Antike und Abendland Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller · Rainer Stillers Band L 2004 Walter de Gruyter · Berlin · New York Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Bo- berweg 18, 81929 München– Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto- Behagel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen–Prof. Dr.Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar,Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg– Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich– Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen– Prof. Dr. Wolf- gang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz– Prof. Dr. Rainer Stillers, Leinerstr. 1, 78462 Konstanz.Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beiträgen25 Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vor der Drucklegung des Bandes gegen Berechnung beim Verlag bestellt werden. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückge- schickt werden. ISBN 3-11-017985-7 ISSN 0003-5696 © Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz, 49448 Lemförde Inhaltsverzeichnis Ulrich Schindel, Göttingen Historische Analyse und Prognose im 18.Jh. Christian Gottlob Heyne und die spätantike römische Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Georg Peter Landmann Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte (aus dem Nachlass herausgegeben von Ernst A. Schmidt) . . . . . . . . . . . 14 Kai Rupprecht, Gießen Warten auf Menalcas– Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge . . . . 36 Elisabeth Mairhofer/Manfred Kienpointner, Innsbruck . Zeitlos, dicht, vollendet Zu einigen Analogien des Seinsbegriffs bei Sartre und Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Thomas Gärtner, Köln ‹ › Hugo von Hofmannsthals Aegyptische Helena und Ernst Blochs ‹ › Prinzip Hoffnung . Zur modernen Rezeption der Euripideischen Helena . . 73 Peter Habermehl, Berlin Phaeton am Lichtberg. Der Heliogabal-Roman des Louis Couperus . . . . . . . 106 Vinko Hinz, Halle «Die eilende Hündin wirft blinde Junge» und einige andere antike Sprichwörter bei Michael Apostolios und Erasmus . . . . . . . . . . . . . . 124 Stefan Tilg, Bern Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Pascal Weitmann, Berlin Giacometti, Twombly und die Antike. Die Realität als Frage versus fragwürdige Idealitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VI Mitarbeiter des Bandes PD Dr. Thomas Gärtner, Universität zu Köln, Klassische Philologie, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln PD Dr. Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22–23, 10117 Berlin Dr. Vinko Hinz, Universität Halle, Lehrstuhl für Lateinische Philologie, Universitätsplatz12, 06099 Halle/Saale Prof. Dr. Manfred Kienpointner / Dr. Elisabeth Mairhofer, Universität Innsbruck, Institut für Sprachen und Literatur, Abteilung Sprachwissenschaft, Innrain52, 6020 Innsbruck, Österreich Dr. Stefan Tilg, Universität Bern, Institut für Klassische Philologie, Länggass-Straße49, 3000 Bern9, Schweiz Prof. Dr. Ulrich Schindel, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Klassische Philologie, Humboldtallee19, 37073 Göttingen Dr. Kai Rupprecht, Hedwig-Burgheim-Ring70, 35396 Gießen Dr. Pascal Weitmann, Andréezeile33, 14165 Berlin Historische Analyse und Prognose im 18. Jh. 1 Ulrich Schindel Historische Analyse und Prognose im 18. Jh. Christian Gottlob Heyne und die spätantike römische Historiographie Siegmar Döpp zum 60.Geburtstag Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Altersgenosse von Lessing, ist derjenige unter den deutschen Klassischen Philologen, der die Grundlagen für die Entstehung einer neuzeitlichen Altertumswissenschaft gelegt hat und der der zweite Vertreter seines Fachs in Göttingen (1763–1812) war. Als Nachfolger von Johann Matthias Gesner übernahm Heyne die Professur der Poesie und Beredsamkeit, weiterhin das Direktorium des 1737 von Gesner begründeten Seminarium Philologicum, die Stelle des ersten Bibliothekars der Universitätsbibliothek und die Vertretung der studia humanitatis in der Akademie der Wissenschaften. Mit Antritt seines Amts entfaltete Heyne eine rege literarische und editorische Tätigkeit: seit 1763 erschienen in ununterbrochener Reihe die sogenannten Programme und Prolusio- nen, (135 Nummern, bis 1809), seit 1770 die Akademie-Abhandlungen (47 Nummern, bis 1813) und die Akademie-Elogia (20 Nummern, bis 1811), außerdem die unendliche