Antike und moderne Strategien der Texterschließung Eine Untersuchung in der Lektürephase des gymnasialen Lateinunterrichts auf der Grundlage von Originalquellen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Kassel vorgelegt von Beate Hoffmann Kassel im Juni 2012 Erstgutachterin: Prof. Dr. Dorit Bosse Zweitgutachter: Prof. Dr. Walter Eykmann Tag der mündlichen Prüfung: 8. November 2012 2 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ........................................................................................................................... 7 1.1 Latein – mehr als ein Schulfach ................................................................................. 7 1.2 Themenwahl ............................................................................................................. 10 1.3 Stand der Forschung ................................................................................................. 13 1.4 Ziel der Arbeit .......................................................................................................... 16 1.5 Forschungshypothesen ............................................................................................. 17 1.6 Methodisches Vorgehen und Ablauf der Studie ...................................................... 17 1.7 Definitionen und Beschreibungen ............................................................................ 18 2 Antike Strategien der Texterschließung ........................................................................... 23 2.1 Schule in der Antike ................................................................................................. 23 2.1.1 Griechisches enkyklios-paideia-Ideal als theoretische Grundlage ....................... 23 2.1.2 Römische Schulorganisation ................................................................................ 24 2.1.3 Unterrichtsmaterialien .......................................................................................... 29 2.2 Praxis antiker Texterschließung ............................................................................... 39 2.2.1 Vorüberlegungen .................................................................................................. 39 2.2.2 Aufbereitung des Quellenmaterials ...................................................................... 40 2.2.3 Erschließung auf der Schriftebene ....................................................................... 42 2.2.4 Basiserschließung auf der Inhaltsebene ............................................................... 73 2.2.5 Erschließung auf der Werkebene ......................................................................... 79 2.2.6 Tiefenerschließung auf der Inhaltsebene .............................................................. 84 2.2.7 Verarbeitung des Textes ..................................................................................... 105 2.2.8 Visualisierung des Inhaltes ................................................................................. 114 2.3 Theoretische Überlegungen antiker Experten zur Texterschließung ..................... 120 2.3.1 Vorbemerkungen ................................................................................................ 120 2.3.2 Bildungstheorie und Umgang mit Texten in der Antike .................................... 122 2.3.3 Arbeitsmaterial und Benutzung .......................................................................... 125 2.3.4 Der Faktor Zeit ................................................................................................... 126 2.3.5 Übersetzungstheorie ........................................................................................... 126 2.3.6 Schlussfolgerung ................................................................................................ 130 3 Moderne Strategien der Texterschließung ..................................................................... 