und Pflegeanstalten, wo sie systematisch getötet wurden. Das alles sollte unter strengster Geheimhaltung geschehen. Prolog Es klopft an der Tür. Laut und fordernd. Die Mutter und Anton sehen sich erschrocken an. Tante Annie geht in die Diele. Mechanisch öffnet sie: Zwei junge Männer in Polizei-Uniform stehen da, SS-Zeichen auf der Gürtelschnalle. Der eine trägt einen Schnauzer. »Heil Hitler«, grüßt er schnittig. »Wir suchen Anton Brocke. Er soll hier bei Ihnen sein.« »Nein«, sagt Tante Annie fest. »Der ist nicht hier.« »Wirklich nicht?«, fragt der Schnauzbärtige. Er stellt seinen Fuß in die Tür. Teil 1 Anton wächst heran 1938 »Wir müssen uns wehren«, sagt der Vater. »Was ist das für eine Welt, in der es ein Unrecht ist, ein krankes, leicht behindertes Kind im Schoß der Familie aufwachsen zu lassen«, seufzt die Mutter. »Von ›krank‹ kann man bei Anton überhaupt nicht sprechen«, entgegnet der Vater und wiederholt damit, was Onkel Franz gestern im Zusammenhang mit Antons Einschulung gesagt hat. Onkel Franz erinnerte daran, dass Antons Behinderung die Folge eines Unfalls ist und nicht auf eine angeborene Geisteskrankheit zurückzuführen sei. Aber selbst wenn die Ärzte das bestätigten, ändere es nichts an der Tatsache, dass ein geistig zurückgebliebenes oder sonst wie behindertes Kind den nationalsozialistischen Machthabern ein Dorn im Auge sei, wie überhaupt alles, was nicht in ihr nazistisches, rassistisches Weltbild passe. »Natürlich macht ihm die Lähmung in seinem rechten Arm zu schaffen. Und sein Stottern ist manchmal mühsam. Aber er ist doch sonst sehr wach«, ereiferte sich Onkel Franz. »Er muss in die Schule. Bei seiner mathematischen und künstlerischen Begabung hat er Möglichkeiten.« »Heute nicht mehr«, sagte die Mutter. Wer hellhörig ist, zweifelt längst nicht mehr daran, dass die Nazis im Begriff sind, »Maßnahmen« zu treffen. Es sei kein Geheimnis, sagte Onkel Franz, dass Hitler einen Katalog erstellen lasse, in dem die Erkennungsmerkmale »angeborener Missbildung« und »geistiger Unterentwicklung« aufgezeigt würden. Onkel Franz empörte sich darüber und meinte, es sei ein Verbrechen, Menschen zu katalogisieren und in solch Menschen verachtender Weise zu Krüppeln oder Idioten zu stempeln. »Im Herbst nehme ich Anton in meine Klasse«, sagte Onkel Franz. »Das kriegen wir schon hin.« »Sonst muss er in eine Anstalt«, flüsterte der Vater. »Und das wäre ein großes Unrecht«, fügte er hinzu. »Mit links könnte er ja schreiben. Aber ein deutscher Junge schreibt rechts«, sagte die Mutter verbittert. Sie haben lange schweigend gesessen. Das Leben wurde immer bedrohlicher, seit Hitler die Macht ergriffen hatte. Mama und Anton sitzen am Küchentisch. An der einen Seite ist die Kredenz. Über der Kredenz hängt das Klappbild des Führers. Der Vater hat es gebastelt. »Für den Hitler kaufe ich keinen extra Bilderrahmen«, hat er gemurmelt. Er hat das Herz-Jesu-Bild mit dem flammenden Herzen von der Wand genommen, ist damit in seinen Bastelkeller hinuntergestiegen und hat auf die Rückseite das Führerbild montiert. Über das Führergesicht hat er eine Cellophanfolie gespannt, wie sie die Mutter über die Marmeladengläser zieht. Rundherum hat er eine schwarze Holzkante genagelt, eine Öse oben zum Aufhängen. Und unter dem Führerauge blinzelt die Schrift von Onkel August durch: »Erinnerung an deine erste heilige Kommunion«. »Das muss reichen«, hat er gemurmelt und das Bild, mit dem Herzen Jesu nach vorne, wieder an seinen Platz gehängt. »Der Führer wird nur ausgeklappt, wenn der Ortsgruppenleiter oder der Blockwart kommen, oder auch Herr Nemann«, meinte der Vater. Herr Nemann ist ein strammer Nazi. Und ein Lehrer sollte das Bild des Führers daheim in seiner Wohnung an der Wand hängen haben. Schließlich klopfte der Vater auf das Bild und nickte. »Da bist du gut aufgehoben, das Herz Jesu hält dich in Schach.« Er grinste. »Wenn’s nur in Wirklichkeit auch so wäre!«, murmelte er dann. Anton summt ein Lied. Die zarte Stupsnase und ein ahnungsvoller Schimmer in den großen, weit geöffneten Augen. »Wie kriegen wir das bloß hin?«, fragt die Mutter noch einmal für sich. Sie sitzt am Küchentisch und stopft Strümpfe. »W-w-was?«, fragt Anton. »Das mit der Schule«, antwortet die Mutter. »W-w-was mit d-d-der Sch-Sch-Schule?« Anton will doch zur Schule gehen! Was sollen sie da »hinkriegen«? Wovon reden die immer? »Das verstehst du noch nicht«, sagt Mama. Sie pickt die Krümel von der Wachstuchdecke. »Du kommst in die Klasse von Onkel Franz«, erklärt ihm Mama. Onkel Franz ist Vaters Kollege. Er hält zu ihm. Der Vater und Onkel Franz sind gute Freunde. »Und das Schreiben? Wird Anton das Schreiben hinbekommen?«, hat der Vater gefragt. Anton ist ungeschickt in der Handführung, aber der Geschickteste mit Zahlen im Kopf. »Ich werde das deichseln«, hat Onkel Franz zuversichtlich gemeint. »Im Rechnen wird er bestimmt einer der Besten sein! Anton ist ein richtiger Rechenkünstler.« Die andern Lehrerkollegen an der Josephschule sagen mit Überzeugung »Heil Hitler«. Der Vater sagt es hastig und schnell. Wie Onkel Franz. Nur einmal, da haben sie den Vater zur Rede gestellt. Sie haben ihn

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