Folge von Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, deren Redaktion er 1770 über- nahm (mehrere tausend, bis 1812). Neben dieser Masse von Opuscula stehen als Haupt- werke die aus dem Englischen übersetzte Weltgeschichte in 4 Bänden (1765–72) und die kommentierten Editionen des Vergil (1767–72), des Pindar (1773), des Homer (1802f.), so- wie die Ausgabe der Mythologie des Apollodor (1782). An die Seite dieser unerschöpflichen wissenschaftlichen Produktivität treten erhebliche wissenschaftsorganisatorische Leistungen. Seit 1770 war Heyne Sekretär der Akademie und setzte sogleich eine erfolgreiche Reorganisation durch. Als Bibliothekar leistete er Au- ßergewöhnliches durch einen international organisierten Büchereinkauf, in dessen Folge der Bestand während seiner Amtszeit von 60000 auf 200000 Bände wuchs. Auch auf das gymnasiale Schulwesen nahm er Einfluß: durch Reformkonzepte für Schulen im Kurfür- stentum Hannover sowie durch gezielte philologische und pädagogische Ausbildung der zukünftigen Gymnasiallehrer im Seminarium Philologicum der Universität prägte er die gymnasiale Bildung in Norddeutschland nachdrücklich. Heynes wissenschaftliche Bedeutung besteht darin, daß er an Stelle eines antiquarischen Polyhistorismus, wie er in der Regel bis dahin betrieben worden war, einen Begriff von Al- tertumskunde praktizierte, der auf universelle Rekonstruktion des literarischen, histori- schen und kulturellen Lebens der Antike zielte und zugleich die gewonnenen Erkenntnisse immer in Beziehung zur Gegenwart setzte. Aus seiner Schule sind Philologen wie Friedrich August Wolf und Karl Lachmann, Dich- ter wie Ludwig Hölty und Johann Heinrich Voß hervorgegangen. Dem heutigen Philologen und gar dem Studenten wird der Name Heynes eher ein ferner Begriff aus der ruhmvollen Vergangenheit des Faches sein: Heynes kommentierte Dichter- ausgaben werden, vielleicht mit Ausnahme der Vergil-Edition, nicht mehr benutzt, und in 2 Ulrich Schindel den kritischen Apparaten der heutigen Ausgaben der von Heyne edierten Autoren kommt sein Name nicht vor, denn ein ausgeprägter Textkritiker ist er nie gewesen. Heynes Wirkung für die moderne Klassische Philologie liegt vielmehr in einer allseitigen Öffnung des philologischen Gesichtskreises: Geschichte mit ihren Unterdisziplinen wie Epigraphik oder Verfassungs- und Rechtshistorie, Mythologie und Religionswissenschaft, Kunstarchäologie, aber auch Numismatik und Etruskologie sind Bereiche, die in Heynes wissenschaftlicher Praxis erstmals Kontur gewinnen als integrale Bestandteile einer univer- sellen Altertumskunde. Heyne realisierte seinen Neuansatz im wesentlichen in der alltäglichen Praxis von For- schung und Lehre, nicht in einem systematischen Theoriekonzept. Das hat dazu geführt, daß seine Leistung in der Perspektive der Philologie-Geschichte durch Friedrich August Wolfs und August Boeckhs Methodologie-Entwürfe verdeckt worden ist. Doch lassen sich diese wegweisenden Neuansätze leicht finden in seinen der täglichen Lehrpraxis entstammenden kleinen Schriften, vor allem in den immer wieder überra- schende Themen behandelnden 6 Bänden seiner Opuscula Academica (1785–1812). Sie sind auch die Grundlage meines folgenden Beitrags. Vor gut 10Jahren habe ich mich schon einmal zu Heyne, dem Historiker, geäußert1. Da war es eher Heynes geschichtstheoretisches Denken, das ich an Hand einiger Beispiele ans Licht bringen wollte, da es von seinen philologischen Leistungen eher in den Hintergrund gedrängt worden ist. Und es waren ausschließlich Themen aus der griechischen Ge- schichte, denen ich bei der Suche nach Heynes Vorstellungen über die Grundbegriffe hi- storischer Kritik nachgegangen bin. Diesmal geht es nicht um Geschichtstheorie sondern um ein praktisches Beispiel historischer Analyse und hier um ein Beispiel aus der spätan- tiken römischen Geschichtsschreibung: es geht um die legatio Leonis Papae vom Jahre 452, von der es eine emphatische Darstellung Raffaels gibt, die sich Papst LeoX. zur mittelbaren Eigenverherrlichung – Leo der Große auf dem Fresko trägt die Züge seines späten Nach- folgers – in der Stanza d’Eliodoro des Vatikan 1512 hat malen lassen: warum hier gerade dieses Bild, davon später. Zum historischen Tatbestand– wenn man ihn denn historisch nennen darf: Nachdem At- tila mit seinen Hunnen 451 Gallien verwüstet und sich auf den Katalaunischen Feldern eine schwerwiegende Niederlage geholt hatte, war er nach Südosten