131 3.1 Beschreibung der Ausgangslage im aktuellen Lateinunterricht ............................. 131 3.1.1 Vorüberlegungen ................................................................................................ 131 3.1.2 Zur Situation am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt ............................. 134 3.2 Untersuchungen am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt ............................ 136 3.2.1 Forschungsdesign ............................................................................................... 136 3.2.2 Beschreibung der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe ....................... 139 3.2.3 Erhebung vor dem CLAVIS-Projekt .................................................................. 141 3.2.4 CLAVIS: Strategietraining auf der Grundlage von und mit antiken Quellen .... 159 3 3.2.5 Erhebung im Anschluss an das CLAVIS-Projekt .............................................. 197 3.2.6 CLAVIS in der Kontrollgruppe .......................................................................... 199 3.2.7 Auswertung ........................................................................................................ 199 3.2.8 Diskussion der Ergebnisse ................................................................................. 238 3.2.9 Abschließende Schülerbefragung zum CLAVIS-Projekt .................................. 244 3.2.10 Präsentation der Ergebnisse in den 10. Klassen ............................................... 246 4 Einordnung der Untersuchung in die aktuelle Diskussion um gymnasiale Bildung ...... 249 4.1 Das Gymnasium gestern und heute ........................................................................ 249 4.2 PISA ....................................................................................................................... 250 4.3 Profil und Anspruch des Gymnasiums in Bayern .................................................. 252 4.4 Das Fach Latein in der Kompetenzdebatte............................................................. 255 4.5 Ausblick ................................................................................................................. 258 5 Instrumente ..................................................................................................................... 259 5.1 Tests ....................................................................................................................... 259 5.2 Fragebögen ............................................................................................................. 261 5.3 CLAVIS-Materialien .............................................................................................. 269 5.4 Sonstiges ................................................................................................................. 306 6 Anhang ........................................................................................................................... 317 6.1 Zeittafel .................................................................................................................. 317 6.2 Antike Autoren und benutzte Ausgaben ................................................................ 318 6.3 Stellenregister ......................................................................................................... 321 6.4 Literaturverzeichnis ................................................................................................ 322 6.4.1 Printmedien ........................................................................................................ 322 6.4.2 Lehrpläne und Verordnungen ............................................................................. 335 6.4.3 Internetdokumente .............................................................................................. 335 6.4.4 Audiomedium ..................................................................................................... 336 6.4.5 Film .................................................................................................................... 336 4 Vorwort Durch einen Aufruf des Zentrums für Lehrerbildung an der Universität in Würzburg zur Leh- rerpromotion, ein pädagogisches Forschungskolloquium von Prof. Dr. Dorit Bosse im Win- tersemester 2007/08 und eigene Erfahrungen aus der schulpraktischen Arbeit im Lateinunter- richt der Mittelstufe wurde mein Forschungsvorhaben zu texterschließenden Strategien ange- regt. Ohne vielfältige Unterstützung hätte ich es nicht realisieren können. Bedanken möchte ich mich daher bei allen, die ihren Beitrag zur Vollendung dieser Arbeit geleistet haben. Mein erster Dank geht an meine Doktormutter Prof. Dr. Dorit Bosse, durch deren Forschungs- tätigkeit die Idee zu dieser Arbeit entstand. Sie gab entscheidende Impulse, steuerte wichtige Ideen bei und leistete fundierte fachwissenschaftliche Hilfestellungen. In zahlreichen Einzel- gesprächen nahm sie sich meiner Probleme und Fragen an, gab mir stets beste Ratschläge und beeinflusste dadurch mein Vorwärtskommen ganz entscheidend. Jederzeit hat sie mich durch ihre Betreuung ermutigt und angespornt. Prof. Dr. Walter Eykmann danke ich für sein anhaltendes Interesse an meinem Vorhaben, seine treffenden Kommentare, die mir gerade in der Entstehungsphase der Arbeit den richti- gen Weg gewiesen haben, sein Gespür für das Wesentliche, seine Zeit, Geduld und Wert- schätzung. Er verkörpert für mich das antike humanitas-Ideal, die Verbindung von Mensch- lichkeit und Bildung. Dr. Anna Gronostaj hat mich in Fragen der statistischen Auswertung bestens beraten, war jederzeit ansprechbar und hat mich souverän durch den Dschungel von Datentabellen, statisti- schen Berechnungen und Auswertungsergebnissen geführt. Prof. Dr. Egbert Witte half mir mit Literaturhinweisen. Der Schulleiter des Johann-Schöner-Gymnasiums in Karlstadt, Albert Häusler, trug dankens- werterweise mein Vorhaben von Anfang an mit, ermöglichte mir den Unterrichtseinsatz in zwei parallelen Klassen, gab mir wichtige Anregungen und gewährte mir großzügig und ver- trauensvoll alle Freiheiten zur Vorbereitung und Durchführung der Untersuchungen. Sein Respekt und seine Anerkennung waren für mich ein wesentlicher Motivationsfaktor. Die kritische, aber immer konstruktive Beurteilung meiner Ideen von Seiten der Fachschaft Latein am Johann-Schöner-Gymnasium war mir ein wichtiges Korrektiv. Barbara Kern-Gernert von der Grundschule Lengfeld lieferte mir wertvolle Informationen zum Erwerb des Lesens und Schreibens bei Kindern und erhellte so die Zusammenhänge von der Basis zur fortgeschrittenen Textbearbeitung. Danken möchte ich auch den Schülerinnen, die im Schuljahr 2008/09 die 10. Jahrgangsstufe des Johann-Schöner-Gymnasiums in Karlstadt besucht haben: Corinne Kohlmann, Vera Lankes, Laura Metz, Larissa Michler, Nina Schick und Denise Ziegler. Sie führten mit mir den Probelauf von Test und Fragebogen durch und berieten mich in ihren Freistunden. Mit 5 großer Offenheit und viel Sachverstand teilten sie mir ihre persönliche Meinung zu allen mei- nen Fragen mit. Ohne die Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler der Klassen 10a und 10b/d des Schuljahres 2009/10 wäre die Durchführung des Forschungsvorhabens nicht möglich gewesen: Sie bilde- ten die Experimental- und Kontrollgruppe und halfen mir durch ihre engagierte Mitarbeit in jeder Phase des Projektes. Meine Eltern kümmerten sich während der Forschungszeit liebevoll um die Betreuung von Jakob, Hanna und Karl. Ihnen danke ich von Herzen für alles, was mir mein Vorhaben mög- lich machte. Mein Mann Friedhelm unterstützte mich von Anfang an in jeder Hinsicht. Seine wissenschaft- liche Beratung war für mich von unschätzbarem Wert. Würzburg, im Juni 