gezogen über die Julischen Alpen und hatte Norditalien verheert: Aquileia, Mailand, Bergamo und andere Städte wa- ren erobert und ausgeplündert worden, und dasselbe Schicksal drohte nun Rom. Da zog eine Gesandtschaft unter Führung von Papst Leo dem Großen dem in der Gegend von Mantua am Mincio lagernden Hunnenheer entgegen, und durch seine ehrwürdige Erschei- nung erreichte der Papst, daß der grimmige Hunnenkönig besänftigt wurde und mit seinen wüsten Barbarenhaufen friedlich nach Osten abzog. So berichten es uns die spätantiken Chronisten, Prosper Tiro von Aquitanien2, z.T. Hy- datius3 und vor allem Jordanes in seiner auf Cassiodor beruhenden Gotengeschichte4. 1 Heyne und die Historiographie, in: Memoria rerum veterum, hrsg. v. W. Ax (Palingenesia 32), 1990, S.191–210. 2 Chronicon,ad a. 452, MGH AA 9, S.482, ed. Th. Mommsen 1892. 3 Chronicon,ad a. 452, MGH AA 11, S.26, ed. Th. Mommsen 1894. 4 De origine actibusque Getarum 42, MGH AA 5, 1, S.114 f, ed. Th. Mommsen, 1882. Historische Analyse und Prognose im 18. Jh. 3 Was aber erweckte Heynes Aufmerksamkeit für dieses Geschehnis? Heyne war der ora- tor publicus der Universität, das war eine Nebenaufgabe, die mit seinem Amt als professor eloquentiae automatisch verbunden war: zu allen offiziellen Ereignissen des Universitäts- jahrs hatte er zu sprechen, natürlich auf Lateinisch, so auch zum 44.Universitätsjubiläum am 17.September 17825. Daß Heyne die Themen seiner Festreden aus seinem engeren Wissenschaftsbereich wählte, war nur zu natürlich. Doch es war ihm selbstverständlich, daß seine Zuhörer kei- ‹ › neswegs alle oder auch nur überwiegend besonderes Interesse an den studia humanitatis – wie man damals sagte– hatten. Und so war Aktualität ein ausgeprägtes Anliegen Heynes. Heyne reflektiert sein Vorgehen durchaus: «Schriften dieser Art», schreibt er in einer Selbstanzeige in den GGA, «haben ihre Schwierigkeiten bey Wahl und Bestimmung und selbst bey Behandlung des Gegenstandes, da sie etwas von einer öffentlichen Schrift ha- ben und doch nichts anderes als Privatschriften seyn können; sie sind ferner genauge- nommen Zeitschriften, bloße Ephemeren: eine sehr gelehrte und sehr specielle Abhand- lung würde also weder nach den Verhältnissen des Verfassers und derjenigen, von denen er den Auftrag erhält, noch für die Bestimmung schicklich seyn. Diese Betrachtungen verleiteten den Herrn Hofrat Heyne, so oft es möglich, sich an die Zeitumstände anzu- schließen.» Dementsprechend gibt es 1766 einen Vortrag «de veterum coloniarum iure eiusque caus- sis»6 (Über das Recht der alten Kolonien und dessen Begründungen), ganz offensichtlich angeregt von der sich in den 60er Jahren verbreitenden Diskussion über die Freiheitsrechte der englischen Kolonien in Amerika. Und mit plausibler Folgerichtigkeit heißt ein Vortrag 1783, wenn der Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien erfolgreich beendet ist, «de belli Romanorum socialis caussis et eventu, respectu ad bellum cum coloniis America- nis gestum habito»7 (Über Ursachen und Ausgang des Bundesgenossenkriegs der Römer im Hinblick auf den mit den amerikanischen Kolonien geführten Krieg). Am Ende des glei- chen Jahrs 1783 mit Bezug auf die – von Heyne zu Unrecht bezweifelte – Dauerhaftigkeit der Unabhängigkeitserklärung der 13 Vereinigten Staaten von Amerika folgt das Thema «foederatarum rerum publicarum coalitio vix umquam satis fida exemplis ex antiquitate il- lustrata»8 (Die kaum jemals wirkliche Zuverlässigkeit einer Vereinigung von Bundesstaa- ten, gezeigt an Beispielen des Altertums). Ähnlich spiegeln sich in den Themen der neunziger Jahre die Unruhe-Wellen der Fran- zösischen Revolution: 1789 «libertas populorum raro cum expectato ab iis fructu recupe- rata»9 (Wiedergewinnung der Freiheit der Völker (geschieht) selten mit dem erwarteten Er- folg) – in Bezug auf den Sturm auf die Bastille; 1790 «opum regni Macedonici auctarum, attritarum et eversarum caussae probabiles»10 (plausible Ursachen für den Aufstieg, Verfall und Sturz der Macht des Makedonenreichs)– in Bezug auf das Schicksal der französischen 5 De Leone M. Pontifice Rom. Attilae (et Genserico) supplice facto, in: Chr. G. Heynii Opuscula academica, vol. 3, 1788, S.127–141. 6 C. G. Heynii Opuscula Academica, vol. 1, 1785, S.290–309. 7 A. O. vol. 3, S.144–161. 8 A. O. vol. 3, S.162–183. 9 A. O. vol. 4, 1796, S.140–158. 10 A. O. vol. 4, S.159–177.
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