2012 Beate Hoffmann 6 Nescire autem quid ante quam natus sis acciderit, id est semper esse puerum. Cicero: Orator 34 (120) 1 Einleitung 1.1 Latein – mehr als ein Schulfach Die lateinische Sprache gilt als „die erfolgreichste … der Welt“1. Bis in unsere Zeit heute wirkt die antike Sprache hinein. Die Zahl der Schüler2, die Latein lernen, hat in den letzten zehn Jahren fast stetig zugenommen. In Deutschland lernten im Schuljahr 2009/10 822.673 Gymnasiasten die Sprache der alten Römer. Das ist ein Anstieg um ca. 30% seit dem Schul- jahr 2000/2001 (645.516 Schüler)3. Damit nimmt Deutschland eine „absolute Spitzenstellung in Sachen Latein“ 4 ein. Doch was ist der Grund für diese ungebrochene Anziehungskraft ei- ner totgesagten Sprache, die längst jeden Nutzen verloren zu haben scheint? Zur Zeit des Kaisers Augustus war Latein die gemeinsame Sprache im westlichen Imperium Romanum. Nach einem Jahrhundert der Bürgerkriege herrschte nun unter Augustus und sei- nen Nachfolgern im Prinzipat Frieden und Stabilität.5 In dieser Zeit entstanden die wichtigsten Zeugnisse der lateinischen Literatur, die Werke von Vergil, Horaz und Ovid. Bereits eine Ge- neration früher hatte ein Mann seine Meisterschaft in Rhetorik und Philosophie bewiesen, einer, „der überhaupt zum größten Lateiner aller Zeiten geworden ist: Cicero.“6 Die Werke der genannten Autoren beeindruckten schon damals die Menschen so sehr, dass sie ihnen als zeitlos und beispielhaft galten. An diesem Punkt erstarrte die Sprache.7 Latein „wird, wie heute vor allem seine Feinde gerne formulieren, zur »toten« Sprache.“8 Gleichzei- tig gilt aber auch: „Latein wird durch seinen Tod unsterblich“9. Natürlich entwickelten sich aus der gesprochenen Sprache des einfachen Volkes allmählich die Nationalsprachen. Die davon abgesetzte, hohe Sprache der Literatur wurde jedoch in ihrer bestehenden Form kon- serviert. In dieser Zeit war die lateinische Hochsprache zu einer Art festen Größe geworden, 1 Stroh (2007) S. 15. 2 Wenn allgemein von Schülern die Rede ist, sind immer auch die Schülerinnen mit eingeschlossen. 3 Meurer (2011) S. 106. 4 Fritsch (2007) S. 255. 5 Stroh (2007) S. 77; Janson (2006) S. 40. 6 Stroh (2007) S. 43. 7 Stroh (2007) S. 109 ff. 8 Stroh (2007) S. 103. 9 Stroh (2007) S. 103. 7 denn sie veränderte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht mehr oder nur noch geringfü- gig10. Immer wieder aber waren Menschen in der Folgezeit wegen der sprachlichen Schönheit einer- seits und wegen der interessanten Inhalte andererseits von den Werken Ciceros und Vergils stark beeindruckt (Augustinus, Hieronymus, Petrarca, Erasmus, Humboldt, …). Ihnen, den Wissenschaftlern und Gebildeten, diente die antike Literatur als Grundlage ihrer eigenen Überlegungen und ihres Weltverständnisses. Bis ins 19. Jahrhundert beschäftigten sich auch Schüler so intensiv mit der lateinischen Sprache, dass sie fähig waren, lateinische Aufsätze zu damals aktuellen Themen im Stil eines Cicero oder Seneca zu verfassen. Obwohl der Stilauf- satz11 heute abgeschafft ist und auch beinahe jegliche aktive Beherrschung des Lateinischen verlorengegangen ist, ist die Faszination dieser Sprache bis in unsere Zeit zu spüren12. Latein besitzt so viel Charme und Zauber13, den wir unseren Schülern nicht vorenthalten sollten. Er stellt sich aber nicht von selbst ein, sondern braucht Zeit, Mühe und Arbeit. Die Sprache der Antike stellt nicht nur ein aus ästhetischer Sicht schönes Erbe dar, sie trans- portiert ebenso wesentliche Inhalte, die nicht weniger faszinierend sind und uns zu den Wur- zeln der Kultur Europas führen. „Latein … ermöglicht uns etwas, was keine lebendige Spra- che vermag: die Überschreitung der Zeitgrenzen, eine Kommunikation mit den Besten der Vergangenheit, den Eintritt in eine überzeitliche res publica litterarum.“14 Am Gymnasium ist der europäische Gedanke ein Aspekt des Erziehungsziels Persönlichkeit. Der altsprachliche Unterricht dringt über die sprachliche Oberfläche zum Zentrum, dem Text- inhalt, vor. Dieser ist Basis und Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen: „Schon im Anfangsunterricht ist sprachliches Arbeiten mit inhaltlicher Erschließung verbunden, so dass wesentliche Aspekte der Textbetrachtung geübt werden … Die Begegnung mit antiken, mit- telalterlichen und neuzeitlichen lateinischen Texten macht die Schüler mit der antiken Kultur und Zivilisation, mit den Ursprüngen und Werten des Christentums und neuen Denkansätzen in der europäischen Geisteswelt vertraut.“15 Der eigentliche Wert der lateinischen Sprache liegt dabei in der Möglichkeit der Kommunikation auf vertikaler Ebene, d. h. Latein ermög- licht die Beschäftigung mit unserer Herkunft16. 10 Vgl. Maier (2008) S. 6: „Nach seinem Untergang verfestigte sich Latein zu einer Art Kunstsprache oder rich- tiger: zu einer standardisierten Bildungssprache.“ 11 Bis 1890 war es üblich, dass Schüler im Abitur einen Aufsatz in lateinischer Sprache anfertigen mussten. Stroh (2007) S. 271. Auch Karl Marx schrieb 1835 einen Stilaufsatz, als er das Abitur in Trier ablegte. Stroh (2007) S. 250. 12 Selbst in Bereichen, die sonst eher weniger die öffentliche Aufmerksamkeit erregen, wird vehement für die lateinische Sprache gekämpft: in der Liturgiedebatte der katholischen Kirche. Deutsche Intellektuelle forderten im Jahr 2007 die Wiederzulassung der lateinischen Messe. Mehr als 50 Wissenschaftler und Gelehrte unter- zeichneten das von Heinz Lothar Barth entworfene „Manifest zur Wiederzulassung der überlieferten lateinischen Messe“ vom 6. Januar 2007 mit der Begründung, es handle sich dabei um ein „überragendes Werk der Weltkul- tur“. Badde (2007). 13 Stroh (2007) S. 308 ff. 14 Stroh (2007) S. 314. Kursivdruck im Original. 15 Lehrplan für das Gymnasium in Bayern (2009) Fachprofil Latein L1. 16 Wolz (2008) S. 16. 8 Gestalt annehmen kann der Inhalt eines Textes erst über das Verständnis der sprachlichen Strukturen. Die Beschäftigung mit Struktur und Inhalt der lateinischen Sprache hat nicht nur zur Folge, dass syntaktische und semantische Phänomene erkannt werden. Sie wirkt auch zu- rück auf die eigene Sprache17, so dass die muttersprachliche Kompetenz auf dem „Trainings- feld“ Latein entscheidend verbessert wird18. Plakativ formuliert Friedrich Maier, das Fach Latein sei „Königsweg zu vertieftem Sprachverständnis“19 und „»Trimm-dich-Pfad« des Geistes“20. Roman Herzog empfiehlt die „intime Kenntnis des Lateinischen“ als „hervorra- gendes Denkpropädeutikum“21. Die „Multivalenz“22 des Lateinischen hat weitreichende Wirkung. Denn sicher ist, „dass, wer Latein kann, jede andere Sprache leichter lernt.“23 Das bessere Abschneiden von Lateinschü- lern in anderen Unterrichtsfächern, v. a. in sprachlichen, ist längst bekannt. Das heißt jedoch nicht, dass Latein das Schulfach der Elite wäre. Ganz im Gegenteil: Latein gleicht Unter- schiede aus, sprachliche wie soziale, und wirkt integrativ. „In manchen Berliner Schulklassen ist die Antike das einzige Element, das Polen, Letten, Deutsche, Türken verbindet“.24 Latein wirkt völkerverbindend, denn „Latein können wir alle nicht.“25 Unterstützung bei der Begründung des Lateinischen erhält die Pädagogik hier auch von der Theologie. Johannes XXIII. äußert sich in der Apostolischen Konstitution Veterum sapientia über den Wert der lateinischen Sprache: Suae enim sponte naturae lingua Latina ad provehendum apud populos quoslibet omnem humanitatis cultum est peraccommodata: cum invidiam non commoveat, singulis gentibus se aequabilem praestet, nullius partibus faveat, omnibus postremo sit grata et amica26. „Denn von ihrer Natur her ist die lateinische Sprache besonders gut dazu geeignet, bei allen Völkern jegliche Kultur der Menschlichkeit zu fördern: weil sie keine Eifersucht erregt, sich den einzelnen Nationen gleich darstellt, niemanden be- vorzugt und schließlich allen freundschaftlich zugetan ist.“ Während der päpstliche Text ein ethisches Anliegen verfolgt, gibt es auch ganz handfeste Gründe für die intensive Beschäftigung mit Sprache und Texten, wie sie im Fach Latein statt- findet: Beruflicher Erfolg, verbunden mit entsprechendem Einkommen, gründet auf der „Qua- lität der Ausbildung“. Es sind „vor allem die sogenannten kognitiven Basiskompetenzen wie ein mathematisches und naturwissenschaftliches Denken und ein gutes Textverständnis, die sich als echte Renditebringer erweisen.“27 Ein gutes Textverständnis ist in der heutigen Ge- 17 Vgl. Haag; Stern (2000) und Lebek (2004). 18 Maier (2008) S. 29. 19 Maier (2008) S. 24. 20 Maier (2008) S. 34. 21 Herzog (2000) S. 138. 22 Gruber; Maier (1979) S. 50. 23 Stroh (2007) S. 13. 24 Fritsch (2007) S. 255. 25 Stroh (2007) S. 315. 26 Johannes XXIII. (1962) S. 130. 27 Beck (2007) S. C5. 9 sellschaft unentbehrlich, aber bei weitem nicht überall vorzufinden28. Was kann das Fach La- tein zur Lösung dieses Problems beitragen? 1.2 Themenwahl Im Rahmen meiner Tätigkeit als Lateinlehrerin am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt war ich verstärkt in Lektüreklassen der Mittelstufe eingesetzt und konnte so die Entwicklun- gen der letzten fünf Jahre mitverfolgen, die sich in rückläufigem Textverständnis manifestier- ten. Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klassen haben zunehmend Schwierigkeiten, la- teinische Originaltexte zu verstehen. Woran liegt das? Die Einführung des G8 trug in Bayern dazu bei, dass aus der Fremdsprache Latein mehr und mehr eine fremde Sprache wurde29, zu der Schüler aus verschiedenen Gründen immer weni- ger Zugang haben. Die Jahreswochenstundenzahl wurde in Bayern bei Latein als erster Fremdsprache von 30 (G9: Jahrgangsstufen 5–11) auf 22 Jahreswochenstunden (G8: Jahr- gangsstufen 5–10) gekürzt. Multipliziert man mit 38, der Zahl der Unterrichtswochen pro Jahr, so liegt der Verlust bei 304 Unterrichtsstunden bzw. mehr als 25%, bedingt durch den Wegfall eines ganzen Schuljahres und zusätzlich einiger Stunden. Für L2 sieht die Bilanz nicht ganz so verheerend aus. Das achtjährige Gymnasium G8 (Jahr- gangsstufen 6–10: 18 Jahreswochestunden) verliert gegenüber G9 (Jahrgangsstufen 7–11: 19 Wochenstunden) nur eine Jahreswochenstunde. Der Verlust an effektiven Stunden liegt damit bei 38 oder gut 5%. Die Anzahl der Lernjahre ist gleich geblieben. Gründe für Textverständnisschwierigkeiten sind naturgemäß die sprachliche, zeitliche und kulturelle Distanz zwischen antiken Texten und heutiger Schülerwirklichkeit. Folglich besteht der Lateinunterricht oft nur aus der elementaren Bewältigung sprachlicher Einzelphänomene, Vokabelarbeit und der Erklärung von Realien. Trotzdem gibt es bei den meisten Schülerinnen und Schülern keinen erkennbaren Fortschritt in Textverständnis und Übersetzungsfähigkeit. Es liegt also die Vermutung nahe, dass es eine weitere Ursache für die Verständnisprobleme der Schüler im Umgang mit lateinischen Texten geben muss: die mangelhafte Beherrschung grundlegender und effizienter Strategien der Texterschließung. Die Fähigkeit, Texte als ganze selbständig zu erschließen, wird bisher im Lateinunterricht nicht ausreichend gefördert. Die moderne Lernstrategieforschung untersucht seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch welche Prozesse Texte erschlossen werden und inwiefern bei Problemen erfolgreich 28 „Die erschreckende Hilflosigkeit der heutigen Studentengeneration gegenüber fachsprachlichen Texten aller Art ist zweifellos nicht zuletzt auf die Zurückdrängung des Lateins und der in diesem Fach geübten Geistestätig- keiten, vor allem des Übersetzens, zurückzuführen.“ Wolff (1975) S. 8. 29 Schmoll (2010) S. 8. Die Autorin stellt fest, dass an der Verkürzung der Gymnasialzeit vor allem der Unter- richt in Englisch, Französisch oder Latein leidet. 10
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